Theodor Mommsen ist eine der Zentralfiguren althistorischer Wissenschaftsgeschichte. Für lange Zeit stand jede Beschäftigung mit Rom in seinem Schatten. 1912 veröffentlichte der junge Schweizer Matthias Gelzer jedoch eine Habilitationsschrift, in der er sich im Namen einer fortschrittlichen "Gesellschaftshistorie" radikal vom "Staatsrechtler" Mommsen absetzte. Gelzers aufmüpfige Polemik bot späteren Forschern wiederum einen willkommenen Anlass, um sich vom gefürchteten Übervater loszusagen. Mit dem Verweis auf Gelzer konnte man sich auf die progressive Seite stellen und Mommsen zu den Akten legen. Simon Strauß stellt dieses Vorgehen nun entschieden in Frage und argumentiert, dass in Mommsens Werk - gerade auch in seinem 1871-1888 erschienenen "Römischen Staatsrecht" - schon viele gesellschaftsgeschichtliche Aspekte behandelt werden. Gelzers Leistungen lassen sich in diesem Licht betrachtet durchaus relativieren. Strauß weckt Zweifel an der Selbstdeutung der althistorischen Forschungsgeschichte und bewertet die Stellung Theodor Mommsens neu.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2017SIMON STRAUSS, Redakteur im Feuilleton dieser Zeitung, hat zum zweihundertsten Geburtstag von Theodor Mommsen ein Buch über die wissenschaftsgeschichtliche Stellung und Aktualität des berühmten Althistorikers geschrieben. Anders als gemeinhin angenommen, war Mommsen nicht nur an den Merkmalen des römischen Staates, sondern auch schon an den Besonderheiten der Gesellschaft Roms interessiert. Von protosoziologischen Fragestellungen nach Schichtung und Rang geleitet, erkannte er in Theater und Senat zentrale Räume sozialer Distinktion. Sein späterer Widersacher Matthias Gelzer verengte mit seiner Analyse politischer Klientelverhältnisse Mommsens Ansatz eher als ihn zu erweitern. Manche Heroen bleiben. Auch wenn die Zeit sie zu überholen meint. (Simon Strauß: "Von Mommsen zu Gelzer?" Die Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft in "Staatsrecht" und "Nobilität". Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017. 262 S., geb., 56.- [Euro])
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2017Zeitgenosse Professor
Theodor Mommsen zum 200. Geburtstag
in einer Anthologie und einer begriffsgeschichtlichen Aufnahme
VON GUSTAV SEIBT
Die Zeiten liegen noch nicht lange zurück, in denen ambitionierte Gymnasiasten ihre Lateinlehrer mit Zitaten aus Theodor Mommsens „Römischer Geschichte“ herausforderten. Cicero? „Ohne Einsicht, Ansicht und Absicht.“ Caesar? „Auch er hatte von dem Becher des Modelebens den Schaum wie die Hefen gekostet, hatte rezitiert und deklamiert, auf dem Faulbett Literatur getrieben und Verse gemacht, Liebeshändel jeder Gattung (!) abgespielt und sich einweihen lassen in alle Rasier-, Frisier- und Manschettenmysterien der damaligen Toilettenweisheit.“ Wer wäre da nicht gern miteingeweiht worden, auf dem Faulbett und bei Liebeshändeln jeder Gattung!
Vor allem war das ein toller langer Satz. Wer nicht nur schöne Stellen las, sondern die ganzen Bände (noch in den Siebziger Jahren gab es eine Taschenbuchkassette davon), der lernte nicht einfach Römer kennen, mit Patriziern, Plebejern, Consuln und Senatoren, sondern auch neuzeitliche Menschen: „Junker“, „Kapitalisten“, „Bürgermeister“ in einem „Gemeinderat“, ja „Ingenieure“ und „Generale“ – alles Wörter, die im Lateinwörterbuch nicht vorkamen, ebenso wenig wie die „Primadonnen“ und „Kurtisanen“, die sich beim Untergang der Republik bemerkbar machten.
Über diesen ebenso rhetorischen wie journalistischen Stil wird seit dem ersten Erscheinen der „Römischen Geschichte“ vor 160 Jahren debattiert. Nietzsche nannte die Beziehung auf „klägliche moderne Parteistandpunkte“ „ekelhaft“, Richard Wagner bestritt die Analogien, die Mommsens Sprache suggerierte: „Bei uns ist es ein Feuilletonist, dort ist es Cicero.“
Es gibt andere Urteile. Joachim Fest erkannte den „heißen Atem“ gegenwärtiger Leidenschaft: „Die Vergangenheit war, wie er sie sah, vom gleichen Stoff wie die Gegenwart, nur Kostüm und Kulisse hatten gewechselt, eine Art Katalaunisches Feld, auf dem die gleichen Widersacher ohne Ende aufeinandertrafen, er selber mitten unter ihnen, streitend, leidend, parteinehmend und mitunter sogar den Eindruck erweckend, er wolle, was als historisches Faktum doch unabänderlich war, zuletzt noch wenden.“
Schöner kann man nicht sagen, warum Mommsen eine so mitreißende Lektüre bleibt, und der Vergleich mit den Kämpfen der Toten über dem spätantiken Völkerschlachtfeld trifft das Pathos dieses Autors genau. Davon zehrte vor einem Vierteljahrhundert noch Heiner Müllers schwerblütiger Canto „Mommsens Block“ über den „Genossen Professor“, der es nicht über sich brachte, Caesars Tod darzustellen und der vor der römischen Kaiserzeit so zurückschreckte wie Müller vor dem Ende der Geschichte. Es gab Mommsen-Abende mit Müller, Alexander Demandt und Friedrich Kittler in der Kantine des Berliner Ensembles, die den Untergang des Sowjetunion mit der „Unschreibbarkeit von Imperien“ zu fassen versuchten.
Doch ist das nur die eine Hälfte von Mommsens Riesenwerk, dessen wissenschaftlich haltbarere Teile aus den Tausenden Seiten seines „Römischen Staatsrechts“, aus Inschriftensammlungen und Quelleneditionen bestehen, aus Hunderten Beiträgen zu jener arbeitsteiligen Großforschung, die er in Deutschland erst begründete. Solche Forschungsleistungen erbringt man nicht mit Leitartikelbenzin. Hier aber lautet das Urteil über Mommsens Modernität oft ganz anders: Es fehle ihm an sozialgeschichtlichem Zugriff, er beschreibe die römische Gesellschaft mit statischen Rechtsbegriffen, vor alle fehle ihm der neuzeitliche, erst von Hegel entwickelte Begriff von „Gesellschaft“ als dem Gegenüber des „Staats“, aber auch als der wahren Wirklichkeit der Geschichte.
Diese Sicht revidiert nun auf beispiellos gründliche Weise die Dissertation von Simon Strauß, die vor allem Mommsens „Römisches Staatsrecht“ auf den sozialgeschichtlichen Gehalt durchleuchtet. Strauß zeigt , wie die antiken Begriffe von Gesellschaft Mommsens Blick sachgemäß leiten. Der antike „Staat“ war kein Gegenüber der Gesellschaft, kein Anstaltsstaat, sondern er war die verfasste Gemeinschaft der politikfähigen Familienväter, die bei sich zu Hause unumschränkt herrschten.
„Civitas“, „societas civilis“, „quirites“, „Patrizier“, „Klienten“, „Plebejer“ – das waren gesellschaftliche und politische Begriffe in einem. Ständischer Rang war nicht einfach eine Klassenlage, sondern eine Herkunftsbestimmung, das Kapital war nicht Besitz, sondern Ehre. Diese Ordnung der Gesellschaft visualisierte sich in Face-to-face-Zusammenhängen, auf Sichtweite, etwa in den Sitzordnungen der Theater.
All das systematisierte Mommsen mit unüberholter Akribie. Vor allem aber zeigt sein Staatsbegriff eine flexible Fülle von Aspekten, die der antiken Wirklichkeit näher ist als die moderne Dichotomie von Verfassungsstaat und ökonomisch definierter „bürgerlicher“ Gesellschaft. „Staat“ ist, so zeigt es Strauß, bei Mommsen dreierlei: ein „Reich“, ein von heterogen zusammengesetzter Bevölkerung bewohnter Großraum, das von Rom beherrschte Imperium; zweitens ein bürgerrechtlich definierter Personenverband, der römische „populus“; drittens ist er die Summe seiner Handlungsträger, die den Willen dieses Volkes artikulieren und umsetzen, also die Magistratur. Die drei „Sinndimensionen“ entsprechen, so Strauß, der wenig später entwickelten „Drei-Elemente-Lehre“ von Georg Jellinek, die den Staat aus den drei Komponenten Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt zusammengesetzt sah.
Diese begrifflichen Befunde und ihre Anwendung auf eine unermessliche Empirie zeigen, dass Theodor Mommsen nicht der aktualisierende Rhetoriker blieb, als der er mit seiner „Römischen Geschichte“ populär wurde. Er wurde zu einem Historiker, der der Begriffssprache seiner Quellen und damit der von ihnen erfassten Lebenswirklichkeit treuer blieb als moderne Sozialgeschichte, die von „Gesellschaft“, „Schichten“ oder „Klassen“ redet. Und so kann Strauß in einem zweiten Anlauf auch zeigen, dass Matthias Gelzers ein Jahrzehnt nach Mommsens Tod erschienenes Standardwerk zur römischen Nobilität dessen „Staatsrecht“ keineswegs überholt, sondern bestenfalls ergänzt und umschreibt.
Diese Klarstellung wird nun vor allem in der Fachwelt auf Interesse stoßen. Und so mag man es bedauern, dass die Doktorväter von Simon Strauß diesen nicht ermunterten, noch eingehender auf das Widerspiel von konservativer Staatsbegrifflichkeit und rhetorisch-erzählerischer Aktualisierung bei Mommsen einzugehen. Denn schon die „Römische Geschichte“ macht ja trotz ihrer feuilletonistischen Außenseite klar, dass in Rom Verfassungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte so gut wie zusammenfallen. Es ist daher eine kluge Entscheidung der jetzt zum 200. Geburtstag erschienenen Anthologie Wilfried Nippels, den Übergang von der frühen Königsherrschaft zur Republik unmittelbar neben die Errichtung der neuen Monarchie durch Caesar zu stellen.
Damit wird der große verfassungsgeschichtliche Bogen der „Römischen Geschichte“ auf engem Raum sichtbar. Wer Mommsen-Anfänger ist, findet hier dessen Lebenswerk in einer Nussschale. Nippel stellt zum ersten Mal seit Jahrzehnten auch einen Querschnitt aus Mommsens politischer Publizistik und aus seinen öffentlichen Reden zusammen. Der kernige Liberale, den die Nachwelt vor allem aus seiner berühmten Testamentsklausel („Ich wünschte ein Bürger zu sein“) in Erinnerung behält, war tagespolitisch oft ein Irrlicht. Vor ein paar Jahren hat Alexander Demandt Mommsens tagespolitische Stellungnahmen einmal chronologisch aufgeschrieben – die Wirkung des Durcheinanders ist erschütternd. Nippel bemerkt kühl, dass Mommsen seine Urteile oft „ohne ausreichende Sachkenntnis fällte“.
Theodor Mommsens größte Stunde blieb der Kampf gegen die Zumutungen, mit denen sein Kollege Heinrich von Treitschke sich 1879 an die deutschen Juden wandte. „Auch ein Wort über unser Judentum“ bleibt ein klassischer Text mit divinatorischen Ausblicken. Denn Mommsen erkannte sofort die Weiterungen, die sich aus Treitschkes Appellen zur Assimilation ergeben mussten – wenn Gesetzestreue nicht ausreichte, dann war Bürgerschaft „zweiter Klasse“, ja ein „Bürgerkrieg“ nicht mehr auszuschließen.
Man kann diese glasklaren Seiten nur mit angehaltenem Atem lesen. Als Patrick Bahners, wie heute auch Strauß Feuilleton-Redakteur der FAZ, 2012 die Sarrazin-Debatte in seinem Buch „Die Panikmacher“ durchleuchtete, konnte er auf passgenaue Sätze aus Mommsens Treitschke-Polemik zurückgreifen. So ist es eine fast schmerzliche Ironie, wenn Simon Strauß aufzeigt, dass Mommsens Begriff von Gesellschaft sich mit einer frühen Polemik Treitschkes gegen „die Lehre der Trennung von Staat und Gesellschaft“ überschneidet.
Theodor Mommsen: Wenn Toren aus der Geschichte falsche Schlüsse ziehen. Ein Lesebuch, herausgegeben von Wilfried Nippel. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2017. 350 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Simon Strauß: Von Mommsen zu Gelzer? Die Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft in „Staatsrecht“ und „Nobilität“. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017. 262 Seiten, 57 Euro.
Sein „Römisches Staatsrecht“
gehört zu den haltbarsten
Seiten seines Werks
Mommsens größte Stunde blieb
sein Kampf gegen die Judenschrift
seines Kollegen Treitschke
Er schrieb von Plebejern und Senatoren in seiner „Römischen Geschichte“, aber auch von Kapitalisten und Kurtisanen: Theodor Mommsen, auf einem Gemälde von Ludwig Knaus, 1881.
Foto: Nationalgalerie Berlin
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Theodor Mommsen zum 200. Geburtstag
in einer Anthologie und einer begriffsgeschichtlichen Aufnahme
VON GUSTAV SEIBT
Die Zeiten liegen noch nicht lange zurück, in denen ambitionierte Gymnasiasten ihre Lateinlehrer mit Zitaten aus Theodor Mommsens „Römischer Geschichte“ herausforderten. Cicero? „Ohne Einsicht, Ansicht und Absicht.“ Caesar? „Auch er hatte von dem Becher des Modelebens den Schaum wie die Hefen gekostet, hatte rezitiert und deklamiert, auf dem Faulbett Literatur getrieben und Verse gemacht, Liebeshändel jeder Gattung (!) abgespielt und sich einweihen lassen in alle Rasier-, Frisier- und Manschettenmysterien der damaligen Toilettenweisheit.“ Wer wäre da nicht gern miteingeweiht worden, auf dem Faulbett und bei Liebeshändeln jeder Gattung!
Vor allem war das ein toller langer Satz. Wer nicht nur schöne Stellen las, sondern die ganzen Bände (noch in den Siebziger Jahren gab es eine Taschenbuchkassette davon), der lernte nicht einfach Römer kennen, mit Patriziern, Plebejern, Consuln und Senatoren, sondern auch neuzeitliche Menschen: „Junker“, „Kapitalisten“, „Bürgermeister“ in einem „Gemeinderat“, ja „Ingenieure“ und „Generale“ – alles Wörter, die im Lateinwörterbuch nicht vorkamen, ebenso wenig wie die „Primadonnen“ und „Kurtisanen“, die sich beim Untergang der Republik bemerkbar machten.
Über diesen ebenso rhetorischen wie journalistischen Stil wird seit dem ersten Erscheinen der „Römischen Geschichte“ vor 160 Jahren debattiert. Nietzsche nannte die Beziehung auf „klägliche moderne Parteistandpunkte“ „ekelhaft“, Richard Wagner bestritt die Analogien, die Mommsens Sprache suggerierte: „Bei uns ist es ein Feuilletonist, dort ist es Cicero.“
Es gibt andere Urteile. Joachim Fest erkannte den „heißen Atem“ gegenwärtiger Leidenschaft: „Die Vergangenheit war, wie er sie sah, vom gleichen Stoff wie die Gegenwart, nur Kostüm und Kulisse hatten gewechselt, eine Art Katalaunisches Feld, auf dem die gleichen Widersacher ohne Ende aufeinandertrafen, er selber mitten unter ihnen, streitend, leidend, parteinehmend und mitunter sogar den Eindruck erweckend, er wolle, was als historisches Faktum doch unabänderlich war, zuletzt noch wenden.“
Schöner kann man nicht sagen, warum Mommsen eine so mitreißende Lektüre bleibt, und der Vergleich mit den Kämpfen der Toten über dem spätantiken Völkerschlachtfeld trifft das Pathos dieses Autors genau. Davon zehrte vor einem Vierteljahrhundert noch Heiner Müllers schwerblütiger Canto „Mommsens Block“ über den „Genossen Professor“, der es nicht über sich brachte, Caesars Tod darzustellen und der vor der römischen Kaiserzeit so zurückschreckte wie Müller vor dem Ende der Geschichte. Es gab Mommsen-Abende mit Müller, Alexander Demandt und Friedrich Kittler in der Kantine des Berliner Ensembles, die den Untergang des Sowjetunion mit der „Unschreibbarkeit von Imperien“ zu fassen versuchten.
Doch ist das nur die eine Hälfte von Mommsens Riesenwerk, dessen wissenschaftlich haltbarere Teile aus den Tausenden Seiten seines „Römischen Staatsrechts“, aus Inschriftensammlungen und Quelleneditionen bestehen, aus Hunderten Beiträgen zu jener arbeitsteiligen Großforschung, die er in Deutschland erst begründete. Solche Forschungsleistungen erbringt man nicht mit Leitartikelbenzin. Hier aber lautet das Urteil über Mommsens Modernität oft ganz anders: Es fehle ihm an sozialgeschichtlichem Zugriff, er beschreibe die römische Gesellschaft mit statischen Rechtsbegriffen, vor alle fehle ihm der neuzeitliche, erst von Hegel entwickelte Begriff von „Gesellschaft“ als dem Gegenüber des „Staats“, aber auch als der wahren Wirklichkeit der Geschichte.
Diese Sicht revidiert nun auf beispiellos gründliche Weise die Dissertation von Simon Strauß, die vor allem Mommsens „Römisches Staatsrecht“ auf den sozialgeschichtlichen Gehalt durchleuchtet. Strauß zeigt , wie die antiken Begriffe von Gesellschaft Mommsens Blick sachgemäß leiten. Der antike „Staat“ war kein Gegenüber der Gesellschaft, kein Anstaltsstaat, sondern er war die verfasste Gemeinschaft der politikfähigen Familienväter, die bei sich zu Hause unumschränkt herrschten.
„Civitas“, „societas civilis“, „quirites“, „Patrizier“, „Klienten“, „Plebejer“ – das waren gesellschaftliche und politische Begriffe in einem. Ständischer Rang war nicht einfach eine Klassenlage, sondern eine Herkunftsbestimmung, das Kapital war nicht Besitz, sondern Ehre. Diese Ordnung der Gesellschaft visualisierte sich in Face-to-face-Zusammenhängen, auf Sichtweite, etwa in den Sitzordnungen der Theater.
All das systematisierte Mommsen mit unüberholter Akribie. Vor allem aber zeigt sein Staatsbegriff eine flexible Fülle von Aspekten, die der antiken Wirklichkeit näher ist als die moderne Dichotomie von Verfassungsstaat und ökonomisch definierter „bürgerlicher“ Gesellschaft. „Staat“ ist, so zeigt es Strauß, bei Mommsen dreierlei: ein „Reich“, ein von heterogen zusammengesetzter Bevölkerung bewohnter Großraum, das von Rom beherrschte Imperium; zweitens ein bürgerrechtlich definierter Personenverband, der römische „populus“; drittens ist er die Summe seiner Handlungsträger, die den Willen dieses Volkes artikulieren und umsetzen, also die Magistratur. Die drei „Sinndimensionen“ entsprechen, so Strauß, der wenig später entwickelten „Drei-Elemente-Lehre“ von Georg Jellinek, die den Staat aus den drei Komponenten Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt zusammengesetzt sah.
Diese begrifflichen Befunde und ihre Anwendung auf eine unermessliche Empirie zeigen, dass Theodor Mommsen nicht der aktualisierende Rhetoriker blieb, als der er mit seiner „Römischen Geschichte“ populär wurde. Er wurde zu einem Historiker, der der Begriffssprache seiner Quellen und damit der von ihnen erfassten Lebenswirklichkeit treuer blieb als moderne Sozialgeschichte, die von „Gesellschaft“, „Schichten“ oder „Klassen“ redet. Und so kann Strauß in einem zweiten Anlauf auch zeigen, dass Matthias Gelzers ein Jahrzehnt nach Mommsens Tod erschienenes Standardwerk zur römischen Nobilität dessen „Staatsrecht“ keineswegs überholt, sondern bestenfalls ergänzt und umschreibt.
Diese Klarstellung wird nun vor allem in der Fachwelt auf Interesse stoßen. Und so mag man es bedauern, dass die Doktorväter von Simon Strauß diesen nicht ermunterten, noch eingehender auf das Widerspiel von konservativer Staatsbegrifflichkeit und rhetorisch-erzählerischer Aktualisierung bei Mommsen einzugehen. Denn schon die „Römische Geschichte“ macht ja trotz ihrer feuilletonistischen Außenseite klar, dass in Rom Verfassungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte so gut wie zusammenfallen. Es ist daher eine kluge Entscheidung der jetzt zum 200. Geburtstag erschienenen Anthologie Wilfried Nippels, den Übergang von der frühen Königsherrschaft zur Republik unmittelbar neben die Errichtung der neuen Monarchie durch Caesar zu stellen.
Damit wird der große verfassungsgeschichtliche Bogen der „Römischen Geschichte“ auf engem Raum sichtbar. Wer Mommsen-Anfänger ist, findet hier dessen Lebenswerk in einer Nussschale. Nippel stellt zum ersten Mal seit Jahrzehnten auch einen Querschnitt aus Mommsens politischer Publizistik und aus seinen öffentlichen Reden zusammen. Der kernige Liberale, den die Nachwelt vor allem aus seiner berühmten Testamentsklausel („Ich wünschte ein Bürger zu sein“) in Erinnerung behält, war tagespolitisch oft ein Irrlicht. Vor ein paar Jahren hat Alexander Demandt Mommsens tagespolitische Stellungnahmen einmal chronologisch aufgeschrieben – die Wirkung des Durcheinanders ist erschütternd. Nippel bemerkt kühl, dass Mommsen seine Urteile oft „ohne ausreichende Sachkenntnis fällte“.
Theodor Mommsens größte Stunde blieb der Kampf gegen die Zumutungen, mit denen sein Kollege Heinrich von Treitschke sich 1879 an die deutschen Juden wandte. „Auch ein Wort über unser Judentum“ bleibt ein klassischer Text mit divinatorischen Ausblicken. Denn Mommsen erkannte sofort die Weiterungen, die sich aus Treitschkes Appellen zur Assimilation ergeben mussten – wenn Gesetzestreue nicht ausreichte, dann war Bürgerschaft „zweiter Klasse“, ja ein „Bürgerkrieg“ nicht mehr auszuschließen.
Man kann diese glasklaren Seiten nur mit angehaltenem Atem lesen. Als Patrick Bahners, wie heute auch Strauß Feuilleton-Redakteur der FAZ, 2012 die Sarrazin-Debatte in seinem Buch „Die Panikmacher“ durchleuchtete, konnte er auf passgenaue Sätze aus Mommsens Treitschke-Polemik zurückgreifen. So ist es eine fast schmerzliche Ironie, wenn Simon Strauß aufzeigt, dass Mommsens Begriff von Gesellschaft sich mit einer frühen Polemik Treitschkes gegen „die Lehre der Trennung von Staat und Gesellschaft“ überschneidet.
Theodor Mommsen: Wenn Toren aus der Geschichte falsche Schlüsse ziehen. Ein Lesebuch, herausgegeben von Wilfried Nippel. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2017. 350 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Simon Strauß: Von Mommsen zu Gelzer? Die Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft in „Staatsrecht“ und „Nobilität“. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017. 262 Seiten, 57 Euro.
Sein „Römisches Staatsrecht“
gehört zu den haltbarsten
Seiten seines Werks
Mommsens größte Stunde blieb
sein Kampf gegen die Judenschrift
seines Kollegen Treitschke
Er schrieb von Plebejern und Senatoren in seiner „Römischen Geschichte“, aber auch von Kapitalisten und Kurtisanen: Theodor Mommsen, auf einem Gemälde von Ludwig Knaus, 1881.
Foto: Nationalgalerie Berlin
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