Als der spanische Eroberer Hernán Cortés am 08. November 1519 mit seinem Gefolge in der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlan eintrifft, hat er schon das halbe heutige Mexiko unterworfen. Doch nun soll es zum alles entscheidenden Moment kommen, dem Zusammentreffen zwischen Cortés und dem Azteken-Herrscher Moctezuma.
Während die Azteken noch nie Pferde gesehen haben - die wichtigste Waffe der Konquistadoren -, probieren die Spanier zum ersten Mal Schokolade. Es ist das Zusammentreffen von zwei Welten, zwei Imperien, zwei Sprachen, voller diplomatischer Fallstricke. Beide Herrscher sind der Überzeugung, dass der andere komplett unzivilisiert sei, und es entfaltet sich eine mögliche Version dieser historischen Begegnung, die die Geschichte komplett verändert hätte.
Während die Azteken noch nie Pferde gesehen haben - die wichtigste Waffe der Konquistadoren -, probieren die Spanier zum ersten Mal Schokolade. Es ist das Zusammentreffen von zwei Welten, zwei Imperien, zwei Sprachen, voller diplomatischer Fallstricke. Beide Herrscher sind der Überzeugung, dass der andere komplett unzivilisiert sei, und es entfaltet sich eine mögliche Version dieser historischen Begegnung, die die Geschichte komplett verändert hätte.
»Álvaro Enrigues neuestes Werk ist eine wahre Meisterleistung in Sachen historischer Rekonstruktion, Ideenreichtum und Übersetzung.« Chicago Review of Books über "Von Königreichen hast du geträumt"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2024Geruchsbelästigung auf beiden Seiten
Historie und Roman: Der mexikanische Autor Álvaro Enrigue schildert den Untergang des Aztekenreiches und zielt zugleich auf unsere Gegenwart.
Am 8. November 1519 empfing Moctezuma II. den spanischen "Konquistador" Hernán Cortés in seiner Residenzstadt Tenochtitlan. Der Herrscher über das aztekische Reich hatte eigentlich keine Lust auf die Begegnung. In seinem Land _rumorte es gewaltig. Die Eindringlinge standen mit Einheimischen im Bunde. Moctezuma rettete sich mit Drogen über die Tage. Umgekehrt ärgerte sich Cortés, bei dem noch unklar war, ob er als "Eroberer" oder als zerstückeltes Menschenopfer aus der Geschichte herauskommen würde, über die "Arroganz" und die "schlechten Manieren" seines Gastgebers. Und doch übermannte ihn angesichts des gewaltigen Zeremoniells plötzlich ein Gefühl größter Zuneigung, das er eigentlich nur aus seinen geliebten Ritterromanen kannte: Er versuchte, Moctezuma zu umarmen.
So weit die Version dieses historischen Clash of Civilizations, die Álvaro Enrigue in seinem neuen Roman "Von Königreichen hast du geträumt" erzählt. Cortés' Affront hätte unter normalen Umständen tödliche Folgen haben müssen, und tatsächlich war einer der Aztekenkrieger aus dem Gefolge Moctezumas auch nahe dran, die Halsschlagader des Spaniers mit einem beherzten Biss zu durchtrennen.
Wie man weiß: Für das Aztekenreich wäre es besser gewesen. Moctezuma hätte die Zerstörung seiner gesamten Kultur durch eingeschleppte Krankheiten, hemmungslose Beutegier und entfesselte Mordlust noch ein wenig hinauszögern können. In dieser Situation aber zeigte er sich eigentümlich milde. Warum also ließ sich der vergötterte Herrscher, der ansonsten keine Sekunde zögerte, jemanden wegen geringster Vergehen hinrichten zu lassen, von dieser fremden "Zirkustruppe" so viel gefallen?
Der mexikanische, in New York lebende Autor Álvaro Enrigue strickt zum zweiten Mal einen Roman um den Spanier Hernán Cortes. Der deutsche Romantitel erfasst das Grenzgängerische des literarischen Unternehmens recht gut: "Von Königreichen hast du geträumt" - das kann sich auf Moctezuma, auf Cortés oder auch auf Enrigue selbst beziehen.
Den Autor interessiert die Vergangenheit nicht weniger als das Hier und Jetzt. So schmückt er die bis heute rätselhaften Geschichtszeugnisse der aztekischen Kultur zu einem hyperrealen Fest der Sinne aus. Mit grandioser Beschreibungsfreude führt er durch die Gemächer des Palastes, in die Tempelbauten, auf die Straßen der Hauptstadt, ihre Märkte und Plätze. Er schwelgt in Details der Zimmerausstattung, der Mode oder der Küche und wechselt dabei immer wieder die Perspektiven: Den Gästen ist der Geruch der Priester unerträglich, die sich - in die faulige Haut eines Menschenopfers gehüllt und mit ranzigem Blut besprenkelt - das Festmahl schmecken lassen. Die Gastgeber stößt der Gestank von Hunden und Exkrementen ab, den die spanischen Hinterwäldler verströmen.
Keiner der beiden Gegner zweifelt jemals daran, die richtige Wahrnehmung auf seiner Seite zu haben, auch wenn der Erfahrungsmangel auf der Hand liegt - die einen haben noch nie Schokolade getrunken, die anderen keine Pferde gesehen. Die Zukunft aber gehört nicht dem Weder-noch, sondern dem Sowohl-als-auch, hybriden Kulturen also, die ihre Güter aus dem globalen Verkehr beziehen. Der Roman stellt dies in seiner Machart literarisch klar, denn die historische Imagination, wie das Zusammentreffen der unvereinbaren kulturellen Gegensätze gewesen sein könnte, erfolgt in einer ganz und gar aktuellen Tonlage. Der schnoddrige Stil, Wörter aus der Gegenwart und andere Anachronismen lassen keinen Zweifel daran, dass es in diesem Roman nicht um ein historistisches Experiment geht.
Enrigue schöpft aus dem "Archiv", wie er in Interviews immer wieder erklärt. In einem Postskriptum zu seinem Roman bekennt er sich offen zu seinen Quellen: "Die Vorstellung, jemand, der schreibt, tue dies in erleuchteter Einsamkeit, ist ein Relikt der Romantik." Die autofiktionale Nabelschau langweile ihn zu Tode. Der eigene Hinterhof sei kein interessantes Sujet. Der selbstgenügsame Dienst an einer in sich stimmigen Version der Vergangenheit schert Enrigue allerdings ebenso wenig. Er verfährt nach eigenem künstlerischen Belieben, wenn es sein Schönheitsempfinden oder andere Interessen gebieten. Man hat seine Texte daher häufig der Postmoderne zugeschlagen und ihn mit Quentin Tarantino verglichen: Die beiden verbindet nicht nur die Neigung zu coolen Gewaltdarstellungen, sondern vor allem auch das exzessive Spiel mit kulturellen Codes und Zeichen, mit Anspielungen, die man zur Steigerung des kennerischen Genusses wahrnehmen kann, die man aber nicht entschlüsseln muss, um auf hohem Niveau unterhalten zu werden.
Tatsächlich endet der Roman mit einem "Inglourious Basterds"-Moment. Diese spät aufgesetzte Pointe ist jedoch nicht das Entscheidende. Auffällig ist vielmehr, wie bedrückend nah unsere Realität derzeit gerade den irren Momenten der Erfindung gekommen ist. Was an einem historischen Schicksalstag vor rund einem halben Jahrtausend geschah, bedeutete den Anfang vom Ende einer Hochkultur, deren Errungenschaften selbst für die mächtigsten Königreiche des damaligen Europas unerreichbare Phantasiegebilde waren.
Zugleich schleicht sich bei der Lektüre das unheimliche Gefühl ein, zu viele Elemente dieser historischen Katastrophe aus den aktuellen Nachrichten schon zu kennen: jene eigentümliche Mischung aus Dummheit und Cleverness, offenkundigem Herrschaftswillen und unberechenbarem Verhalten, Lächerlichkeit und rücksichtsloser Gewalt, mit der die Anführer von Parteien ihre eigene Herrschaft sichern wollen. Was also ist los mit einer Zeit, in der historische Exzesse und literarische Zuspitzungen der Wirklichkeit nicht mehr wirklich voraus sind? STEFFEN MARTUS
Álvaro Enrigue: "Von Königreichen hast du geträumt." Roman.
Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Blessing Verlag, München 2023.
256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Historie und Roman: Der mexikanische Autor Álvaro Enrigue schildert den Untergang des Aztekenreiches und zielt zugleich auf unsere Gegenwart.
Am 8. November 1519 empfing Moctezuma II. den spanischen "Konquistador" Hernán Cortés in seiner Residenzstadt Tenochtitlan. Der Herrscher über das aztekische Reich hatte eigentlich keine Lust auf die Begegnung. In seinem Land _rumorte es gewaltig. Die Eindringlinge standen mit Einheimischen im Bunde. Moctezuma rettete sich mit Drogen über die Tage. Umgekehrt ärgerte sich Cortés, bei dem noch unklar war, ob er als "Eroberer" oder als zerstückeltes Menschenopfer aus der Geschichte herauskommen würde, über die "Arroganz" und die "schlechten Manieren" seines Gastgebers. Und doch übermannte ihn angesichts des gewaltigen Zeremoniells plötzlich ein Gefühl größter Zuneigung, das er eigentlich nur aus seinen geliebten Ritterromanen kannte: Er versuchte, Moctezuma zu umarmen.
So weit die Version dieses historischen Clash of Civilizations, die Álvaro Enrigue in seinem neuen Roman "Von Königreichen hast du geträumt" erzählt. Cortés' Affront hätte unter normalen Umständen tödliche Folgen haben müssen, und tatsächlich war einer der Aztekenkrieger aus dem Gefolge Moctezumas auch nahe dran, die Halsschlagader des Spaniers mit einem beherzten Biss zu durchtrennen.
Wie man weiß: Für das Aztekenreich wäre es besser gewesen. Moctezuma hätte die Zerstörung seiner gesamten Kultur durch eingeschleppte Krankheiten, hemmungslose Beutegier und entfesselte Mordlust noch ein wenig hinauszögern können. In dieser Situation aber zeigte er sich eigentümlich milde. Warum also ließ sich der vergötterte Herrscher, der ansonsten keine Sekunde zögerte, jemanden wegen geringster Vergehen hinrichten zu lassen, von dieser fremden "Zirkustruppe" so viel gefallen?
Der mexikanische, in New York lebende Autor Álvaro Enrigue strickt zum zweiten Mal einen Roman um den Spanier Hernán Cortes. Der deutsche Romantitel erfasst das Grenzgängerische des literarischen Unternehmens recht gut: "Von Königreichen hast du geträumt" - das kann sich auf Moctezuma, auf Cortés oder auch auf Enrigue selbst beziehen.
Den Autor interessiert die Vergangenheit nicht weniger als das Hier und Jetzt. So schmückt er die bis heute rätselhaften Geschichtszeugnisse der aztekischen Kultur zu einem hyperrealen Fest der Sinne aus. Mit grandioser Beschreibungsfreude führt er durch die Gemächer des Palastes, in die Tempelbauten, auf die Straßen der Hauptstadt, ihre Märkte und Plätze. Er schwelgt in Details der Zimmerausstattung, der Mode oder der Küche und wechselt dabei immer wieder die Perspektiven: Den Gästen ist der Geruch der Priester unerträglich, die sich - in die faulige Haut eines Menschenopfers gehüllt und mit ranzigem Blut besprenkelt - das Festmahl schmecken lassen. Die Gastgeber stößt der Gestank von Hunden und Exkrementen ab, den die spanischen Hinterwäldler verströmen.
Keiner der beiden Gegner zweifelt jemals daran, die richtige Wahrnehmung auf seiner Seite zu haben, auch wenn der Erfahrungsmangel auf der Hand liegt - die einen haben noch nie Schokolade getrunken, die anderen keine Pferde gesehen. Die Zukunft aber gehört nicht dem Weder-noch, sondern dem Sowohl-als-auch, hybriden Kulturen also, die ihre Güter aus dem globalen Verkehr beziehen. Der Roman stellt dies in seiner Machart literarisch klar, denn die historische Imagination, wie das Zusammentreffen der unvereinbaren kulturellen Gegensätze gewesen sein könnte, erfolgt in einer ganz und gar aktuellen Tonlage. Der schnoddrige Stil, Wörter aus der Gegenwart und andere Anachronismen lassen keinen Zweifel daran, dass es in diesem Roman nicht um ein historistisches Experiment geht.
Enrigue schöpft aus dem "Archiv", wie er in Interviews immer wieder erklärt. In einem Postskriptum zu seinem Roman bekennt er sich offen zu seinen Quellen: "Die Vorstellung, jemand, der schreibt, tue dies in erleuchteter Einsamkeit, ist ein Relikt der Romantik." Die autofiktionale Nabelschau langweile ihn zu Tode. Der eigene Hinterhof sei kein interessantes Sujet. Der selbstgenügsame Dienst an einer in sich stimmigen Version der Vergangenheit schert Enrigue allerdings ebenso wenig. Er verfährt nach eigenem künstlerischen Belieben, wenn es sein Schönheitsempfinden oder andere Interessen gebieten. Man hat seine Texte daher häufig der Postmoderne zugeschlagen und ihn mit Quentin Tarantino verglichen: Die beiden verbindet nicht nur die Neigung zu coolen Gewaltdarstellungen, sondern vor allem auch das exzessive Spiel mit kulturellen Codes und Zeichen, mit Anspielungen, die man zur Steigerung des kennerischen Genusses wahrnehmen kann, die man aber nicht entschlüsseln muss, um auf hohem Niveau unterhalten zu werden.
Tatsächlich endet der Roman mit einem "Inglourious Basterds"-Moment. Diese spät aufgesetzte Pointe ist jedoch nicht das Entscheidende. Auffällig ist vielmehr, wie bedrückend nah unsere Realität derzeit gerade den irren Momenten der Erfindung gekommen ist. Was an einem historischen Schicksalstag vor rund einem halben Jahrtausend geschah, bedeutete den Anfang vom Ende einer Hochkultur, deren Errungenschaften selbst für die mächtigsten Königreiche des damaligen Europas unerreichbare Phantasiegebilde waren.
Zugleich schleicht sich bei der Lektüre das unheimliche Gefühl ein, zu viele Elemente dieser historischen Katastrophe aus den aktuellen Nachrichten schon zu kennen: jene eigentümliche Mischung aus Dummheit und Cleverness, offenkundigem Herrschaftswillen und unberechenbarem Verhalten, Lächerlichkeit und rücksichtsloser Gewalt, mit der die Anführer von Parteien ihre eigene Herrschaft sichern wollen. Was also ist los mit einer Zeit, in der historische Exzesse und literarische Zuspitzungen der Wirklichkeit nicht mehr wirklich voraus sind? STEFFEN MARTUS
Álvaro Enrigue: "Von Königreichen hast du geträumt." Roman.
Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Blessing Verlag, München 2023.
256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im Zentrum des neuen Romans von Álvaro Enrigues steht laut Rezensent Steffen Martus die Begegnung des Aztektenherrschers Moctezuma II. mit dem Entdecker und Eroberer Hernán Cortés. Die beiden sind einander in Enrigues Fiktion nicht grün, und doch lässt Moctezuma den Spanier nicht umbringen. Enrigue schmückt die Begegnung zweier einander fremder Kulturen mit vielen sinnlichen Details aus, wobei es ihm freilich nicht darum geht, in die Vergangenheit einzutauchen, erklärt der Rezensent. Vielmehr sei sein Buch, auch sprachlich, ganz von der Gegenwart gedacht, ihn interessiere nicht die Verschiedenheit, sondern die Hybridisierung von Kulturen. Martus beschreibt den Autor als einen, der sich wenig um Selbstbetrachtung schert, der seiner eigenen künstlerischen Intention folgt, oft der Postmoderne zugeschlagen und mit Tarantino verglichen werde. Am neuen Buch ist für den Kritiker freilich gerade interessant, dass die Dummheit und Gewalt der historischen Herrscher ihn so deutlich an unsere heutige politische Realität erinnert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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