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1929 veröffentlichte der jiddisch-sowjetische Schriftsteller Der Nister seine letzte Sammlung symbolistischer Erzählungen, Fun mayne Giter (Von meinen Besitztümern), die zwischen 1923 und 1929 geschrieben wurden, in einer der kritischsten und instabilsten Perioden sowohl in Westeuropa als auch in der neu gegründeten Sowjetunion. Kurz danach wurde er wegen seines idiosynkratischen, symbolistischen Stils von sowjetischen Literaturkritikern scharf angegriffen, und ihm wurde für ein Jahrzehnt jede Veröffentlichungsmöglichkeit verwehrt.Das Aufeinanderprallen seiner elitären, beinahe religiösen…mehr

Produktbeschreibung
1929 veröffentlichte der jiddisch-sowjetische Schriftsteller Der Nister seine letzte Sammlung symbolistischer Erzählungen, Fun mayne Giter (Von meinen Besitztümern), die zwischen 1923 und 1929 geschrieben wurden, in einer der kritischsten und instabilsten Perioden sowohl in Westeuropa als auch in der neu gegründeten Sowjetunion. Kurz danach wurde er wegen seines idiosynkratischen, symbolistischen Stils von sowjetischen Literaturkritikern scharf angegriffen, und ihm wurde für ein Jahrzehnt jede Veröffentlichungsmöglichkeit verwehrt.Das Aufeinanderprallen seiner elitären, beinahe religiösen Auffassung von Literatur mit der alltäglichen, rauen Realität des Literaturmarktes in der jungen Sowjetunion, zeichnet das Schaffen Des Nisters in den 1920iger Jahren aus. Im Mittelpunkt seiner damals heftig kritisierten Erzählung »Unterm Zaun« setzt er sich u.a. mit diesem Thema auseinander. Nisters Erzählung »Von meinen Besitztümern« wiederum ist die Auseinandersetzung mit einer gewalttätigen,unausweichbaren Macht, die das Individuum bedroht und ihm seine nackte Existenz abspricht, und somit eine erschütternde und nicht allzu verschlüsselte Anklage gegen den sowjetischen Staat. Doch finden sich auch unerwartete Themen in dieser Sammlung von Erzählungen, wie z.B. die leichtfüßige, märchenhafte Stimmung in der »Geschichte vom Grünen Mann«, die die emphatische Sensibilität des Autors für die Natur und ihre Kreaturen offenbart. Eine andere Erzählung ist eine furiose Groteske, in der der Autor mit einer Prise scharfen Humors Vorurteile gegenüber Minderheiten entkräftet. Zum ersten Mal aus dem Jiddischen übersetzt, stellt Von meinen Besitztümern einen Höhepunkt im literarischen Schaffen des Nisters, der zweifellos einer der großen Protagonisten der jiddisch-russischen modernen Literatur ist, dar. Sein eigenartiger Stil bündelt archaische Formen der jüdischen literarischen Tradition mit den hypnotischen Rythmen der Russischen Symbolisten und einer kafkaesken Modernität.
Autorenporträt
Der Jiddisch-russische Schriftsteller Pinchas Kahanovitsch, bekannt unter seinem Pseudonym Der Nister (Jiddisch: Der Verborgene), wurde 1884 in Berditschew (Ukraine) geboren. 1907 veröffentlichte er sein erstes literarisches Werk, arbeitete in Moskau und verbrachte Teile seines unsteten Lebens Mitte der 1920er Jahre auch in Berlin und Hamburg. Im Rahmen der stalinistischen Verhaftungswellen gegen jiddische Schriftsteller ab Mitte der 1930er Jahre war Der Nister einer der letzten, der 1949 von der Geheimpolizei in den Gulag verbracht wurde, wo er 1950 starb. Bis dahin konnte er zwei Sammlungen Erzählungen (Gedacht und Fun mayne Giter) und einen Familienroman (Die Brüder Maschber) veröffentlichen. Außerdem erschienen Geschichten für Kinder (illustriert von Marc Chagall), Gedichte und Berichte, auch zum Holocaust.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Anlässlich eines nach knapp hundert Jahren nun auf Deutsch erscheinenden Erzählbandes rekapituliert Rezensentin Judith Leister noch einmal das Leben des großen sowjetjiddischen Dichters Der Nister, geboren 1884 als Pinches Kahanowitsch, dessen visionärer Schreibstil ihm nicht nur Freunde gemacht hat. Das liest Leister in Geschichten, die sie in ihrer Hermetik an Kafka erinnern und beispielsweise von "Mooswesen" handeln, die eine Prinzessin vor der Verfolgung eines anderen Herrschers beschützen sollen. Russland tritt in einer Geschichte als "gieriger Bär" auf, mit dem sozialistischen Realismus konnte sich Nister, dessen Familie zum Teil bei der Leningrader Belagerung und im Holocaust starb, nie anfreunden. Zeit, die Vorschläge des 1950 im Gulag gestorbenen Autors für eine "intellektuelle jiddische Kultur" wieder wirken zu lassen, meint die überzeugte Kritikerin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2024

Ohne zu schreiben bin ich kein Mensch mehr
Die Neuausgabe eines Klassikers nicht nur der jiddischen Literatur: "Von meinen Besitztümern" sammelt Erzählungen des Nisters

Man fühlt sich genötigt, eine Reflexion über einen der abgründigsten und stilistisch herausragendsten Literaturkünstler in jiddischer Sprache mit einem jeu d'esprit zu beginnen: Wenn es den Juden nach 1945 möglich gewesen wäre, in einer Ecke Europas ihren eigenen nationalen Kulturbetrieb aufzubauen mit Schulen, Akademien, Lehrstühlen, Verlagen, Zeitungen, Kritikern, Preisen, Ständen auf Buchmessen und dergleichen, dann würde nicht beim Erscheinen jeder jiddischen Übersetzung gesagt werden, dass man wieder einen Solitär aus dem Staub gezogen habe, denn dann gehörte die erste Garnitur der jiddischen Autoren der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zum allgemeinen Kulturgut: David Bergelson, Moyshe Kulbak, Yisroel Rabon, Yehoshue Perle, Lamed Shapiro, Chaim Grade und viele andere. Darunter Pinkhes Kahanovitsch, der sich der Nister (der Verborgene) nannte.

Dann wäre es auch um Franz Kafka weniger einsam. Denn zwischen 1910 und 1924 gab es in jenem weiten jüdischen Hinterland, dessen Existenz der Prager Kafka ahnte und dem er sich um 1912 auch ein wenig aussetzte, Autoren, die ähnlich dachten und ihm verwandt schrieben. Der originellste und einsamste unter ihnen war eben der Nister, der Kafka der jiddischen Literatur. Seine bewegenden, anspielungsreichen und darum oft rätselhaften Erzählungen über metaphysische Verlorenheit schrieb er zwischen 1907 und 1929 in Schytomyr, Kiew, Moskau und Berlin. Sie gelten schon seit Jahrzehnten unter sprachmächtigen Literaturgelehrten als Crème der jiddischen Moderne. Jetzt besteht wieder einmal die Chance, eine neue Auswahl in deutscher Sprache kennenzulernen.

Daniela Mantovan wurde 1993 an der Columbia University in New York mit einer Arbeit über den Nister promoviert, hatte aber schon 1988 im Insel-Verlag einen Band mit Übersetzungen seiner Texte vorgelegt, die in ihren Seminaren an der Universität Heidelberg entstanden waren. Die damalige Titelerzählung "Unterm Zaun" wurde unverändert in den jetzt erschienenen Band "Von meinen Besitztümern" übernommen, und die flüssigen, oft grazilen Übersetzungen der fünf anderen Erzählungen entstanden wiederum in Zusammenarbeit mit Heidelberger Studenten.

Genauigkeit der Übersetzung war 1988 das Ziel gewesen - schwierig bei einem Autor, der in Chassidismus und Kabbala ebenso gut bewandert war wie in den Schriften E. T. A. Hoffmanns und seine Erzählungen über die Nachtseiten der reinen - und das heißt beim Nister wie bei Kafka: der schreibenden - Existenz in Metaphernserien fasst und mit gelehrten Anspielungen spickt wie einen rabbinischen Witz.

Schon bei den einfachsten Sprachspielen kommt man mit Genauigkeit nicht weit. Der Titel "Unterm Zaun" ruft im Deutschen keine Assoziationen hervor. Doch des Nisters vielsprachige Leser hätten im jiddischen Titel "Unter a ployt" sofort das russische Idiom "schliatsja pod saborom" (am Zaun herumhängen) erkannt, was soviel bedeutet wie auf sexuelles Vergnügen aus sein, und genau darum geht's in der Geschichte eines intellektuellen Vaters, der einer Zirkusreiterin nachstellt und später von seinem Lehrer Medardus gerichtet wird. Und weiter: In Nisters ukrainischem Jiddisch, das das phonemische "h" verloren hatte, war "inter a ployt" gleichbedeutend mit dem standardjiddischen "hinter a ployt", also "hinterm Zaun", was wiederum bedeutet, zusammen mit Außenseitern begraben zu werden. Und genau das reflektiert die Ansicht des Nisters, was Juden und Künstler, die es wagten, Freiheit der Phantasie zu fordern, in der Sowjetunion seinerzeit wert waren. "Unter a ployt", erstmals abgedruckt 1929 in der jiddisch-sowjetischen Literaturzeitschrift "Di royte velt", war denn auch die letzte symbolistische Erzählung des Autors und nahm im Titel sein eigenes Schicksal vorweg.

Pinkhes Kahanovitsch wurde 1884 in Berdytschiw geboren und chassidisch erzogen. Sein älterer Bruder blieb dem Chassidismus treu, sein jüngerer Bruder Motl (Max Kaganovitch) wurde Bildhauer und Kunstsammler in Paris, seine Schwester Ärztin. Pinkhes versteckte sich 1905 vor den Häschern des Zaren in Schytomyr. Er legte sich das Pseudonym "Der Verborgene" zu, weil es nicht nur real auf ihn zutraf, sondern auch seine Selbstauffassung als Künstler bezeichnete: Er würde wie einer der sechsunddreißig Gerechten unerkannt, aber erlösend wirken. In einer Zeit des ideologischen Geschreis war der Nister bekannt als Mensch von zauberhafter Ruhe und Bescheidenheit.

Er arbeitete als Lehrer, begann 1907, erste Arbeiten zu veröffentlichen, heiratete 1912, bekam 1914 eine Tochter (sie verhungerte 1942 während der Belagerung von Leningrad) und zog 1917 nach Kiew, wo er sich der jüdischen Avantgarde um Bergelson anschloss; er übersetzte Hans Christian Andersen, und Marc Chagall illustrierte zwei seiner Texte für Kinder. Über Moskau und Kaunas gelangte der Nister 1921 nach Berlin. Er engagierte sich auch dort im Kreis der russisch-jüdischen Avantgarde und investierte 1922 sein karges Geld in eine zweibändige Ausgabe seiner phantastischen Erzählungen über Erfahrungen der Entgrenzung auf der Suche nach einer authentischen Existenz. Vier Jahre später ging ihm die Kraft aus, und er kehrte in die Sowjetunion zurück, die jüdische Intellektuelle mit Forschungsinstituten und Zeitschriften in jiddischer Sprache lockt. Der Nister publizierte in Kiew die Berliner Ausgabe seiner Werke und fügte dabei "Unter dem Zaun" hinzu.

Und dann war 1929 plötzlich alles zu Ende. Aus literarischer Hochachtung wurde Ächtung als Reaktionär. Der Nister rettete sich in Reportagen, um weiter schreiben zu können, und begann seinen historischen Roman "Die Familie Maschber". 1934 teilte er dem Bruder Max nach Paris mit: "Mein Buch muss ich schreiben, sonst bin ich kein Mensch mehr, sonst werde ich aus der Literatur und dem lebendigen Leben ausgelöscht." Der erste Band des großartigen Werks konnte noch 1939 in Moskau erscheinen, der zweite erst 1948 in New York. Im Februar 1949 wurde der Nister verhaftet und ins Lager Abez bei Workuta am Polarkreis verschickt. Dort starb er am 4. Juni 1950 und wurde drei Tage später "hinter a ployt" namenlos beerdigt. Seine Werke haben überlebt. Sie verdienen unsere Beachtung. SUSANNE KLINGENSTEIN

Der Nister: "Von meinen Besitztümern". Jiddische Erzählungen.

Aus dem Jiddischen von Daniela Mantovan. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2023. 260 S., br., 26,- Euro.

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