In keinem Bereich deutscher Kultur haben Juden so viele und so tiefe Spuren hinterlassen wie in der Literatur. In ihrer großen Epoche, die etwa um 1820 mit Rahel Varnhagen, Ludwig Börne und Heinrich Heine beginnt und gut einhundert Jahre dauerte, haben jüdische Autoren wie Franz Kafka, Else Lasker-Schüler, Franz Werfel oder Joseph Roth deutsche Literatur geprägt.Deutsch-jüdische Literatur des 20. Jahrhunderts ist aber nicht nur große deutsche, sondern auch große jüdische Literatur. Im Mittelpunkt des Buches steht deshalb die Frage, was denn das 'Deutsche' und was das 'Jüdische' an ihr sei. Jüdische Literatur in deutscher Sprache ist deutsch-jüdische Literatur vor allem durch die Darstellung jüdischer Erfahrungen - zumal der problematischen Assimilation, des Exils und des Holocaust.Noch die Ausbildung literarischer Traditionen ist durch solche Erfahrungen motiviert; etwa die Heine-Rezeption und die Herausbildung von Wechselwirkungen mit anderen Literaturen, insbesondere mit der jiddischen. In ihrer Verschiedenartigkeit reflektieren diese Erfahrungen die Wandlungen jüdischer Identität im 20. Jahrhundert. Internationalität und Interkulturalität erweisen sich dabei als Grundzüge der jüdischen Literatur deutscher Sprache - gerade bei ihren größten Vertretern und bis hinein in die Gegenwart. Ihr grenzüberschreitender Charakter, sprachlich, politisch und kulturell, hat sie zu einem »heimlichen Korrektiv« (Thomas Mann) der deutschen Literatur gemacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.1999Aufklärung der Dialektik
Dieter Lamping untersucht die deutsch-jüdische Literatur
Der Mainzer Literaturwissenschaftler Dieter Lamping unternimmt den Versuch, die deutsch-jüdische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts in ihren historischen Konturen zu erfassen. Sie ließe sich, so heißt es in der Einleitung, "als Literatur der deutsch-jüdischen Symbiose, als deutsche Literatur jüdischer Autoren oder schließlich als jüdische Literatur in deutscher Sprache beschreiben. Im ersten Fall erscheint sie als eine symbiotische Einheit, gleichermaßen deutsch und jüdisch. Im zweiten Fall stellt sie sich als Teil der deutschen, im dritten als Teil der jüdischen Literatur dar".
Alles Deutsch-Jüdische ist seit Hitler historisch belastet, auch die Literatur. Lampings Alternativen halten die Schwierigkeiten des Themas fest, und indem er die möglichen Ansätze auf solche Weise aufzählt und begründet, schreibt er sich bereits die Wahl vor. Der Begriff der "Symbiose" ist ad absurdum geführt, eine deutsche Zuordnung jüdischer Autoren stünde im Verdacht der Vereinnahmung, es bleibt ihm also nur noch die dritte Möglichkeit. Sein Buch, so lesen wir, "ist nicht deutscher Literatur jüdischer Autoren, sondern jüdischer Literatur in deutscher Sprache gewidmet. Nicht was ,deutsch', sondern was ,jüdisch' an ihr ist, steht hier im Mittelpunkt".
Dieser Ausgangspunkt bestimmt die Blickrichtung des Buches, und sein Untertitel bezeichnet das Ziel. Es geht Lamping um den jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts, um eine Art Binnengespräch, das Juden untereinander auf deutsch über ihre jüdischen Erfahrungen geführt haben. In diesem Diskurs nimmt er drei Schwerpunkte wahr - die Krise der Assimilation, das Exil, den Holocaust -, und da die Themenkreise zeitlich aufeinanderfolgen und eine historische Reihe bilden, gewinnt er aus ihnen die Struktur seines Buches.
Bei Kafka und den Autoren der zwanziger Jahre wird der Topos des entwurzelten Westjuden zum Kristallisationspunkt einer neuen Identitätssuche. Im Exil der dreißiger Jahre erweist sich die Tradition vertriebener Autoren wie Alfred Döblin, Ludwig Marcuse und Karl Wolfskehl als höchst heterogen. Nach Kriegsende dann, etwa bei Paul Celan, schreibt sich eine jüdische Literatur von Auschwitz her, die mit der deutschen Nachkriegsliteratur wenig gemein hat.
Lampings Ansatz ist nicht unergiebig. Da er den Versuch unternimmt, den jüdischen Diskurs von innen heraus darzustellen, betritt er überall germanistisches Neuland und vernetzt seine Autoren an unerwarteten Knotenpunkten. Kafka steht in einem Koordinatensystem jüdischen Traditionsverlustes, die Diskussion zwischen Zionisten und Antizionisten im Exil macht eine jüdische Welt jenseits des deutschen Bezuges sichtbar, Celans "Todesfuge" wird als eine Kontrafaktur des biblischen "Hoheliedes" gelesen, erwächst aus der jüdischen Tradition und zerbricht diese Tradition zugleich.
Zu bedenken bleibt freilich, daß hiermit nur ein Teil der Arbeit geleistet ist. Lamping hat es sich zum Ziel gesetzt, einen spezifisch jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts zu isolieren. Fruchtbar aber können die so gewonnenen Ansichten nur werden, wenn das zum Zweck der Analyse künstlich Getrennte in einer neuen Gesamtschau deutsch-jüdischer Literatur wieder zusammengefügt wird, um beides zu vertiefen: unser Verständnis der jüdischen Literatur und zugleich der deutschen Literatur.
Den drei Schwerpunkten, die Lamping seiner Darstellung gibt - Assimilationskrise, Exil, Holocaust -, ist die Interdependenz von Jüdischem und Deutschem eingeschrieben. Eine Assimilation setzt zwei Organismen voraus, und Lampings Kafka-Kapitel macht schnell deutlich, daß dieser aus der Biologie stammende Begriff nicht sehr glücklich gewählt ist. Es ist nicht Kafkas Stammesgedächtnis, das seine Entwurzelung beklagt, sondern sein kulturelles Gedächtnis, und in der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte spricht man deshalb besser von Akkulturation: Es sind zwei Kulturen, die sich hier begegnen, und die Krise dieser Begegnung greift weit über einen innerjüdischen Diskurs hinaus.
Noch schärfer als bei der Assimilation tritt die Unterbelichtung der deutschen Seite in den Begriffen des "Exils" und des "Holocaust" hervor. Es sind Euphemismen für "Vertreibung" und "Judenmord", sie haben sich nicht zufällig im deutschen Sprachgebrauch eingebürgert und leisten wenig für die Erhellung der historischen Vorgänge, die hier nachzuzeichnen sind. Dem Exil müßte die Germanistik einen Begriff der Heimat gegenüberstellen können, und wenn sie das für die vertriebenen jüdischen (und nichtjüdischen) Autoren nicht zustande bringt, so auch deshalb, weil der Begriff der deutschen Kultur in den Zwischenkriegsjahren alles andere als geklärt ist.
Indem sich Dieter Lamping auf den jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts konzentriert, blendet er die Gegenseite aus - den deutschen Diskurs, in dem sich die von den Juden angestrebte Kultur selbst vernichtet. Das Scheitern der jüdischen Akkulturation aber bleibt ohne diesen Gegenpol unverständlich: Erst aus der gleichzeitigen Selbstvernichtung der deutschen Kultur gewinnen die von Lamping herausgearbeiteten Leitmotive ihre historische Dynamik.
Es ist kein Zufall, daß der implizite jüdisch-deutsche Dialog am Ende des Buches dann völlig auseinanderbricht. Dort ist von der Zeit nach 1945 die Rede, von einer jüdischen Literatur "auf Grund von Auschwitz", von der "Trennung" des jüdischen Diskurses und der deutschen Nachkriegsliteratur. Bezeichnend für den Bruch ist das schwierige Verhältnis zwischen der Gruppe 47 und den Emigranten, das Dieter Lamping mit einigen Beispielen gut belegt.
Den Preis aber, den die deutsche Literatur für diese Trennung gezahlt hat, bringt Lamping kaum zur Sprache. "Die jüngeren deutschen Autoren", so lesen wir, "die erst nach 1945 die Gelegenheit erhielten, zu veröffentlichen, waren zumeist ganz mit der Verarbeitung der eigenen Erlebnisse im Krieg beschäftigt. Nicht allen war die besondere Schwere gerade des jüdischen Leidens bewußt." Und gleich darauf: "Weiter wird man bedenken müssen, daß Betroffensein und Betroffenheit zeigen nicht unbedingt dasselbe ist. Unter deutschen Autoren hat es eine große Scheu gegeben, den Holocaust zum Thema der Literatur zu machen."
Als eine Aussage zur deutschen Literaturgeschichte ist diese Verteidigung der anständigen Schweiger recht fragwürdig. Deutschlands Nachkriegsautoren haben über den Absturz in die Barbarei wenig zu sagen, und das gehört zu den Folgen der bei Lamping ausgeblendeten Selbstvernichtung der deutschen Kultur. Zuerst und zuletzt muß eine Betrachtung jüdischer Literatur in deutscher Sprache immer auch eine Kritik dieser Kultur einschließen, und das ist hier leider versäumt worden. Mit den Stimmen aus dem jüdischen Diskurs macht Dieter Lamping wichtige Aspekte eines Teilbereiches zugänglich, aber das Gesamtbild ist vielschichtiger, erschreckender. JAKOB HESSING
Dieter Lamping: "Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts". Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, 206 S., br., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieter Lamping untersucht die deutsch-jüdische Literatur
Der Mainzer Literaturwissenschaftler Dieter Lamping unternimmt den Versuch, die deutsch-jüdische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts in ihren historischen Konturen zu erfassen. Sie ließe sich, so heißt es in der Einleitung, "als Literatur der deutsch-jüdischen Symbiose, als deutsche Literatur jüdischer Autoren oder schließlich als jüdische Literatur in deutscher Sprache beschreiben. Im ersten Fall erscheint sie als eine symbiotische Einheit, gleichermaßen deutsch und jüdisch. Im zweiten Fall stellt sie sich als Teil der deutschen, im dritten als Teil der jüdischen Literatur dar".
Alles Deutsch-Jüdische ist seit Hitler historisch belastet, auch die Literatur. Lampings Alternativen halten die Schwierigkeiten des Themas fest, und indem er die möglichen Ansätze auf solche Weise aufzählt und begründet, schreibt er sich bereits die Wahl vor. Der Begriff der "Symbiose" ist ad absurdum geführt, eine deutsche Zuordnung jüdischer Autoren stünde im Verdacht der Vereinnahmung, es bleibt ihm also nur noch die dritte Möglichkeit. Sein Buch, so lesen wir, "ist nicht deutscher Literatur jüdischer Autoren, sondern jüdischer Literatur in deutscher Sprache gewidmet. Nicht was ,deutsch', sondern was ,jüdisch' an ihr ist, steht hier im Mittelpunkt".
Dieser Ausgangspunkt bestimmt die Blickrichtung des Buches, und sein Untertitel bezeichnet das Ziel. Es geht Lamping um den jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts, um eine Art Binnengespräch, das Juden untereinander auf deutsch über ihre jüdischen Erfahrungen geführt haben. In diesem Diskurs nimmt er drei Schwerpunkte wahr - die Krise der Assimilation, das Exil, den Holocaust -, und da die Themenkreise zeitlich aufeinanderfolgen und eine historische Reihe bilden, gewinnt er aus ihnen die Struktur seines Buches.
Bei Kafka und den Autoren der zwanziger Jahre wird der Topos des entwurzelten Westjuden zum Kristallisationspunkt einer neuen Identitätssuche. Im Exil der dreißiger Jahre erweist sich die Tradition vertriebener Autoren wie Alfred Döblin, Ludwig Marcuse und Karl Wolfskehl als höchst heterogen. Nach Kriegsende dann, etwa bei Paul Celan, schreibt sich eine jüdische Literatur von Auschwitz her, die mit der deutschen Nachkriegsliteratur wenig gemein hat.
Lampings Ansatz ist nicht unergiebig. Da er den Versuch unternimmt, den jüdischen Diskurs von innen heraus darzustellen, betritt er überall germanistisches Neuland und vernetzt seine Autoren an unerwarteten Knotenpunkten. Kafka steht in einem Koordinatensystem jüdischen Traditionsverlustes, die Diskussion zwischen Zionisten und Antizionisten im Exil macht eine jüdische Welt jenseits des deutschen Bezuges sichtbar, Celans "Todesfuge" wird als eine Kontrafaktur des biblischen "Hoheliedes" gelesen, erwächst aus der jüdischen Tradition und zerbricht diese Tradition zugleich.
Zu bedenken bleibt freilich, daß hiermit nur ein Teil der Arbeit geleistet ist. Lamping hat es sich zum Ziel gesetzt, einen spezifisch jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts zu isolieren. Fruchtbar aber können die so gewonnenen Ansichten nur werden, wenn das zum Zweck der Analyse künstlich Getrennte in einer neuen Gesamtschau deutsch-jüdischer Literatur wieder zusammengefügt wird, um beides zu vertiefen: unser Verständnis der jüdischen Literatur und zugleich der deutschen Literatur.
Den drei Schwerpunkten, die Lamping seiner Darstellung gibt - Assimilationskrise, Exil, Holocaust -, ist die Interdependenz von Jüdischem und Deutschem eingeschrieben. Eine Assimilation setzt zwei Organismen voraus, und Lampings Kafka-Kapitel macht schnell deutlich, daß dieser aus der Biologie stammende Begriff nicht sehr glücklich gewählt ist. Es ist nicht Kafkas Stammesgedächtnis, das seine Entwurzelung beklagt, sondern sein kulturelles Gedächtnis, und in der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte spricht man deshalb besser von Akkulturation: Es sind zwei Kulturen, die sich hier begegnen, und die Krise dieser Begegnung greift weit über einen innerjüdischen Diskurs hinaus.
Noch schärfer als bei der Assimilation tritt die Unterbelichtung der deutschen Seite in den Begriffen des "Exils" und des "Holocaust" hervor. Es sind Euphemismen für "Vertreibung" und "Judenmord", sie haben sich nicht zufällig im deutschen Sprachgebrauch eingebürgert und leisten wenig für die Erhellung der historischen Vorgänge, die hier nachzuzeichnen sind. Dem Exil müßte die Germanistik einen Begriff der Heimat gegenüberstellen können, und wenn sie das für die vertriebenen jüdischen (und nichtjüdischen) Autoren nicht zustande bringt, so auch deshalb, weil der Begriff der deutschen Kultur in den Zwischenkriegsjahren alles andere als geklärt ist.
Indem sich Dieter Lamping auf den jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts konzentriert, blendet er die Gegenseite aus - den deutschen Diskurs, in dem sich die von den Juden angestrebte Kultur selbst vernichtet. Das Scheitern der jüdischen Akkulturation aber bleibt ohne diesen Gegenpol unverständlich: Erst aus der gleichzeitigen Selbstvernichtung der deutschen Kultur gewinnen die von Lamping herausgearbeiteten Leitmotive ihre historische Dynamik.
Es ist kein Zufall, daß der implizite jüdisch-deutsche Dialog am Ende des Buches dann völlig auseinanderbricht. Dort ist von der Zeit nach 1945 die Rede, von einer jüdischen Literatur "auf Grund von Auschwitz", von der "Trennung" des jüdischen Diskurses und der deutschen Nachkriegsliteratur. Bezeichnend für den Bruch ist das schwierige Verhältnis zwischen der Gruppe 47 und den Emigranten, das Dieter Lamping mit einigen Beispielen gut belegt.
Den Preis aber, den die deutsche Literatur für diese Trennung gezahlt hat, bringt Lamping kaum zur Sprache. "Die jüngeren deutschen Autoren", so lesen wir, "die erst nach 1945 die Gelegenheit erhielten, zu veröffentlichen, waren zumeist ganz mit der Verarbeitung der eigenen Erlebnisse im Krieg beschäftigt. Nicht allen war die besondere Schwere gerade des jüdischen Leidens bewußt." Und gleich darauf: "Weiter wird man bedenken müssen, daß Betroffensein und Betroffenheit zeigen nicht unbedingt dasselbe ist. Unter deutschen Autoren hat es eine große Scheu gegeben, den Holocaust zum Thema der Literatur zu machen."
Als eine Aussage zur deutschen Literaturgeschichte ist diese Verteidigung der anständigen Schweiger recht fragwürdig. Deutschlands Nachkriegsautoren haben über den Absturz in die Barbarei wenig zu sagen, und das gehört zu den Folgen der bei Lamping ausgeblendeten Selbstvernichtung der deutschen Kultur. Zuerst und zuletzt muß eine Betrachtung jüdischer Literatur in deutscher Sprache immer auch eine Kritik dieser Kultur einschließen, und das ist hier leider versäumt worden. Mit den Stimmen aus dem jüdischen Diskurs macht Dieter Lamping wichtige Aspekte eines Teilbereiches zugänglich, aber das Gesamtbild ist vielschichtiger, erschreckender. JAKOB HESSING
Dieter Lamping: "Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts". Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, 206 S., br., 45,- DM.
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