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Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Reinbek
  • Seitenzahl: 349
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 590g
  • ISBN-13: 9783498038915
  • Artikelnr.: 24914563
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.1999

Lichtung und Wahrheit
Albrecht Lehmann führt die Deutschen in den Wald und auch wieder heraus

Im Wald, da sind die Räuber, da sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht, da wohnen die deutsche Seele, die Triebtat und das Unheimliche. Wald: So heißt das dunkle Universum der Sagen und Märchen, durch das die Schlinggewächse der Wünsche und Ängste kriechen und auf dessen Lichtungen die Natur mit der Kultur zur Panflöte tanzt. Lange Zeit wollte nach Heidegger und Jünger kein Schriftsteller mehr den Waldgang wagen, kein Theoretiker sich auf den Holzweg begeben - bis vor kurzem. Bis Simon Schama kam und sein umfangreiches Kompendium von Landschaft und Gedächtnis ("Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination", Kindler) in den schicksalhaften Wäldern Polens beginnen ließ, bis Hansjörg Küster ("Geschichte des Waldes", C. H. Beck) zur Laterne des Geobotanikers griff und sich auf den langen Weg durch Kindheit und Jugend des Waldes machte. Seitdem ist der Wald wieder ein Thema, ebenso wie auch "Heimat" wieder eines ist.

Der Eindruck, dass diese Konjunktur zweier Themen nicht zufällig ist, verstärkt sich bei der Lektüre von Albrecht Lehmanns Waldbuch. Wie die Heimat erscheint hier auch der Wald als eine Lebensform, ein nicht besonders klarer Bewusstseinszustand, ein mehr erfühlter als gekannter Ort. Aber auch als ein raunendes und murmelndes Gehölz: Lehmanns Wald, kein Zweifel, ist ein Diskursraum. Der Volkskundler sucht nicht die Natur an sich, sondern den Forst der Kulturmuster. Dies Vorhaben ist kühner, als es den Anschein hat. Denn so einfach es ist, die Waldnutzung mittelalterlicher Bauern zu beschreiben oder die Ikonographie des romantischen Waldes zu dokumentieren (weil es dafür bewährte Kochrezepte gibt), so schwierig ist es, das "Waldbewusstsein" der Zeitgenossen zu erfassen.

Zu diesem Zweck hat der Erzählforscher Lehmann die verschiedensten "Datenbänke" angezapft, Befragungsprotokolle und literarische Funde, Erzählungen, Statistiken, ökologische Traktate. Er hat mit Wanderern gesprochen, Waldarbeitern und Pilzsammlern auf die Finger gesehen. Er hat den Stimmen des Waldes gelauscht und Liebende sich im Halbdunkel verlieren sehen. Irgendwann wusste Lehmann alles, was es über die praktische und imaginäre Nutzung des Waldes zu wissen gibt. Dann hat er historische Vergleiche angestellt, sein Material kritisch analysiert und schließlich mit großem Geschick neu verknüpft. Das Resultat, das der Leser am Ende dankbar aus der Hand legt, ist ein stilistisch unkapriziöses und von jedem theoretischen Bombast freies Buch: Das führt in den Wald hinein, aber es führt auch wieder heraus.

Die Wurzeln, über die der Volkskundler bei seinem Waldgang stolpert, stammen nicht allesamt von großen Bäumen, darunter sind auch die seines eigenen Faches. Einer der wichtigsten Vorläufer der heutigen empirischen Kulturwissenschaften war zugleich, so Lehmann, "einflußreichster Propagandist der politisch-nationalistischen Waldideologie des 19. Jahrhunderts": Wilhelm Heinrich Riehl. Der hielt die Wälder für geheime Kraftquellen der deutschen Nation. "Das deutsche Volk", so erfuhr man bei ihm, "bedarf des Waldes, wie der Mensch des Weines bedarf." Zugleich erwies sich Riehl in seiner Kritik an der unbeschränkten Ausbeutung vom Wald und von anderen Landschaften als Vorläufer von Ludwig Klages - und beide gemeinsam grüßen als Paten der heutigen Landschaftsschützer. In diesem Zusammenhang sei auch eine andere Trouvaille Lehmanns erwähnt: Der Begriff der "Nachhaltigkeit", der in den letzten Jahren globale Karriere gemacht hat, entstammt der hiesigen Forstwirtschaft, wo er seit dem achtzehnten Jahrhundert daran erinnert, dass der Holzeinschlag nicht größer sein sollte als die nachwachsenden Bestände.

Für die meisten der von Lehmann Befragten stellt der Wald immer noch - mit Thomas Bernhard - ein "Lebensstichwort" dar. Das mag sich mit der Ästhetik des Waldes (seiner Schönheit und Erhabenheit, seiner Stille, seinem Duft) verbinden oder mit den Stimmungen, die er vermittelt (Friede oder Gefahr, Geborgenheit oder Unheimlichkeit). Es kann sich an Erinnerungen aus der Kindheit heften oder für die Suche nach dem Abenteuer jenseits des städtischen Alltags stehen - nach wie vor verbinden die meisten Zeitgenossen mit dem Bild des Waldes etwas für die eigene Person sehr Wichtiges. So als wollten sie immer noch die Wald-und-Wein-Gleichung des humanistischen Önologen Riehl bestätigen, messen sie dem Wald existentiellen Wert bei. Diese Bedeutung mag sich, wie Lehmann gegen Ende seines Buchs erwägt, im Lauf der kommenden Generationen abschwächen; ganz verlieren wird sie sich so bald wohl nicht. Denn wie das Meer ist auch der Wald, kulturwissenschaftlich betrachtet, ein Reich der langen Dauer. Und kulturelle Bedeutung ist ein krummes, aber hartes Holz.

Nicht weniger triftig ist Lehmanns Beobachtung, dass praktisch kein kultureller Tatbestand in Deutschland (die Rede ist immer noch von der Semantik) von den Verwerfungen durch Nationalsozialismus und Krieg verschont geblieben ist. Das gilt auch, wie der Volkskundler an den politischen Sagen von angeblichen "Hakenkreuzwäldern" zeigt, für die Wahrnehmung von Landschaft und Natur, und deshalb stimmt er Hans Blumenberg zu, der den Deutschen bescheinigte, sie brächten es fertig, die Vergangenheit nicht durch Vergessen zu erledigen, sondern durch Erweckung.

Für eine andere "politische Nutzung" des Waldes, in der zweiten Jahrhunderthälfte sicherlich die wichtigste, steht der Begriff des "Waldsterbens". Mag sein, dass dieser Begriff für eine nationale Sorge, deren Name zum internationalen Exportschlager geworden ist und so viel Tinte zum Fließen brachte, auch Lehmanns Reflexion und Forschung in Gang gesetzt hat. Zumindest verdanken wir ihm das vielleicht interessanteste Kapitel dieses Buches, das sich - durchweg skeptisch und selbstkritisch ob seiner kulturwissenschaftlichen Beschränkung - mit der Geschichte einer kollektiven Erregung und den stereotypen Argumentationsmustern der Massenmedien auseinander setzt. Hier sieht man einen konservativen Aufklärer am Werk, der wohl zu unterscheiden weiß zwischen den angsterfüllten Stimmen seiner Zeitgenossen und den Selbstgewissheiten einer journalistischen Apokalyptik, die seit zwanzig Jahren dieselben Tropen befährt.

An einer Stelle seines Buches - der Abschnitt trägt den Titel "Abenteuer" - beschreibt Lehmann die Kategorien eines Waldbewusstseins, das seine Erregungsdaten nach der Größe der beobachteten Tiere sortiert. "Die Grenze", schreibt er, "vom Alltag zum ,kleinen Abenteuer' verläuft in diesem Waldbewußtsein ,jenseits der Hasenlinie'." Wollte man zusammenfassend den Wert von Lehmanns Buch würdigen, so ließe sich wohl nichts Besseres davon sagen, als dass es jenseits der intellektuellen Hasenlinie angesiedelt ist.

ULRICH RAULFF

Albrecht Lehmann: "Von Menschen und Bäumen". Die Deutschen und ihr Wald. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999. 350 S., Abb., geb., 48,-DM.

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