Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001Grüß mir die Sonne
Barbara von Wulffen fliegt auf Vögel / Von Diemut Klärner
Vögel verkörpern den Traum vom Fliegen, doch nicht nur das macht sie so faszinierend. Viele beeindrucken durch ein schmuckes Federkleid oder eine klangvolle Stimme. Und nicht zuletzt zeigen sich manche verblüffend zutraulich. Während Fuchs und Hase schleunigst die Flucht ergreifen, schaut uns das Rotkehlchen aus nächster Nähe bei der Gartenarbeit zu und stürzt sich ungeniert auf die Leckerbissen, die der Spaten zum Vorschein bringt. Mit Spatz und Schwalbe unter einem Dach zu wohnen war in der Jugendzeit der Autorin noch gang und gäbe. In Böhmen wie in Südbayern, wohin es Barbara von Wulffen Ende des Zweiten Weltkriegs verschlug, konnte man direkt vor der Haustür einer bunten Vogelschar begegnen. Während die Nachbarsbuben Spatzennester ausnahmen - weil sich Sperlinge gern am Getreide gütlich tun, galten sie als Schädlinge -, ließ die Autorin verwaisten Vogelkindern mütterliche Zuwendung angedeihen. Und nicht nur die gefiederte Fauna hatte es ihr angetan. Neben Bläßhühnern und Zwergtauchern bargen die Gewässer ringsum auch allerlei Fische und Frösche, Molche und Krebse.
Als Tochter aus gutem Hause stand von Wulffen der Weg an die Universität offen. Sie beginnt in München mit dem Biologiestudium, bricht es nach ein paar Jahren allerdings ab, um sich der Germanistik zuzuwenden. Die Rätsel der Natur mit den Methoden der Wissenschaft zu ergründen, womöglich bis auf die Ebene der Moleküle hinabzusteigen, ist ihre Sache nicht. Die Begeisterung für die Vogelwelt aber bleibt ungebrochen. In München schließt sie schnell Bekanntschaft mit Ornithologen und zieht mit ihnen hinaus ins Murnauer Moos, in die Garchinger Heide oder an den Ismaninger Speichersee. Ganz Auge und Ohr, lernt sie dort Garten- und Mönchsgrasmücke kennen, Baum- und Wiesenpieper, Sumpf- und Weidenmeise. Auch Raritäten gilt es zu entdecken, seien es Brutvögel wie das Blaukehlchen oder Durchreisende wie den Habichtsadler. Eine Reise führt die Autorin in die Gebirge Anatoliens, ins Reich der Kaspischen Königshühner, eine andere nach Äthiopien zu Zwergflamingo und Kronenkranich, und in einem kirgisischen Bergtal spüren die passionierten Vogelfreunde die prächtigen Ibisschnäbel auf. Wie beglückend solche Erlebnisse sein können, weiß die Autorin überzeugend zu vermitteln. Dabei verschließt sie keineswegs die Augen vor weniger Erfreulichem: Mit rücksichtslosen Fotografen, die sich das Objekt ihrer Begierde um jeden Preis vor die Linse holen, geht sie ebenso ins Gericht wie mit den maltesischen Jägern, die auf alles schießen, was ihnen vor die Flinte kommt.
Von Wulffen trägt viel Wissenswertes zusammen, vom Urvogel Archaeopteryx über die Rolle der Vögel im Altertum bis zu Friedrich II., der in seinem Buch "Über die Kunst mit Vögeln zu jagen" bemerkenswerte Sachkenntnis und Beobachtungsgabe bewies. Und die Autorin versteht es durchaus, die Fülle des Erlebten und Erlesenen unterhaltsam zu präsentieren. Bisweilen stößt man jedoch auf Ungereimtes. So erfährt der erstaunte Leser, welch trauriges Ende "die zentnerschweren einstigen Moas auf Madagaskar" nahmen: "Portugiesische Seefahrer aßen den letzten der wohlschmeckenden Moas auf." Daß ihr Fleisch begehrt war, wurde den Moas wohl tatsächlich zum Verhängnis. Doch dieses Schicksal ereilte sie auf Neuseeland, und die Jäger waren Maoris. Als die ersten Europäer an Land gingen, trafen sie dort keinen Moa mehr an. Auf Madagaskar waren die einheimischen Riesenvögel, Madagaskarstrauße genannt, ebenfalls längst ausgestorben, als europäische Seefahrer die Insel entdeckten. An anderer Stelle heißt es: "Das Auge des Falken besitzt ein weit höheres Auflösungsvermögen als das unsrige, es hat zum Beispiel statt 20 000 Stäbchen 1 Million davon auf der Netzhaut." Menschenaugen sind aber durchaus großzügig ausgestattet, mit insgesamt mehr als zehn Millionen Sinneszellen, wovon die Mehrzahl Stäbchen sind. Scharfsichtiger sind die Falken - zumindest bei Tage - vielmehr deshalb, weil bei ihnen die Dichte der bei ausreichendem Licht für das Farbensehen zuständigen Zapfen in der Netzhaut weitaus höher ist. Die Stäbchen liefern nur Schwarzweißbilder; sie stellen in den Augen von Eulen und anderen Nachtvögeln die Mehrheit.
Aber von Wulffen geht es weniger um biologische Details als um die mannigfachen Beziehungen zwischen Mensch und Vogel. So kommen denn auch Musik und Kunst nicht zu kurz. Welchen Widerhall der Vogelgesang bei Komponisten findet, interessiert die Autorin ebenso wie das Handwerk der Maler und Illustratoren. In Künstlerkreisen fühlt sie sich anscheinend wohler als in der Welt der Biologen. Wie ein roter Faden ziehen sich ihre Klagen über den "Reduktionismus" der Wissenschaft durch das Buch: "Heute scheint denn auch alles Lebendige nach dem Modell von Robotern zu funktionieren, und man glaubt im Ernst, alles was im Inneren des Lebens zu finden ist, ohne Verlust herunterladen zu können auf eine Festplatte."
Mag sein, daß einzelne Vertreter der Molekularbiologie den Mund manchmal zu voll nehmen. Vielleicht hegt die Autorin aber auch ihrerseits eine allzu simple Vorstellung von der Wissenschaft. Dieser Verdacht drängt sich auf, wann immer bei ihr von Evolution die Rede ist. Wie geschichtsträchtig Lebewesen sind, zeigt nicht zuletzt die Molekulargenetik. Selbst die Augen von Säugetieren und Insekten, in ihrer Struktur und Funktionsweise grundverschieden, lassen sich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen. So findet sich etwa das Gen, das bei einem Mäuseembryo die Entwicklung der Augen in Gang setzen kann, in ganz ähnlicher Form auch bei der Taufliege.
Barbara von Wulffen sieht die Welt der Vögel mit anderen Augen, und das sei ihr unbenommen. Ihre pauschale Unterstellung, daß forschendes Fragen den Blick für die Schönheit der Natur nachhaltig trübt, soll aber nicht unwidersprochen bleiben. Warum sollen sich Raben und Nachtigallen nicht auch vor einem wissenschaftlichen Hintergrund als Quelle des Staunens und der Freude erweisen? Vielleicht erschließt sich einem Biologen, der funktionelle Zusammenhänge zu ergründen versucht, die einzigartige Komplexität des Lebendigen sogar in besonderer Weise.
Barbara von Wulffen: "Von Nachtigallen und Grasmücken". Über das irdische Vergnügen an Vogelkunde und Biologie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 352 S., geb., 43,03 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Barbara von Wulffen fliegt auf Vögel / Von Diemut Klärner
Vögel verkörpern den Traum vom Fliegen, doch nicht nur das macht sie so faszinierend. Viele beeindrucken durch ein schmuckes Federkleid oder eine klangvolle Stimme. Und nicht zuletzt zeigen sich manche verblüffend zutraulich. Während Fuchs und Hase schleunigst die Flucht ergreifen, schaut uns das Rotkehlchen aus nächster Nähe bei der Gartenarbeit zu und stürzt sich ungeniert auf die Leckerbissen, die der Spaten zum Vorschein bringt. Mit Spatz und Schwalbe unter einem Dach zu wohnen war in der Jugendzeit der Autorin noch gang und gäbe. In Böhmen wie in Südbayern, wohin es Barbara von Wulffen Ende des Zweiten Weltkriegs verschlug, konnte man direkt vor der Haustür einer bunten Vogelschar begegnen. Während die Nachbarsbuben Spatzennester ausnahmen - weil sich Sperlinge gern am Getreide gütlich tun, galten sie als Schädlinge -, ließ die Autorin verwaisten Vogelkindern mütterliche Zuwendung angedeihen. Und nicht nur die gefiederte Fauna hatte es ihr angetan. Neben Bläßhühnern und Zwergtauchern bargen die Gewässer ringsum auch allerlei Fische und Frösche, Molche und Krebse.
Als Tochter aus gutem Hause stand von Wulffen der Weg an die Universität offen. Sie beginnt in München mit dem Biologiestudium, bricht es nach ein paar Jahren allerdings ab, um sich der Germanistik zuzuwenden. Die Rätsel der Natur mit den Methoden der Wissenschaft zu ergründen, womöglich bis auf die Ebene der Moleküle hinabzusteigen, ist ihre Sache nicht. Die Begeisterung für die Vogelwelt aber bleibt ungebrochen. In München schließt sie schnell Bekanntschaft mit Ornithologen und zieht mit ihnen hinaus ins Murnauer Moos, in die Garchinger Heide oder an den Ismaninger Speichersee. Ganz Auge und Ohr, lernt sie dort Garten- und Mönchsgrasmücke kennen, Baum- und Wiesenpieper, Sumpf- und Weidenmeise. Auch Raritäten gilt es zu entdecken, seien es Brutvögel wie das Blaukehlchen oder Durchreisende wie den Habichtsadler. Eine Reise führt die Autorin in die Gebirge Anatoliens, ins Reich der Kaspischen Königshühner, eine andere nach Äthiopien zu Zwergflamingo und Kronenkranich, und in einem kirgisischen Bergtal spüren die passionierten Vogelfreunde die prächtigen Ibisschnäbel auf. Wie beglückend solche Erlebnisse sein können, weiß die Autorin überzeugend zu vermitteln. Dabei verschließt sie keineswegs die Augen vor weniger Erfreulichem: Mit rücksichtslosen Fotografen, die sich das Objekt ihrer Begierde um jeden Preis vor die Linse holen, geht sie ebenso ins Gericht wie mit den maltesischen Jägern, die auf alles schießen, was ihnen vor die Flinte kommt.
Von Wulffen trägt viel Wissenswertes zusammen, vom Urvogel Archaeopteryx über die Rolle der Vögel im Altertum bis zu Friedrich II., der in seinem Buch "Über die Kunst mit Vögeln zu jagen" bemerkenswerte Sachkenntnis und Beobachtungsgabe bewies. Und die Autorin versteht es durchaus, die Fülle des Erlebten und Erlesenen unterhaltsam zu präsentieren. Bisweilen stößt man jedoch auf Ungereimtes. So erfährt der erstaunte Leser, welch trauriges Ende "die zentnerschweren einstigen Moas auf Madagaskar" nahmen: "Portugiesische Seefahrer aßen den letzten der wohlschmeckenden Moas auf." Daß ihr Fleisch begehrt war, wurde den Moas wohl tatsächlich zum Verhängnis. Doch dieses Schicksal ereilte sie auf Neuseeland, und die Jäger waren Maoris. Als die ersten Europäer an Land gingen, trafen sie dort keinen Moa mehr an. Auf Madagaskar waren die einheimischen Riesenvögel, Madagaskarstrauße genannt, ebenfalls längst ausgestorben, als europäische Seefahrer die Insel entdeckten. An anderer Stelle heißt es: "Das Auge des Falken besitzt ein weit höheres Auflösungsvermögen als das unsrige, es hat zum Beispiel statt 20 000 Stäbchen 1 Million davon auf der Netzhaut." Menschenaugen sind aber durchaus großzügig ausgestattet, mit insgesamt mehr als zehn Millionen Sinneszellen, wovon die Mehrzahl Stäbchen sind. Scharfsichtiger sind die Falken - zumindest bei Tage - vielmehr deshalb, weil bei ihnen die Dichte der bei ausreichendem Licht für das Farbensehen zuständigen Zapfen in der Netzhaut weitaus höher ist. Die Stäbchen liefern nur Schwarzweißbilder; sie stellen in den Augen von Eulen und anderen Nachtvögeln die Mehrheit.
Aber von Wulffen geht es weniger um biologische Details als um die mannigfachen Beziehungen zwischen Mensch und Vogel. So kommen denn auch Musik und Kunst nicht zu kurz. Welchen Widerhall der Vogelgesang bei Komponisten findet, interessiert die Autorin ebenso wie das Handwerk der Maler und Illustratoren. In Künstlerkreisen fühlt sie sich anscheinend wohler als in der Welt der Biologen. Wie ein roter Faden ziehen sich ihre Klagen über den "Reduktionismus" der Wissenschaft durch das Buch: "Heute scheint denn auch alles Lebendige nach dem Modell von Robotern zu funktionieren, und man glaubt im Ernst, alles was im Inneren des Lebens zu finden ist, ohne Verlust herunterladen zu können auf eine Festplatte."
Mag sein, daß einzelne Vertreter der Molekularbiologie den Mund manchmal zu voll nehmen. Vielleicht hegt die Autorin aber auch ihrerseits eine allzu simple Vorstellung von der Wissenschaft. Dieser Verdacht drängt sich auf, wann immer bei ihr von Evolution die Rede ist. Wie geschichtsträchtig Lebewesen sind, zeigt nicht zuletzt die Molekulargenetik. Selbst die Augen von Säugetieren und Insekten, in ihrer Struktur und Funktionsweise grundverschieden, lassen sich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen. So findet sich etwa das Gen, das bei einem Mäuseembryo die Entwicklung der Augen in Gang setzen kann, in ganz ähnlicher Form auch bei der Taufliege.
Barbara von Wulffen sieht die Welt der Vögel mit anderen Augen, und das sei ihr unbenommen. Ihre pauschale Unterstellung, daß forschendes Fragen den Blick für die Schönheit der Natur nachhaltig trübt, soll aber nicht unwidersprochen bleiben. Warum sollen sich Raben und Nachtigallen nicht auch vor einem wissenschaftlichen Hintergrund als Quelle des Staunens und der Freude erweisen? Vielleicht erschließt sich einem Biologen, der funktionelle Zusammenhänge zu ergründen versucht, die einzigartige Komplexität des Lebendigen sogar in besonderer Weise.
Barbara von Wulffen: "Von Nachtigallen und Grasmücken". Über das irdische Vergnügen an Vogelkunde und Biologie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 352 S., geb., 43,03 DM.
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