Der Band versammelt zwei bisher unveröffentlichte Vorträge von Claude Lévi-Strauss, die im Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert gehalten wurden: der erste 1937, der zweite 1992, beide haben Montaigne zum Gegenstand. Sie lassen den zentralen Platz erkennen, den Montaigne im Denken von Lévi-Strauss einnimmt, und eröffnen damit eine neue Perspektive auf das Werk des großen französischen Anthropologen. Im Zeichen Montaignes, seinem lebenslangen Begleiter, wird ihm die Ethnologie zu einer revolutionären Wissenschaft.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.05.2018Neue Taschenbücher
Dialog zweier moderner Denker –
Claude Lévi-Strauss und Montaigne
Offenbar hat sich Claude Lévi-Strauss zeitlebens für den Renaissance-Denker Montaigne interessiert und diverse Berührungspunkte gefunden: So beschäftigte beide die Urbevölkerung Brasiliens, oder wie eine Gesellschaft sich selbst wahrnimmt. Lévi-Strauss fuhr zu fernen, „wilden“ Zivilisationen und forschte dort, Montaigne verließ sich, statt auf Bücher, lieber auf Personen, die Brasilien gesehen hatten. 1937 referierte Lévi-Strauss vor Gewerkschaftern über das, was Anthropologie oder Ethnografie überhaupt ist, und was das „Revolutionäre“ an dieser damals jungen Wissenschaft sei: dass nämlich die Entdeckung fremder Welten die eigene infrage stellt. Der griechische Skeptizismus sei eine Folge von Alexanders Eroberungen. Montaignes kritische Betrachtungen seiner Zeit folgten der Entdeckung Amerikas. 1992, am Ende eines Forscherlebens von weltweiter Wirkung, blickt Lévi-Strauss auf den Aufklärungsmythos vom Edlen Wilden und den Gesellschaftsvertrag von Rousseau und vermutet, dass Montaigne über Rousseau sogar mitgewirkt habe an der Französischen Revolution.
Er greift eher auf treffende Bilder zurück, statt akademisch zu argumentieren. Wertende Klassifizierung wehrt er ab mit Hinweis auf die Entwicklung der Auster, älter als der Mensch: „Eine heutige Auster unterscheidet sich von der tertiären Auster ebenso sehr wie wir vom primitiven Lebewesen.“ Der Terminus „primitiv“ führe zu falschen Schlüssen. Er kommt en passant auf die Zerstörungen durch „westliche“ Händler und Globalisierer, wenn sie nur einen Teil einer bestehenden Ordnung wegnehmen und damit, unbeabsichtigt, alles zum Einsturz bringen.
Aktuell wird es, wenn er veranschaulicht, wie Gesellschaften untergehen, die sich abschotten, wie reflektierte Weltoffenheit die Basis von Hochkultur sei, welches Bewusstsein eine Gesellschaft haben müsse zum Bestehen, und wie sich eine Zivilisation durch Austausch mit Fremdem erst entwickle. Das alles erlangt so für den heutigen Alltagsdiskurs unerwartet Bedeutung. RUDOLF VON BITTER
Claude Lévi-Strauss: Von Montaigne zu Montaigne. Hrsg. v. Emmanuel Désveaux. A.d. Franz. von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 96 S., 16 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dialog zweier moderner Denker –
Claude Lévi-Strauss und Montaigne
Offenbar hat sich Claude Lévi-Strauss zeitlebens für den Renaissance-Denker Montaigne interessiert und diverse Berührungspunkte gefunden: So beschäftigte beide die Urbevölkerung Brasiliens, oder wie eine Gesellschaft sich selbst wahrnimmt. Lévi-Strauss fuhr zu fernen, „wilden“ Zivilisationen und forschte dort, Montaigne verließ sich, statt auf Bücher, lieber auf Personen, die Brasilien gesehen hatten. 1937 referierte Lévi-Strauss vor Gewerkschaftern über das, was Anthropologie oder Ethnografie überhaupt ist, und was das „Revolutionäre“ an dieser damals jungen Wissenschaft sei: dass nämlich die Entdeckung fremder Welten die eigene infrage stellt. Der griechische Skeptizismus sei eine Folge von Alexanders Eroberungen. Montaignes kritische Betrachtungen seiner Zeit folgten der Entdeckung Amerikas. 1992, am Ende eines Forscherlebens von weltweiter Wirkung, blickt Lévi-Strauss auf den Aufklärungsmythos vom Edlen Wilden und den Gesellschaftsvertrag von Rousseau und vermutet, dass Montaigne über Rousseau sogar mitgewirkt habe an der Französischen Revolution.
Er greift eher auf treffende Bilder zurück, statt akademisch zu argumentieren. Wertende Klassifizierung wehrt er ab mit Hinweis auf die Entwicklung der Auster, älter als der Mensch: „Eine heutige Auster unterscheidet sich von der tertiären Auster ebenso sehr wie wir vom primitiven Lebewesen.“ Der Terminus „primitiv“ führe zu falschen Schlüssen. Er kommt en passant auf die Zerstörungen durch „westliche“ Händler und Globalisierer, wenn sie nur einen Teil einer bestehenden Ordnung wegnehmen und damit, unbeabsichtigt, alles zum Einsturz bringen.
Aktuell wird es, wenn er veranschaulicht, wie Gesellschaften untergehen, die sich abschotten, wie reflektierte Weltoffenheit die Basis von Hochkultur sei, welches Bewusstsein eine Gesellschaft haben müsse zum Bestehen, und wie sich eine Zivilisation durch Austausch mit Fremdem erst entwickle. Das alles erlangt so für den heutigen Alltagsdiskurs unerwartet Bedeutung. RUDOLF VON BITTER
Claude Lévi-Strauss: Von Montaigne zu Montaigne. Hrsg. v. Emmanuel Désveaux. A.d. Franz. von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 96 S., 16 Euro
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2018Die Anfänge des wilden Denkens
Ende Januar 1937 lädt der linke französische Gewerkschaftsbund CGT, eine der Säulen der wenig Monate zuvor angetretenen Volksfrontregierung, zu einem Vortrag in sein Pariser Arbeiterbildungszentrum. Es spricht ein junger Akademiker, bis vor kurzem sozialistischer Aktivist, seit zwei Jahren allerdings Professor für Soziologie an der neugegründeten Universität von São Paulo. Seine erste ausgedehnte Feldforschung, eine Expedition zu Indianern des brasilianischen Matto Grosso, hat er gerade erst hinter sich.
Der Titel des Vortrags, den der knapp dreißigjährige Claude Lévi-Strauss hält, lautet: "Eine revolutionäre Wissenschaft: die Ethnographie". Dieser revolutionäre Charakter hängt für den ethnographischen Novizen erst einmal daran, dass die proto-ethnologischen Berichte von den "Wilden" und fremden Völkern immer auch ihre Rolle spielten, wenn es in Europa um Kritik an gesellschaftlichen Zuständen ging; und für die Genossen wird noch angefügt, dass die russische Revolution ihrerseits das Interesse an randständigen Völkerschaften der neuen Sowjetunion befördert habe.
Doch von hier aus führt der Weg keineswegs geradeaus zur Maxime, dass die Ethnologen uns zeigen, dass es immer auch andere gesellschaftliche Organisationsformen gibt. Stattdessen landet Lévi-Strauss nach einer ausführlichen Kritik an der Vorstellung, Gesellschaften durchliefen festgelegte Entwicklungsstadien, bei einer Botschaft, die für ihn aus der konträren Einsicht folgt, dass Kulturphänomene sich immer Entlehnungen verdanken: Nur unter der Voraussetzung zahlreicher Kontakte unter den Völkern lasse sich der soziale Fortschritt aufrechterhalten und weiterentwickeln. Was den zuhörenden Genossen vertraut geklungen haben muss.
Die Mitschrift dieses Vortrags, vor zwei Jahren zum ersten Mal auf Französisch erschienen, ist einer der beiden Texte, die nun auch auf Deutsch vorliegen. Der zweite ist die Aufzeichnung eines mehr als fünfzig Jahre später gehaltenen Vortrags, der sich auf ganz unspektakuläre Weise einigen Passagen in Montaignes "Essais" widmet - jenem Autor, der bereits im Vortrag von 1937 für einen ethnologisch angeleiteten Blick auf die eigene Gesellschaft stand.
Man kann den frühen Text, instruiert vom Vorwort des Herausgebers, als Baustein zur intellektuellen Biographie von Claude Lévi-Strauss lesen. Der späte Vortrag ist eine Einladung, die "Essais" zur Hand zu nehmen oder ein Buch, das etwa zur selben Zeit geschrieben wurde und am Anfang von Lévi-Strauss' ethnographischer Passion stand: Jean de Lérys "Geschichte einer Reise nach Brasilien".
hmay.
Claude Lévi-Strauss: "Von Montaigne zu Montaigne. Hrsg. und mit einem Vorwort von Emmanuel Désveaux. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 96 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ende Januar 1937 lädt der linke französische Gewerkschaftsbund CGT, eine der Säulen der wenig Monate zuvor angetretenen Volksfrontregierung, zu einem Vortrag in sein Pariser Arbeiterbildungszentrum. Es spricht ein junger Akademiker, bis vor kurzem sozialistischer Aktivist, seit zwei Jahren allerdings Professor für Soziologie an der neugegründeten Universität von São Paulo. Seine erste ausgedehnte Feldforschung, eine Expedition zu Indianern des brasilianischen Matto Grosso, hat er gerade erst hinter sich.
Der Titel des Vortrags, den der knapp dreißigjährige Claude Lévi-Strauss hält, lautet: "Eine revolutionäre Wissenschaft: die Ethnographie". Dieser revolutionäre Charakter hängt für den ethnographischen Novizen erst einmal daran, dass die proto-ethnologischen Berichte von den "Wilden" und fremden Völkern immer auch ihre Rolle spielten, wenn es in Europa um Kritik an gesellschaftlichen Zuständen ging; und für die Genossen wird noch angefügt, dass die russische Revolution ihrerseits das Interesse an randständigen Völkerschaften der neuen Sowjetunion befördert habe.
Doch von hier aus führt der Weg keineswegs geradeaus zur Maxime, dass die Ethnologen uns zeigen, dass es immer auch andere gesellschaftliche Organisationsformen gibt. Stattdessen landet Lévi-Strauss nach einer ausführlichen Kritik an der Vorstellung, Gesellschaften durchliefen festgelegte Entwicklungsstadien, bei einer Botschaft, die für ihn aus der konträren Einsicht folgt, dass Kulturphänomene sich immer Entlehnungen verdanken: Nur unter der Voraussetzung zahlreicher Kontakte unter den Völkern lasse sich der soziale Fortschritt aufrechterhalten und weiterentwickeln. Was den zuhörenden Genossen vertraut geklungen haben muss.
Die Mitschrift dieses Vortrags, vor zwei Jahren zum ersten Mal auf Französisch erschienen, ist einer der beiden Texte, die nun auch auf Deutsch vorliegen. Der zweite ist die Aufzeichnung eines mehr als fünfzig Jahre später gehaltenen Vortrags, der sich auf ganz unspektakuläre Weise einigen Passagen in Montaignes "Essais" widmet - jenem Autor, der bereits im Vortrag von 1937 für einen ethnologisch angeleiteten Blick auf die eigene Gesellschaft stand.
Man kann den frühen Text, instruiert vom Vorwort des Herausgebers, als Baustein zur intellektuellen Biographie von Claude Lévi-Strauss lesen. Der späte Vortrag ist eine Einladung, die "Essais" zur Hand zu nehmen oder ein Buch, das etwa zur selben Zeit geschrieben wurde und am Anfang von Lévi-Strauss' ethnographischer Passion stand: Jean de Lérys "Geschichte einer Reise nach Brasilien".
hmay.
Claude Lévi-Strauss: "Von Montaigne zu Montaigne. Hrsg. und mit einem Vorwort von Emmanuel Désveaux. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 96 S., br., 16,- [Euro].
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»Man kann den frühen Text, instruiert vom Vorwort des Herausgebers, als Baustein zur intellektuellen Biographie von Claude Lévi-Strauss lesen. Der späte Vortrag ist eine Einladung, die Essais zur Hand zu nehmen ... « hmay Frankfurter Allgemeine Zeitung 20180622