Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.1999Lieder, die wie Krücken sind
Peter Wicke sucht nach Stützen für seine Thesen zur Popmusik
Als die polnische Pianistin Thekla Badarzewska-Baranowska 1861 im Alter von nicht einmal dreißig Jahren starb, feierte die seriöse Musikwelt dieses Ereignis als eine "Erlösung von einer Geißel der Menschheit". In einem Musikalischen Conversations-Lexikon hieß es noch 1870: "Ein früher Tod verhinderte sie, die Welt mit weiteren demoralisirenden Producten einer Aftermuse zu überschwemmen." Schon zu Lebzeiten war ihr von Seiten der Musikautoritäten blanker Hass entgegengeschlagen. Und alles nur, weil sie im Alter von achtzehn Jahren ein Klavierstück komponiert hatte, das zum Massenerfolg wurde: Es hieß "Das Gebet einer Jungfrau" und war der erste Megahit der Musikgeschichte. Die Noten wurden in Riesenauflagen unter das Volk gebracht, keine Salonmusik kam mehr ohne das sentimentale Rührstück aus.
Die Vorwürfe, der sich die junge Pianistin ausgesetzt sah, sind Konstanten in der Geschichte der Popularmusik: Je größer der Publikumserfolg eines Musikstücks, desto lauter die Zweifel an seinem künstlerischen Wert. Was jedem gefällt, kann nicht wirklich gut sein. Vielleicht ist es sogar gefährlich: "Der Untergang der Musik als Kunstform" schien manchem seriösen Musikkritiker nach dem großen Erfolg der Baranowska zu drohen. Der zweite Vorwurf, dem sich die Pianistin ausgesetzt sah und der sich beim Aufkommen jeder Popularmusikwelle in der Geschichte findet, war der der Unsittlichkeit. Ob Walzer, Jazz, Rock 'n' Roll oder Technomusik - die Geschichte der Popularmusik ist auch die Geschichte einer zunehmenden Erotisierung, der Verletzung gesellschaftlicher Tabus.
Da war das scheue "Gebet einer Jungfrau" noch sehr zaghaft. Trotzdem waren sich die Sittenwächter sicher, dass mit diesem Lied nur scheinbar dem Höheren gehuldigt würde. In Wirklichkeit sei doch nur das Niedere gemeint. Es war auch ein gesellschaftlicher Skandal. Vielleicht ein größerer als all die anderen, die folgen sollten und die insgesamt eine Geschichte erzählen von der fortschreitenden Enttabuisierung des öffentlichen Raumes im Geiste einer immer neueren Musik. Eine Geschichte auf dem Weg zu bloßer Körperlichkeit, die zur Zeit ihr (vorläufiges?) Ende in den Berliner Tanzklubs gefunden hat, in denen öffentlich ausgeführte Kopulationen zum Tanzvergnügen gehören.
Auch politisch lässt sich die Geschichte der Popmusik scheinbar als fortlaufende Entwicklung einer zunehmenden Popularisierung und Demokratisierung lesen. Als ein "Durchsickern durch die soziale Pyra mide nach unten" und ein Verschmelzen der sozialen Klassen im Tanz und in der Musik. Diese Linie könnte ihr großes Finale dann in der sich alljährlich wiederholenden Massentanzveranstaltung, der Love Parade in Berlin, finden In Peter Wickes "Kulturgeschichte der Popmusik" baut das alles schön logisch und konsequent aufeinander auf und scheint in weiten Teilen Stoff für eine gelungene Fortschrittsgeschichte zu liefern. Doch das zentrale Kapitel, das Wicke mit "Schlager unterm Hakenkreuz" überschreibt, markiert hier einen Bruch.
Es ist das schwächste Kapitel des Buches. Nur sehr pauschal wird von den Versuchen der Nationalsozialisten berichtet, eine "echte deutsche Tanzmusik" als Alternative zum so schrecklich erfolgreichen "Niggerjazz" zu kreieren. Die konkreten Verbindungen zwischen populärer Musik und der Politik im Dritten Reich bleiben äußerst schwach beleuchtet. Außer einer "Erotik des Stahlhelms", die Wicke aus dem Liedgut Zarah Leanders heraushört, entdeckt er nicht viel. Und spricht er zu Beginn des Kapitels noch davon, dass der Schlager im Dritten Reich "von Höherem zu künden" hatte, so wird später deutlich, dass genau das Gegenteil der Fall war, dass der Schlager möglichst von gar nichts künden sollte, dass es um Ablenkung ging, sonst nichts. Und Wicke zieht aus alldem den lakonischen Schluss, dass die populäre Musik in dieser Zeit "unwiderruflich und für immer ihre Unschuld verloren hat".
Die Schwäche dieses Kapitels hat Konsequenzen für den ganzen zweiten Teil des Buches: Nach 1945 schreibt Peter Wicke die Geschichte der Popularmusik als Verdachtsgeschichte fort. Jede neue Musikbewegung steht von nun an unter schwerer Beschuldigung: Kommerz lautet der Bannfluch, mit dem Wicke die neuen Musikstile belegt. Was als positive Entwicklungsgeschichte begann, wird plötzlich zu einer Unheilsgeschichte umgedeutet. Alles steht unter dem Zeichen der unheilvollen "Symbiose von Noten und Banknoten". Ob nun mit Bill Haley der rücksichtslose Musikklau und die überwältigende Präsenz von Imitaten in die Musik Einzug hält, ob korrupte Discjockeys nur noch solche Lieder spielen, an denen sie selber mitverdienen, oder die Beatles, die einstmals die Selbstverwirklichung als neue Heilslehre ausgerufen hatten, bald selbst zu clever kalkulierten Investitionsobjekten werden: Nichts kommt mehr, so Wicke, ohne die unablässige Reverenz an die bunte Warenwelt aus.
Das alles wird dann ganz leichtfüßig als eine Fortsetzung der Nazizeit mit etwas anderen Mitteln beschrieben, wenn es etwa über den deutschen Schlager der fünfziger Jahre heißt, er habe lediglich die Funktion gehabt, "den emotionalen Zusammenhalt zu produzieren, der gegen die Zumutungen des Fortschritts resistent macht". Dass die Technobewegung der neunziger Jahre als vorläufiger Gipfelpunkt dieser Unheilsgeschichte gilt, kann da nicht mehr überraschen.
Peter Wicke hat sich sein ehrgeiziges Projekt einer Kulturgeschichte der Popmusik durch übereifriges "Enttarnen" allgegenwärtiger politischer Zusammenhänge selbst verdorben. Die Popmusik hat in ihrer Geschichte so reichhaltige Kritik von Musikwissenschaftlern und Moralwächtern einstecken müssen, dass man eine Gesamtwürdigung einfach nicht gerne in den Rahmen einer groß angelegten spaßfeindlichen Kapitalismuskritik eingefügt sehen möchte. Man wünschte einem solchen Projekt eine weniger engagierte, unparteiliche Behandlung.
VOLKER WEIDERMANN
Peter Wicke: "Von Mozart zu Madonna". Eine Kulturgeschichte der Popmusik. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leizig 1998. 320 S., 25 Abb., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Wicke sucht nach Stützen für seine Thesen zur Popmusik
Als die polnische Pianistin Thekla Badarzewska-Baranowska 1861 im Alter von nicht einmal dreißig Jahren starb, feierte die seriöse Musikwelt dieses Ereignis als eine "Erlösung von einer Geißel der Menschheit". In einem Musikalischen Conversations-Lexikon hieß es noch 1870: "Ein früher Tod verhinderte sie, die Welt mit weiteren demoralisirenden Producten einer Aftermuse zu überschwemmen." Schon zu Lebzeiten war ihr von Seiten der Musikautoritäten blanker Hass entgegengeschlagen. Und alles nur, weil sie im Alter von achtzehn Jahren ein Klavierstück komponiert hatte, das zum Massenerfolg wurde: Es hieß "Das Gebet einer Jungfrau" und war der erste Megahit der Musikgeschichte. Die Noten wurden in Riesenauflagen unter das Volk gebracht, keine Salonmusik kam mehr ohne das sentimentale Rührstück aus.
Die Vorwürfe, der sich die junge Pianistin ausgesetzt sah, sind Konstanten in der Geschichte der Popularmusik: Je größer der Publikumserfolg eines Musikstücks, desto lauter die Zweifel an seinem künstlerischen Wert. Was jedem gefällt, kann nicht wirklich gut sein. Vielleicht ist es sogar gefährlich: "Der Untergang der Musik als Kunstform" schien manchem seriösen Musikkritiker nach dem großen Erfolg der Baranowska zu drohen. Der zweite Vorwurf, dem sich die Pianistin ausgesetzt sah und der sich beim Aufkommen jeder Popularmusikwelle in der Geschichte findet, war der der Unsittlichkeit. Ob Walzer, Jazz, Rock 'n' Roll oder Technomusik - die Geschichte der Popularmusik ist auch die Geschichte einer zunehmenden Erotisierung, der Verletzung gesellschaftlicher Tabus.
Da war das scheue "Gebet einer Jungfrau" noch sehr zaghaft. Trotzdem waren sich die Sittenwächter sicher, dass mit diesem Lied nur scheinbar dem Höheren gehuldigt würde. In Wirklichkeit sei doch nur das Niedere gemeint. Es war auch ein gesellschaftlicher Skandal. Vielleicht ein größerer als all die anderen, die folgen sollten und die insgesamt eine Geschichte erzählen von der fortschreitenden Enttabuisierung des öffentlichen Raumes im Geiste einer immer neueren Musik. Eine Geschichte auf dem Weg zu bloßer Körperlichkeit, die zur Zeit ihr (vorläufiges?) Ende in den Berliner Tanzklubs gefunden hat, in denen öffentlich ausgeführte Kopulationen zum Tanzvergnügen gehören.
Auch politisch lässt sich die Geschichte der Popmusik scheinbar als fortlaufende Entwicklung einer zunehmenden Popularisierung und Demokratisierung lesen. Als ein "Durchsickern durch die soziale Pyra mide nach unten" und ein Verschmelzen der sozialen Klassen im Tanz und in der Musik. Diese Linie könnte ihr großes Finale dann in der sich alljährlich wiederholenden Massentanzveranstaltung, der Love Parade in Berlin, finden In Peter Wickes "Kulturgeschichte der Popmusik" baut das alles schön logisch und konsequent aufeinander auf und scheint in weiten Teilen Stoff für eine gelungene Fortschrittsgeschichte zu liefern. Doch das zentrale Kapitel, das Wicke mit "Schlager unterm Hakenkreuz" überschreibt, markiert hier einen Bruch.
Es ist das schwächste Kapitel des Buches. Nur sehr pauschal wird von den Versuchen der Nationalsozialisten berichtet, eine "echte deutsche Tanzmusik" als Alternative zum so schrecklich erfolgreichen "Niggerjazz" zu kreieren. Die konkreten Verbindungen zwischen populärer Musik und der Politik im Dritten Reich bleiben äußerst schwach beleuchtet. Außer einer "Erotik des Stahlhelms", die Wicke aus dem Liedgut Zarah Leanders heraushört, entdeckt er nicht viel. Und spricht er zu Beginn des Kapitels noch davon, dass der Schlager im Dritten Reich "von Höherem zu künden" hatte, so wird später deutlich, dass genau das Gegenteil der Fall war, dass der Schlager möglichst von gar nichts künden sollte, dass es um Ablenkung ging, sonst nichts. Und Wicke zieht aus alldem den lakonischen Schluss, dass die populäre Musik in dieser Zeit "unwiderruflich und für immer ihre Unschuld verloren hat".
Die Schwäche dieses Kapitels hat Konsequenzen für den ganzen zweiten Teil des Buches: Nach 1945 schreibt Peter Wicke die Geschichte der Popularmusik als Verdachtsgeschichte fort. Jede neue Musikbewegung steht von nun an unter schwerer Beschuldigung: Kommerz lautet der Bannfluch, mit dem Wicke die neuen Musikstile belegt. Was als positive Entwicklungsgeschichte begann, wird plötzlich zu einer Unheilsgeschichte umgedeutet. Alles steht unter dem Zeichen der unheilvollen "Symbiose von Noten und Banknoten". Ob nun mit Bill Haley der rücksichtslose Musikklau und die überwältigende Präsenz von Imitaten in die Musik Einzug hält, ob korrupte Discjockeys nur noch solche Lieder spielen, an denen sie selber mitverdienen, oder die Beatles, die einstmals die Selbstverwirklichung als neue Heilslehre ausgerufen hatten, bald selbst zu clever kalkulierten Investitionsobjekten werden: Nichts kommt mehr, so Wicke, ohne die unablässige Reverenz an die bunte Warenwelt aus.
Das alles wird dann ganz leichtfüßig als eine Fortsetzung der Nazizeit mit etwas anderen Mitteln beschrieben, wenn es etwa über den deutschen Schlager der fünfziger Jahre heißt, er habe lediglich die Funktion gehabt, "den emotionalen Zusammenhalt zu produzieren, der gegen die Zumutungen des Fortschritts resistent macht". Dass die Technobewegung der neunziger Jahre als vorläufiger Gipfelpunkt dieser Unheilsgeschichte gilt, kann da nicht mehr überraschen.
Peter Wicke hat sich sein ehrgeiziges Projekt einer Kulturgeschichte der Popmusik durch übereifriges "Enttarnen" allgegenwärtiger politischer Zusammenhänge selbst verdorben. Die Popmusik hat in ihrer Geschichte so reichhaltige Kritik von Musikwissenschaftlern und Moralwächtern einstecken müssen, dass man eine Gesamtwürdigung einfach nicht gerne in den Rahmen einer groß angelegten spaßfeindlichen Kapitalismuskritik eingefügt sehen möchte. Man wünschte einem solchen Projekt eine weniger engagierte, unparteiliche Behandlung.
VOLKER WEIDERMANN
Peter Wicke: "Von Mozart zu Madonna". Eine Kulturgeschichte der Popmusik. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leizig 1998. 320 S., 25 Abb., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main