Eine kleine Sensation anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution von 1917: die Erstveröffentlichung der farbigen Berichte des Mediziners Heinrich Zeiss aus der jungen Sowjetunion. Wolfgang U. Eckart stellt das abenteuerliche Leben dieses Mannes vor und präsentiert eine kommentierte Auswahl seiner vertraulichen Aufzeichnungen. Zwischen 1921 und 1931 bereiste der deutsche Arzt und Hygieniker Heinrich Zeiss als Expeditionsarzt, Kulturbeobachter und Kundschafter den europäischen und asiatischen Teil der RSFSR und der späteren UdSSR. Seine Aufzeichnungen und Fotografien geben Einblick in die sozialen Zustände, aber auch in die kulturelle und politisch-militärische Lage nach dem Bürgerkrieg. Zeiss interessierte sich bei seinen Reisen unter anderem für die Situation in der Wolgadeutschen Republik und in Kasachstan, forschte über Kamelkrankheiten, engagierte sich für ein Museum lebender Mikroben in Moskau, stand in engem Kontakt mit bolschewistischen Kommissaren und attraktiven Agentinnen. Sein Augenmerk galt aber vor allem den kulturellen Auswirkungen der Sowjetisierung und den Problemen, die sich aus dem Umstand ergaben, dass die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat war. Zeiss hat sich dabei immer als Freund Sowjetrusslands verstanden, obgleich er dem Kommunismus sehr distanziert gegenüberstand. Als seine Bewegungsfreiheit im Stalinismus zunehmend schwand, verließ er enttäuscht das Land.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2017Wie ließ sich Stalins Reich helfen?
Heinrich Zeiss als Hygieniker und Kundschafter während der Jahre 1921 bis 1931
Am 12. Juli 1921 wandte sich Maxim Gorki in einem Aufruf an die Weltöffentlichkeit, um auf die verheerende Hungersnot aufmerksam zu machen, die in Russland ausgebrochen war. Nur zehn Tage später veröffentlichte der Schriftsteller Gerhart Hauptmann einen bewegenden Appell, der in fast allen deutschen Tageszeitungen veröffentlicht wurde. Man solle dem bedrängten Nachbarn helfen - durch Entsendung von Ärzten und Medikamenten - und die politischen Differenzen für eine Zeit vergessen. Wenig später schon konnte Außenminister Walther Rathenau führende Vertreter der deutschen Wirtschaft davon überzeugen, dass es im Interesse Deutschlands sei, den Hungernden durch Seuchenprävention zu helfen.
Nun war das Hilfsangebot der Reichsregierung zwar großzügig, aber keineswegs altruistisch. Rathenau wollte zweifellos auch eine politische Botschaft nach Russland senden: die Bereitschaft Deutschlands, sich nach Osten zu öffnen. Und so war die Hilfsexpedition, die im September 1921 nach Moskau aufbrach, nicht nur eine medizinische, sondern auch eine politische Gesandtschaft. Ihr gehörte auch der Hygieniker Heinrich Zeiss an, der in Moskau im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes ein bakteriologisches Zentral-Laboratorium gründete. Ihm hat der Medizinhistoriker Wolfgang Eckart jetzt eine Dokumentation gewidmet. Sie enthält Aufzeichnungen und Expeditionsberichte, die Zeiss während seines zehnjährigen Aufenthaltes in der Sowjetunion zwischen 1921 und 1932 verfasste.
Zu Beginn seiner Mission arbeitete Zeiss im Auftrag des Roten Kreuzes. Er organisierte Expeditionen in Hunger- und Seuchengebiete, sammelte Informationen über die Verbreitung von Epidemien und entwickelte Impfstoffe in seinem Labor in Moskau. 1923 gelang es ihm, die Ausbreitung von Fleckfieber im Gouvernement Minsk einzudämmen und Seuchen unter Kontrolle zu bringen. Zeiss sprach nicht nur gut Russisch, er hatte auch das Vertrauen des Volkskommissars für Gesundheit, Nikolai Semaschko, der ihn 1924 dafür gewann, in sowjetische Dienste zu treten. Zwischen 1925 und 1932 arbeitete er als Hygieniker am Tarassewitsch-Institut für experimentelle Therapie und Serumkontrolle in Moskau. In dieser Funktion bereiste Zeiss die Republik der Wolgadeutschen, die Kosakendörfer und Siedlungen der kasachischen Nomaden am Ural-Fluss, inspizierte Krankenhäuser, verteilte Medikamente und behandelte die Kamelherden der Kasachen mit Impfstoffen.
Monat für Monat unterrichtete Zeiss die deutsche Botschaft in Moskau über die Erkenntnisse, die er auf seinen Reisen gewonnen hatte. Er sah die Zerstörungen, die der Bürgerkrieg in den Dörfern und Städten hinterlassen hatte, Hunger und Elend. In den Krankenhäusern, die Zeiss besuchte, starben die Patienten, weil sich niemand um sie kümmerte. Das medizinische Personal sei schlecht ausgebildet, und die hygienischen Verhältnisse spotteten jeder Beschreibung. Rückständigkeit und Unwissenheit überall, so schien es ihm.
Auf seinen Reisen wurde er auch mit der sowjetischen Nationalitätenpolitik konfrontiert. Sie helfe den Minderheiten, sich auf ihre Kultur zu besinnen und Rückständigkeit zu überwinden. Für die Wolgadeutschen sei sie ein Gewinn, weil sie nicht nur ihre Sitten und Gebräuche pflegen, sondern sich auch mit den Deutschen jenseits der sowjetischen Grenzen verbinden könnten. Aber Zeiss sah auch die zerstörerischen Folgen dieser Nationalisierung. Im Gouvernement Uralsk habe die Regierung Kosaken und Kasachen gegeneinander aufgebracht. Denn die Herren von einst seien entrechtet, die Nomaden privilegiert worden. Keinesfalls aber hätten die Nomaden davon einen Gewinn. Gleich den Indianern im Norden Amerikas seien sie zur Degeneration und Verelendung verurteilt, weil sich ihre Lebensweise mit der europäischen Zivilisation nicht versöhnen lasse.
Wie manch andere Fachleute auch, verstand sich Zeiss als Missionar im Dienst deutscher Kultur und Wissenschaft. Nicht Helfer, sondern Aufklärer wollte er sein. Man könnte auch sagen, dass Zeiss Planung, Steuerung und Entschlossenheit anbetete, aber glaubte, dass ohne Hilfe deutscher Wissenschaftler unvollendet bleiben müsse, was sich die Bolschewiki vorgenommen hatten. Im Reich Stalins aber konnte nur überleben, wer sich unterwarf. Am Ende fiel auch Zeiss dem Verfolgungswahn der Machthaber zum Opfer, die in jedem Ausländer einen Feind und Saboteur sahen. Er wurde seines Amtes enthoben, 1932 musste er die Sowjetunion verlassen. Im nationalsozialistischen Deutschland aber wurden Männer wie er gebraucht. Als Professur für Hygiene an der Charité in Berlin beriet er SS und Wehrmacht in Fragen der Rassenhygiene. Als die Rote Armee im Mai 1945 nach Berlin kam, wurde Zeiss verhaftet und in die Sowjetunion verschleppt. Man verurteilte ihn zu 25 Jahren Haft, im Jahr 1949 starb er im Gefängnislazarett von Wladimir. Und so endete die Karriere des Hygienikers dort, wo sie begonnen hatte.
Aber warum rufen diese Dokumente beim Leser keine Überraschung hervor? Die Antwort ist einfach: weil wir von jenem Leben in der Sowjetunion, von dem Zeiss berichtete, schon dutzendfach gehört und gelesen haben. Aber was wissen wir schon über den Zusammenhang nationalsozialistischer Rassenhygiene und den Erfahrungen, die ihre Repräsentanten im Ausland gemacht hatten? Darüber teilt die Dokumentation leider nichts mit.
JÖRG BABEROWSKI
Wolfgang U. Eckart: Von Kommissaren und Kamelen. Heinrich Zeiss - Arzt und Kundschafter in der Sowjetunion 1921-1931. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016. 382 S., 44,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heinrich Zeiss als Hygieniker und Kundschafter während der Jahre 1921 bis 1931
Am 12. Juli 1921 wandte sich Maxim Gorki in einem Aufruf an die Weltöffentlichkeit, um auf die verheerende Hungersnot aufmerksam zu machen, die in Russland ausgebrochen war. Nur zehn Tage später veröffentlichte der Schriftsteller Gerhart Hauptmann einen bewegenden Appell, der in fast allen deutschen Tageszeitungen veröffentlicht wurde. Man solle dem bedrängten Nachbarn helfen - durch Entsendung von Ärzten und Medikamenten - und die politischen Differenzen für eine Zeit vergessen. Wenig später schon konnte Außenminister Walther Rathenau führende Vertreter der deutschen Wirtschaft davon überzeugen, dass es im Interesse Deutschlands sei, den Hungernden durch Seuchenprävention zu helfen.
Nun war das Hilfsangebot der Reichsregierung zwar großzügig, aber keineswegs altruistisch. Rathenau wollte zweifellos auch eine politische Botschaft nach Russland senden: die Bereitschaft Deutschlands, sich nach Osten zu öffnen. Und so war die Hilfsexpedition, die im September 1921 nach Moskau aufbrach, nicht nur eine medizinische, sondern auch eine politische Gesandtschaft. Ihr gehörte auch der Hygieniker Heinrich Zeiss an, der in Moskau im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes ein bakteriologisches Zentral-Laboratorium gründete. Ihm hat der Medizinhistoriker Wolfgang Eckart jetzt eine Dokumentation gewidmet. Sie enthält Aufzeichnungen und Expeditionsberichte, die Zeiss während seines zehnjährigen Aufenthaltes in der Sowjetunion zwischen 1921 und 1932 verfasste.
Zu Beginn seiner Mission arbeitete Zeiss im Auftrag des Roten Kreuzes. Er organisierte Expeditionen in Hunger- und Seuchengebiete, sammelte Informationen über die Verbreitung von Epidemien und entwickelte Impfstoffe in seinem Labor in Moskau. 1923 gelang es ihm, die Ausbreitung von Fleckfieber im Gouvernement Minsk einzudämmen und Seuchen unter Kontrolle zu bringen. Zeiss sprach nicht nur gut Russisch, er hatte auch das Vertrauen des Volkskommissars für Gesundheit, Nikolai Semaschko, der ihn 1924 dafür gewann, in sowjetische Dienste zu treten. Zwischen 1925 und 1932 arbeitete er als Hygieniker am Tarassewitsch-Institut für experimentelle Therapie und Serumkontrolle in Moskau. In dieser Funktion bereiste Zeiss die Republik der Wolgadeutschen, die Kosakendörfer und Siedlungen der kasachischen Nomaden am Ural-Fluss, inspizierte Krankenhäuser, verteilte Medikamente und behandelte die Kamelherden der Kasachen mit Impfstoffen.
Monat für Monat unterrichtete Zeiss die deutsche Botschaft in Moskau über die Erkenntnisse, die er auf seinen Reisen gewonnen hatte. Er sah die Zerstörungen, die der Bürgerkrieg in den Dörfern und Städten hinterlassen hatte, Hunger und Elend. In den Krankenhäusern, die Zeiss besuchte, starben die Patienten, weil sich niemand um sie kümmerte. Das medizinische Personal sei schlecht ausgebildet, und die hygienischen Verhältnisse spotteten jeder Beschreibung. Rückständigkeit und Unwissenheit überall, so schien es ihm.
Auf seinen Reisen wurde er auch mit der sowjetischen Nationalitätenpolitik konfrontiert. Sie helfe den Minderheiten, sich auf ihre Kultur zu besinnen und Rückständigkeit zu überwinden. Für die Wolgadeutschen sei sie ein Gewinn, weil sie nicht nur ihre Sitten und Gebräuche pflegen, sondern sich auch mit den Deutschen jenseits der sowjetischen Grenzen verbinden könnten. Aber Zeiss sah auch die zerstörerischen Folgen dieser Nationalisierung. Im Gouvernement Uralsk habe die Regierung Kosaken und Kasachen gegeneinander aufgebracht. Denn die Herren von einst seien entrechtet, die Nomaden privilegiert worden. Keinesfalls aber hätten die Nomaden davon einen Gewinn. Gleich den Indianern im Norden Amerikas seien sie zur Degeneration und Verelendung verurteilt, weil sich ihre Lebensweise mit der europäischen Zivilisation nicht versöhnen lasse.
Wie manch andere Fachleute auch, verstand sich Zeiss als Missionar im Dienst deutscher Kultur und Wissenschaft. Nicht Helfer, sondern Aufklärer wollte er sein. Man könnte auch sagen, dass Zeiss Planung, Steuerung und Entschlossenheit anbetete, aber glaubte, dass ohne Hilfe deutscher Wissenschaftler unvollendet bleiben müsse, was sich die Bolschewiki vorgenommen hatten. Im Reich Stalins aber konnte nur überleben, wer sich unterwarf. Am Ende fiel auch Zeiss dem Verfolgungswahn der Machthaber zum Opfer, die in jedem Ausländer einen Feind und Saboteur sahen. Er wurde seines Amtes enthoben, 1932 musste er die Sowjetunion verlassen. Im nationalsozialistischen Deutschland aber wurden Männer wie er gebraucht. Als Professur für Hygiene an der Charité in Berlin beriet er SS und Wehrmacht in Fragen der Rassenhygiene. Als die Rote Armee im Mai 1945 nach Berlin kam, wurde Zeiss verhaftet und in die Sowjetunion verschleppt. Man verurteilte ihn zu 25 Jahren Haft, im Jahr 1949 starb er im Gefängnislazarett von Wladimir. Und so endete die Karriere des Hygienikers dort, wo sie begonnen hatte.
Aber warum rufen diese Dokumente beim Leser keine Überraschung hervor? Die Antwort ist einfach: weil wir von jenem Leben in der Sowjetunion, von dem Zeiss berichtete, schon dutzendfach gehört und gelesen haben. Aber was wissen wir schon über den Zusammenhang nationalsozialistischer Rassenhygiene und den Erfahrungen, die ihre Repräsentanten im Ausland gemacht hatten? Darüber teilt die Dokumentation leider nichts mit.
JÖRG BABEROWSKI
Wolfgang U. Eckart: Von Kommissaren und Kamelen. Heinrich Zeiss - Arzt und Kundschafter in der Sowjetunion 1921-1931. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016. 382 S., 44,90 [Euro].
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