Bis zuletzt hat Peter Glotz, der am 25. August nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben ist, an seinen Erinnerungen gearbeitet. Sie werden am 9. September unter dem Titel „Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers“ im Econ Verlag erscheinen.
In dem Buch erzählt der langjährige SPD-Spitzenpolitiker und intellektuelle Kopf der SPD aus seinem Leben - von seiner Kindheit in Böhmen über sein Engagement in der Politik bis hin zur Erneuerung des deutschen Wissenschaftsbetriebs. Er war 26 Jahre lang sozialdemokratischer Berufspolitiker, unter anderem Präsident der Kultusministerkonferenz (1980) und Bundesgeschäftsführer der SPD (1981-1987). Glotz war der letzte Bundesgeschäftsführer Willy Brandts und ein in ganz Europa vielzitierter Stratege der sozialdemokratischen Bewegung. 2001 vertrat er die deutsche Bundesregierung im Europäischen Verfassungskonvent. Als Gründungsrektor übernahm Glotz von 1996 bis 1999 den Wiederaufbau der Universität Erfurt. Bis 2004 lehrte er Kommunikationswissenschaft an der Universität St. Gallen in der Schweiz.
Die jetzt vorliegenden Erinnerungen sind sein politisches Vermächtnis und gleichzeitig eine scharfe Fotografie der Bonner Republik.
In dem Buch erzählt der langjährige SPD-Spitzenpolitiker und intellektuelle Kopf der SPD aus seinem Leben - von seiner Kindheit in Böhmen über sein Engagement in der Politik bis hin zur Erneuerung des deutschen Wissenschaftsbetriebs. Er war 26 Jahre lang sozialdemokratischer Berufspolitiker, unter anderem Präsident der Kultusministerkonferenz (1980) und Bundesgeschäftsführer der SPD (1981-1987). Glotz war der letzte Bundesgeschäftsführer Willy Brandts und ein in ganz Europa vielzitierter Stratege der sozialdemokratischen Bewegung. 2001 vertrat er die deutsche Bundesregierung im Europäischen Verfassungskonvent. Als Gründungsrektor übernahm Glotz von 1996 bis 1999 den Wiederaufbau der Universität Erfurt. Bis 2004 lehrte er Kommunikationswissenschaft an der Universität St. Gallen in der Schweiz.
Die jetzt vorliegenden Erinnerungen sind sein politisches Vermächtnis und gleichzeitig eine scharfe Fotografie der Bonner Republik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2005All die verpaßten Chancen
Peter Glotz hat kurz vor dem Tod seine Biographie geschrieben: Eine Anklage gegen die heutige SPD und eine poetische Reflexion über Leben und Sterben
Was für ein Buch! Es gab erst Fahnen, also lose Blätter davon. Man konnte es nicht aus den Händen legen, aber der Stapel war auch zu schwer, um ihn dauernd zu halten. Also aufteilen. Den Part über Willy Brandt hierhin, den über die Vertreibung auf das Fensterbrett. Über die Berliner Zeit und die Gründung des Wissenschaftskollegs lesen, dabei schon einige Seiten weiter schielen: Was sagt er über Lafontaine? Was über den Zustand der Hochschulen? Was über das "Zentrum für Vertreibung"? So was geht nicht lange gut, schnell rutschen die Stapel ineinander, flattern umher, der Boden ist von Blättern bedeckt, auf manchen erkennt man den maliziös lächelnden jungen Peter Glotz mit dieser komischen, riesigen Brille. Er hätte dieses Din-A4-Chaos auf der Couch und im ganzen Zimmer, zu dem jetzt noch etliche Blätter mit Notizen kamen, nur schwer ertragen. Aber das Buch hielt mich die halbe Nacht wach, am Morgen schrieb ich ihm eine begeisterte E-Mail: "Das Buch hat mich sehr berührt, all diese falsch gestellten Weichen in der SPD, die knappe, klare Analyse, die Personenschilderungen, distanziert und dabei so intim, der gnadenlos trockene Humor . . . Ich freue mich schon auf unser Treffen." Post für einen Toten. Da lebte Peter Glotz schon seit einigen Stunden nicht mehr. Bald darauf rief der Verlag an: Das mit dem Interviewwunsch habe sich "in eine andere Richtung entwickelt".
Nun stehen die Sätze im Buch, und man kann nicht mehr nachfragen. Nicht nach dem - feine Franz-Werfel-Anspielung - "blaßlila Wäschebeutel", in dem er als SPD-Funktionär mal Spendengeld entgegengenommen hat. Und vor allem nicht nach dem schlichten Satz am Ende des Kapitels über die "Enkelei", Scharping, Lafontaine und Schröder: "Jetzt liegt die Partei der achtziger Jahre, die in den Neunzigern zur Erneuerung unfähig war, in Trümmern." Das zu schreiben kann ihm nicht leichtgefallen sein. Glotz war ein Meister darin, jedes Urteil durch die Eröffnung einer neuen Perspektive zu überholen oder plötzlich mit Typologien von Personen zu kommen, Avatare in die Debatte zu schicken, auf die keiner vorbereitet war: "Dem 53jährigen Holzwirtschaftsingenieur aus dem Thüringer Wald, was sagen Sie denn dem?"
Dieser Satz fällt zu einer Zeit, da die Botschaft der SPD in eine SMS paßt: "Schröder wählen", eine Abwandlung des Kohlschen "Weiter so!". Aber die Trümmer sind ja zu besichtigen: das Verhältnis zu den Gewerkschaften - zerrüttet. Der Dialog mit Wissenschaftlern und Unternehmern - abgebrochen. Die Öffnung zu Kunst und Kultur - nur noch ein Notausgang.
Glotz' Tod wirft ein grelles Licht auf den Zustand der Sozialdemokratie. Rückblende in die Gegenwart: Vergangenen Montag hatte Wolfgang Thierse Künstler zur Wahlwerbung eingeladen. Der Regisseur Jürgen Flimm lobte erst den "schönen Rotwein" von "irgendwelchen Botschaftern", den er beim Kanzler trinken durfte, was er vermissen wird, und dann ausgiebig sich selbst. Klaus Staeck und Günter Grass versuchten sich an müden Stoiber-Attacken, dann riefen sie dazu auf, SPD zu wählen, selbst bei Kommunalwahlen auf dem Mars würden sie das tun. Freimut Duve lobte sich selbst. Kein Wort über Hartz. Das Jahr war verrutscht, es war im Laufe des Abends 1972 geworden. Man besuchte eine Trümmerlandschaft.
Die SPD in Trümmern
Rückblende, flüchtige Szene aus einem untergegangenen Land in den achtziger Jahren: Peter Glotz, der Bundesgeschäftsführer der SPD in Krawatte und einem weiten Zweireiher, leicht nach vorn gebeugt, begleitet Harald Naegeli, den als "Sprayer von Zürich" bekannten und in seiner Heimat bedrängten Aktionskünstler, zu einer schönen leeren Wand der SPD-Zentrale in Bonn: "Bitte besprühen!" Nur wenige, begeisternde Minuten aus den ewigen "Berichten aus Bonn", ein Versprechen, das sich, wie wir heute wissen, nicht erfüllt hat. Heute läßt Schily solche Sprayer per Hubschrauber jagen.
Die von Glotz erhoffte gesellschaftliche Allianz aus SPD, künstlerischer Avantgarde, Wissenschaftlern und technischer Intelligenz ist dann nicht zustande gekommen. Die Partei sollte sich, so sah es Glotz, nicht bloß um das Schlechtwettergeld kümmern, so nötig das auch war, sondern ein Forum werden, sollte kühn denkende Unternehmer ebenso einladen wie Naturwissenschaftler, Philosophen und Betriebsräte. Die soziale Gerechtigkeit sah er nur als eine von vier Säulen der Sozialdemokratie an, ebenso sollte es ihr um Aufklärung, Fortschritt, Bürgerrechte und schließlich Diskursivität gehen.
Darum öffnete er die Bühne für den Dialog, auch über Grenzen hinweg. Wer hätte sonst so vernehmlich über Antonio Gramsci, Pierre Bourdieu und André Gorz zu sprechen gewußt, in Deutschland? Darum hat er die Konzeption und Gründung des Berliner Wissenschaftskollegs als seine größte Leistung bezeichnet. In der Tat mag man sich Deutschland gar nicht mehr ohne diesen Pol des intellektuellen Lebens vorstellen. Es wäre alles noch schlimmer. Wahr ist aber auch, daß das feine, diskrete Haus in Dahlem ihm wenig geholfen hat, wenn es darum ging, Mehrheiten in der Partei zu gewinnen. Da saß er Jahre seines Lebens und oft vergeblich in den "schlecht geheizten Hinterzimmern irgendwelcher Vorstadtjugoslawen" herum. Wie würde das Land heute aussehen, hätte sich die Bundesregierung zeitig um die Urteile von Wissenschaftlern gekümmert, einen engen Kontakt zu den Hochschulen gepflegt und Bündnisse außerhalb des eigenen Lagers gesucht.
Weil er das sah, ließ Glotz nicht locker, jahrzehntelang nicht. Als ihm, schon als junger Mann immer mit Anzug und Krawatte unterwegs, im Wahlkampf eine Münchner Rentnerin halb anerkennend, halb spöttisch zuraunte: "Sie sind aber fleißig", trifft sie damit eine fast kindliche Sensibilität. "Fleißig - genau das wollte ich auch immer sein." Notiert er in einem seiner Tagebuchbände.
Geschafft hat er es nicht. Die Partei hat sich abgeschlossen, heute ist es eine Autistenveranstaltung, und man schaut ihnen zu wie den Duracell-Hasen: Wann kippen sie um? Das Buch klingt darum an manchen Stellen bitter, dort wo Glotz die "verregneten Grillfeste in den Gärten abgelegener balkanischer Lokale" beschreibt oder die Abgeordnetenwohnungen, deren Wände so dünn sind, daß man den Nachbarn kotzen hört.
Es ist die schlechte Laune über verlorene Jahre, die den Autor im Angesicht seiner schweren Krankheit befällt, während sein Sohn Lion noch so klein ist, erst sieben. Das Buch ist durchweht von Todesahnung und voller Zynismus für die todesvergessene Glücksgier mancher Zeitgenossen, die in immer raffinierterer Selbsthilfe das zu verbessern suchen, was schon optimal ist: "Man muß sich klarmachen, daß man die Ansprüche nicht überspannen darf. Was sich die Leute alles erhoffen! Der Partner soll passend sein, sonst läßt man sich scheiden, das Wort ,Glück' fließt vielen von den Lippen wie unsereinem ,Guten Morgen', und viele glauben längst, es sei ein in Straßburg einklagbares Menschenrecht, Freitag nachmittag den Rasen mähen zu dürfen und am Wochenende mit den Kindern in die Berge zu fahren. Wem das gelingt, alle Achtung, ich bin dafür. Aber ist das das Leben?"
Das Glück im Kanu
Man muß auch folgende Passage zitieren, sie kommt gegen Ende, wo es um den Einzug in sein Haus bei St. Gallen geht, die Ostschweiz, seine, wie er nachrechnet, siebte Heimat: "Wie war mein Leben? Glücklich? Das Wort ist zu groß, wohl für die meisten Leben. Vielleicht war der glücklichste Moment in meinem Leben eine Paddeltour auf dem Main bei Burkunstadt. Ich war vierzehn, ein Sommersonntagnachmittag, kein Windhauch. Das Eintauchen des Paddels in das glatte, ruhige, grüne Wasser und der Kontakt, den der Körper durch das leichte Boot zum Fluß hatte, werde ich nie vergessen. Warum habe ich das nie wiederholt? Paddeln wäre erschwinglich gewesen. Unsagbar." Dann ruft er sich schreibend zur Ordnung: "Diese Geheimnisse wollen wir auf sich beruhen lassen. Ich komme zum nüchternen Bericht zurück."
Doch gerade wo sie den nüchternen Bericht verlassen, waren Glotz' Bücher besonders stark. In dem gequälten, wütenden Tagebuchband "Die Jahre der Verdrossenheit" finden sich neben der Schilderung seines Abschieds von der Politik immer auch anrührende Beschreibungen entlegener, sinnlicher Momente: Wie es ist, jeden Samstagvormittag in einem teuren Münchener Hotel zu schwimmen, mit Blick über die Stadt, der Blick auf vorbeiziehende Schönheiten; die Befreiung, nach einer endlosen Sitzung endlich im Auto zu sitzen und zu schnell durch die Nacht zu fahren, über Land, und in voller Lautstärke Musik zu hören. So kann man auch "Von Heimat zu Heimat" auf mehreren Ebenen lesen: Es ist das schonungslose Protokoll einer vorhersehbaren politischen Entgleisung, wie die Kämpfe der Enkel den Laden sprengen und dabei entscheidende Felder wie die Wissenschaftspolitik verslumen lassen.
Es ist ein Generationenporträt. Als Kind hat Glotz noch Bombennächte durchlitten. Einmal schlägt eine Bombe in ihr Haus ein, bei der Flucht aus dem Keller schiebt er den sperrigen Korbkinderwagen seiner kleineren Schwester panisch zur Seite: "Wer Todesangst kennengelernt hat, der hat sich selbst kennengelernt", schreibt er dazu.
Und dann der Aufstieg in gleich drei Berufen als Politiker, Wissenschaftler und Publizist, während die anderen, die 68er, ganz andere Dinge wollen. Aber er rechnet nicht, wie es so Mode geworden ist, mit den 68ern ab. Er weiß um ihren beschränkten Einfluß: "Die meisten Revolutionäre von '68 laufen heute resigniert und graubärtig durch die Supermärkte unserer Städte, um eine Flasche Rotwein zu finden, die gut und zugleich preiswert ist." Schließlich ist es ein philosophisches Buch in der ursprünglichsten all ihrer Bedeutungen, der Vorbereitung auf den Tod. Gottfried Benn ragt heraus, den "heiligen Gottfried" nannte ihn Glotz als Student, seine Anbetung mit müder Ironie zugleich verhüllend wie offenbarend. Und er zitiert aus den Gedichten, einem "zerlesenen Taschenbuch mit Anmerkungen aus fünf Jahrzehnten": "Und schon so nah den Klippen / Du kennst dein schwaches Boot - / kommt, öffnet doch die Lippen, / wer redet, ist nicht tot." Und wer tot ist, muß darum noch lange nicht schweigen.
NILS MINKMAR
Peter Glotz: "Von Heimat zu Heimat". Econ-Verlag. 350 Seiten. 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Glotz hat kurz vor dem Tod seine Biographie geschrieben: Eine Anklage gegen die heutige SPD und eine poetische Reflexion über Leben und Sterben
Was für ein Buch! Es gab erst Fahnen, also lose Blätter davon. Man konnte es nicht aus den Händen legen, aber der Stapel war auch zu schwer, um ihn dauernd zu halten. Also aufteilen. Den Part über Willy Brandt hierhin, den über die Vertreibung auf das Fensterbrett. Über die Berliner Zeit und die Gründung des Wissenschaftskollegs lesen, dabei schon einige Seiten weiter schielen: Was sagt er über Lafontaine? Was über den Zustand der Hochschulen? Was über das "Zentrum für Vertreibung"? So was geht nicht lange gut, schnell rutschen die Stapel ineinander, flattern umher, der Boden ist von Blättern bedeckt, auf manchen erkennt man den maliziös lächelnden jungen Peter Glotz mit dieser komischen, riesigen Brille. Er hätte dieses Din-A4-Chaos auf der Couch und im ganzen Zimmer, zu dem jetzt noch etliche Blätter mit Notizen kamen, nur schwer ertragen. Aber das Buch hielt mich die halbe Nacht wach, am Morgen schrieb ich ihm eine begeisterte E-Mail: "Das Buch hat mich sehr berührt, all diese falsch gestellten Weichen in der SPD, die knappe, klare Analyse, die Personenschilderungen, distanziert und dabei so intim, der gnadenlos trockene Humor . . . Ich freue mich schon auf unser Treffen." Post für einen Toten. Da lebte Peter Glotz schon seit einigen Stunden nicht mehr. Bald darauf rief der Verlag an: Das mit dem Interviewwunsch habe sich "in eine andere Richtung entwickelt".
Nun stehen die Sätze im Buch, und man kann nicht mehr nachfragen. Nicht nach dem - feine Franz-Werfel-Anspielung - "blaßlila Wäschebeutel", in dem er als SPD-Funktionär mal Spendengeld entgegengenommen hat. Und vor allem nicht nach dem schlichten Satz am Ende des Kapitels über die "Enkelei", Scharping, Lafontaine und Schröder: "Jetzt liegt die Partei der achtziger Jahre, die in den Neunzigern zur Erneuerung unfähig war, in Trümmern." Das zu schreiben kann ihm nicht leichtgefallen sein. Glotz war ein Meister darin, jedes Urteil durch die Eröffnung einer neuen Perspektive zu überholen oder plötzlich mit Typologien von Personen zu kommen, Avatare in die Debatte zu schicken, auf die keiner vorbereitet war: "Dem 53jährigen Holzwirtschaftsingenieur aus dem Thüringer Wald, was sagen Sie denn dem?"
Dieser Satz fällt zu einer Zeit, da die Botschaft der SPD in eine SMS paßt: "Schröder wählen", eine Abwandlung des Kohlschen "Weiter so!". Aber die Trümmer sind ja zu besichtigen: das Verhältnis zu den Gewerkschaften - zerrüttet. Der Dialog mit Wissenschaftlern und Unternehmern - abgebrochen. Die Öffnung zu Kunst und Kultur - nur noch ein Notausgang.
Glotz' Tod wirft ein grelles Licht auf den Zustand der Sozialdemokratie. Rückblende in die Gegenwart: Vergangenen Montag hatte Wolfgang Thierse Künstler zur Wahlwerbung eingeladen. Der Regisseur Jürgen Flimm lobte erst den "schönen Rotwein" von "irgendwelchen Botschaftern", den er beim Kanzler trinken durfte, was er vermissen wird, und dann ausgiebig sich selbst. Klaus Staeck und Günter Grass versuchten sich an müden Stoiber-Attacken, dann riefen sie dazu auf, SPD zu wählen, selbst bei Kommunalwahlen auf dem Mars würden sie das tun. Freimut Duve lobte sich selbst. Kein Wort über Hartz. Das Jahr war verrutscht, es war im Laufe des Abends 1972 geworden. Man besuchte eine Trümmerlandschaft.
Die SPD in Trümmern
Rückblende, flüchtige Szene aus einem untergegangenen Land in den achtziger Jahren: Peter Glotz, der Bundesgeschäftsführer der SPD in Krawatte und einem weiten Zweireiher, leicht nach vorn gebeugt, begleitet Harald Naegeli, den als "Sprayer von Zürich" bekannten und in seiner Heimat bedrängten Aktionskünstler, zu einer schönen leeren Wand der SPD-Zentrale in Bonn: "Bitte besprühen!" Nur wenige, begeisternde Minuten aus den ewigen "Berichten aus Bonn", ein Versprechen, das sich, wie wir heute wissen, nicht erfüllt hat. Heute läßt Schily solche Sprayer per Hubschrauber jagen.
Die von Glotz erhoffte gesellschaftliche Allianz aus SPD, künstlerischer Avantgarde, Wissenschaftlern und technischer Intelligenz ist dann nicht zustande gekommen. Die Partei sollte sich, so sah es Glotz, nicht bloß um das Schlechtwettergeld kümmern, so nötig das auch war, sondern ein Forum werden, sollte kühn denkende Unternehmer ebenso einladen wie Naturwissenschaftler, Philosophen und Betriebsräte. Die soziale Gerechtigkeit sah er nur als eine von vier Säulen der Sozialdemokratie an, ebenso sollte es ihr um Aufklärung, Fortschritt, Bürgerrechte und schließlich Diskursivität gehen.
Darum öffnete er die Bühne für den Dialog, auch über Grenzen hinweg. Wer hätte sonst so vernehmlich über Antonio Gramsci, Pierre Bourdieu und André Gorz zu sprechen gewußt, in Deutschland? Darum hat er die Konzeption und Gründung des Berliner Wissenschaftskollegs als seine größte Leistung bezeichnet. In der Tat mag man sich Deutschland gar nicht mehr ohne diesen Pol des intellektuellen Lebens vorstellen. Es wäre alles noch schlimmer. Wahr ist aber auch, daß das feine, diskrete Haus in Dahlem ihm wenig geholfen hat, wenn es darum ging, Mehrheiten in der Partei zu gewinnen. Da saß er Jahre seines Lebens und oft vergeblich in den "schlecht geheizten Hinterzimmern irgendwelcher Vorstadtjugoslawen" herum. Wie würde das Land heute aussehen, hätte sich die Bundesregierung zeitig um die Urteile von Wissenschaftlern gekümmert, einen engen Kontakt zu den Hochschulen gepflegt und Bündnisse außerhalb des eigenen Lagers gesucht.
Weil er das sah, ließ Glotz nicht locker, jahrzehntelang nicht. Als ihm, schon als junger Mann immer mit Anzug und Krawatte unterwegs, im Wahlkampf eine Münchner Rentnerin halb anerkennend, halb spöttisch zuraunte: "Sie sind aber fleißig", trifft sie damit eine fast kindliche Sensibilität. "Fleißig - genau das wollte ich auch immer sein." Notiert er in einem seiner Tagebuchbände.
Geschafft hat er es nicht. Die Partei hat sich abgeschlossen, heute ist es eine Autistenveranstaltung, und man schaut ihnen zu wie den Duracell-Hasen: Wann kippen sie um? Das Buch klingt darum an manchen Stellen bitter, dort wo Glotz die "verregneten Grillfeste in den Gärten abgelegener balkanischer Lokale" beschreibt oder die Abgeordnetenwohnungen, deren Wände so dünn sind, daß man den Nachbarn kotzen hört.
Es ist die schlechte Laune über verlorene Jahre, die den Autor im Angesicht seiner schweren Krankheit befällt, während sein Sohn Lion noch so klein ist, erst sieben. Das Buch ist durchweht von Todesahnung und voller Zynismus für die todesvergessene Glücksgier mancher Zeitgenossen, die in immer raffinierterer Selbsthilfe das zu verbessern suchen, was schon optimal ist: "Man muß sich klarmachen, daß man die Ansprüche nicht überspannen darf. Was sich die Leute alles erhoffen! Der Partner soll passend sein, sonst läßt man sich scheiden, das Wort ,Glück' fließt vielen von den Lippen wie unsereinem ,Guten Morgen', und viele glauben längst, es sei ein in Straßburg einklagbares Menschenrecht, Freitag nachmittag den Rasen mähen zu dürfen und am Wochenende mit den Kindern in die Berge zu fahren. Wem das gelingt, alle Achtung, ich bin dafür. Aber ist das das Leben?"
Das Glück im Kanu
Man muß auch folgende Passage zitieren, sie kommt gegen Ende, wo es um den Einzug in sein Haus bei St. Gallen geht, die Ostschweiz, seine, wie er nachrechnet, siebte Heimat: "Wie war mein Leben? Glücklich? Das Wort ist zu groß, wohl für die meisten Leben. Vielleicht war der glücklichste Moment in meinem Leben eine Paddeltour auf dem Main bei Burkunstadt. Ich war vierzehn, ein Sommersonntagnachmittag, kein Windhauch. Das Eintauchen des Paddels in das glatte, ruhige, grüne Wasser und der Kontakt, den der Körper durch das leichte Boot zum Fluß hatte, werde ich nie vergessen. Warum habe ich das nie wiederholt? Paddeln wäre erschwinglich gewesen. Unsagbar." Dann ruft er sich schreibend zur Ordnung: "Diese Geheimnisse wollen wir auf sich beruhen lassen. Ich komme zum nüchternen Bericht zurück."
Doch gerade wo sie den nüchternen Bericht verlassen, waren Glotz' Bücher besonders stark. In dem gequälten, wütenden Tagebuchband "Die Jahre der Verdrossenheit" finden sich neben der Schilderung seines Abschieds von der Politik immer auch anrührende Beschreibungen entlegener, sinnlicher Momente: Wie es ist, jeden Samstagvormittag in einem teuren Münchener Hotel zu schwimmen, mit Blick über die Stadt, der Blick auf vorbeiziehende Schönheiten; die Befreiung, nach einer endlosen Sitzung endlich im Auto zu sitzen und zu schnell durch die Nacht zu fahren, über Land, und in voller Lautstärke Musik zu hören. So kann man auch "Von Heimat zu Heimat" auf mehreren Ebenen lesen: Es ist das schonungslose Protokoll einer vorhersehbaren politischen Entgleisung, wie die Kämpfe der Enkel den Laden sprengen und dabei entscheidende Felder wie die Wissenschaftspolitik verslumen lassen.
Es ist ein Generationenporträt. Als Kind hat Glotz noch Bombennächte durchlitten. Einmal schlägt eine Bombe in ihr Haus ein, bei der Flucht aus dem Keller schiebt er den sperrigen Korbkinderwagen seiner kleineren Schwester panisch zur Seite: "Wer Todesangst kennengelernt hat, der hat sich selbst kennengelernt", schreibt er dazu.
Und dann der Aufstieg in gleich drei Berufen als Politiker, Wissenschaftler und Publizist, während die anderen, die 68er, ganz andere Dinge wollen. Aber er rechnet nicht, wie es so Mode geworden ist, mit den 68ern ab. Er weiß um ihren beschränkten Einfluß: "Die meisten Revolutionäre von '68 laufen heute resigniert und graubärtig durch die Supermärkte unserer Städte, um eine Flasche Rotwein zu finden, die gut und zugleich preiswert ist." Schließlich ist es ein philosophisches Buch in der ursprünglichsten all ihrer Bedeutungen, der Vorbereitung auf den Tod. Gottfried Benn ragt heraus, den "heiligen Gottfried" nannte ihn Glotz als Student, seine Anbetung mit müder Ironie zugleich verhüllend wie offenbarend. Und er zitiert aus den Gedichten, einem "zerlesenen Taschenbuch mit Anmerkungen aus fünf Jahrzehnten": "Und schon so nah den Klippen / Du kennst dein schwaches Boot - / kommt, öffnet doch die Lippen, / wer redet, ist nicht tot." Und wer tot ist, muß darum noch lange nicht schweigen.
NILS MINKMAR
Peter Glotz: "Von Heimat zu Heimat". Econ-Verlag. 350 Seiten. 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wenn ihm der SPD-Politiker Peter Glotz persönlich über den Weg gelaufen ist, bekennt Heribert Prantl, so sei er ihm immer "griesgrämig" vorgekommen. In Glotz' neuestem und letzten Buch - kurz vor den Bundestagswahlen ist er 66jährig verstorben - hat Prantl einen anderen Glotz kennengelernt, dessen Mürrischsein sich mit einem nervösen Magen und der Unfähigkeit zu jenem "anknipsbaren Lächeln" erklären lässt, das anderen Politikern wie Schröder zur Verfügung steht. Glotz war bereits schwer krank, als er dieses Buch schrieb - Prantl hält es für sein persönlichstes Buch. Es beginnt mit der Flucht der Familie aus Böhmen und endet mit Glotz' Ansiedlung im schweizerischen Appenzell. Glotz war ein Hansdampf in allen Gassen, er arbeitete als Kommunikationswissenschaftler, Unirektor, Journalist und Politiker, erzählt der Rezensent. Ein "Grenzgänger", so Prantl, der keinen Zweifel daran gelassen habe, dass neben den vielen Aktivitäten, Anbindungen, neuen Heimaten die Partei seine Urheimat gewesen sei. So resümiere Glotz neben seiner persönlichen Geschichte auch SPD-Parteigeschichte und spreche offen über Irrtümer - der Radikalenerlass: "einer unserer größten Fehler" -, verfährt dabei aber gnädig mit Freund und Feind. "Von Heimat zu Heimat" ist ein Buch, schließt Prantl, das auch politikverdrossene Menschen mit Vergnügen lesen können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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