ulophidelAls Alizar Tyrowe die Haustür hinter sich zuzog, den Regenschirm öffnete und den schmalen steinigen Weg zur Straße lief, stellte sie fest, dass sie kaum ihre Hand vor Augen erkennen konnte, wohin sie auch blickte. Es goss wie aus Kübeln. Ihr Haus lag abseits der Hauptstraßen Tulophidels und stand dort für sich allein. Die Kronen der nebenstehenden Bäume tanzten im Sturm, es war natürlich weit und breit keine Menschenseele zu sehen. In diesem Moment teilte ein Blitz den Himmel und erhellte die Bergspitzen, die bedrohlich über dem Tal prangten, gefolgt von einem Mark und Bein erschütternden Donner.Alizar seufzte. Das war kein gutes Zeichen. Sie hatte eine Woche frei gehabt und war nun auf dem Weg zu ihrer Arbeit im Hospital. Es lag am anderen Ende des kleinen Dorfes, in dem sie seit ihrer Kindheit lebte. Bis sie dort angekommen war, wäre sie vermutlich komplett durchnässt. Sie wäre viel lieber zu Hause im Bett geblieben, mit einem warmen Tee und einem spannenden Buch, stattdessen zirkelte sie nun um grosse Pfützen herum, um ihren leidigen Nachtdienst anzutreten. Sie arbeitete seit beinahe drei Jahren als Krankenschwester in dem kleinen Hospital. Sie mochte es zwar, den Menschen zu helfen, aber sie hätte auf die Zusammenarbeit mit ihren Kollegen verzichten können. Ihre Kolleginnen konnten sie nicht ausstehen. Das beruhte zwar weitestgehend auf Gegenseitigkeit, nur wusste Alizar nicht, was sie getan hatte, um in deren Ungnade gefallen zu sein.Plötzlich schien es aus allen Richtungen zu regnen, als wäre sie ein Fremdkörper auf diesen leeren Straßen, den es loszuwerden galt. Sie lief eilig die dunklen Gassen entlang, an vielen kleinen Häusern vorbei. Etliche waren unbewohnt, in manchen brannte Licht. Es war nun schon beinahe die Abendstille in der nächsten Stunde durfte man das Haus nicht mehr verlassen zumindest, wenn einem das Leben lieb war. Sie hielt an einem Haus inne, dessen Fassadenfarbe bereits stark verblasst war. Hier hatte sie gelebt, bevor Die Holzläden an einem der maroden Fenster knallten lautstark gegen die Hauswand und Alizar erschrak. Sie schluckte und lief schnell weiter. Stürmische Tage waren in Tulophidel nicht ungewöhnlich, aber heute schienen die Götter besonders wütend zu sein. In der Ferne sah sie endlich das Dach des kleinen Krankenhauses aufblitzen. Das St. Kardens Hospital war einmal eine prächtige Klinik gewesen, mittlerweile war es eine heruntergekommene Baracke, in die fast nur Betrunkene und Verletzte aus der Gegend kamen, um sich auszuschlafen oder sich verbinden zu lassen. Die Kirche liess das Hospital aber nicht ganz verfallen, und so war dahinter ein liebevoll bepflanzter Park, der an Tulophidels verbotenen See grenzte.Alizar betrat den Eingangsbereich und stampfte die mitgebrachte Nässe ab. Während hier tagsüber vielleicht noch vereinzelt Menschen zu finden waren, so blickte sie jetzt nur Golav, der Nachtwächter, an. Alizar nickte ihm überrascht zu, üblicherweise schlief er im Sitzen. Sie schüttelte sich und fühlte sich wie ein nasser Hund. Sie war wirklich bis auf die Haut nass geworden. Ihren Regenschirm klappte sie missmutig zusammen und strich sich die nassen braunen Haare aus der Stirn, bevor sie die Treppe hoch stieg und ihre Station betrat. Der lange Flur lag ruhig vor ihr.Das, dachte sie, ist ein gutes Zeichen. FingerspitzenSeine Wunde war tief, die Wundränder schwarz und zerfranst und eigentlich hätte er schon das Bewusstsein verloren haben müssen. Alizar hielt die Luft an. Es war eine Bisswunde. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie spürte in die Wunde, die faulig grün leuchtete, und fokussierte sich auf den schwarzen Kern, der sich pulsierend auszubreiten schien.Sie glaubte nicht, dass sie ihm helfen konnte. So tiefschwarzes, totes Gewebe war nicht mehr zu heilen. Aber sie wollte es versuchen. Sie öffnete die Augen und blickte in sein Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass unter seinen schönen Augen auch dunkle Ränder zu sehen waren. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Brust hob und senkte sich schnell. Es ging ihm immer schlechter. ťHinlegen!Ť, befahl sie nun forsch und zeigte auf die Bank. Zu ihrer Überraschung setzte er sich widerspruchslos hin, lehnte sich aber nur zurück.Sie setzte sich neben ihn, krempelte sanft das Hemd hoch und legte ihre Hand langsam auf seinen kalten Bauch. Er zuckte kaum merklich zusammen, ohne auch nur die Spur eines lesbaren Gesichtsausdruckes zu zeigen. Alizar schloss die Augen und begann vorsichtig die Haut um die Wunde mit den Fingerspitzen zu streicheln. Sie zog vorsichtig kleine Kreise um die Wunde, bewegte ihre Finger in intuitiven Mustern, die sie spürte und gelernt hatte anzuwenden. Dann zog sie kleinere, langsamere Kreise und lenkte ihre ganze Konzentration darauf, die Verletzung zu heilen.Alizar schloß instinktiv die Augen und ließ sich von ihren Händen leiten, die Muster zeichneten und seine Haut entlang fuhren. Sie spürte unter ihren Fingerspitzen leichte Energiewellen, fokussierte sich darauf und versuchte, diese Energie zu vervielfältigen und auszudehnen und seinem Körper zuzuführen, was er zur Heilung benötigte.Alizar fing an zu summen. Die Muster, die sie malte, waren längst nicht mehr bewusst. Sie handelte in Trance und aus purer Verzweiflung. Alles, was sie instinktiv wusste, hoffte und fühlte, war: Er sollte nicht sterben. Ihre Kraft neigte sich dem Ende zu, aber Alizar kämpfte. Sie fühlte, dass da noch zu viel verletztes Fleisch war, zu viel Schmerz, der kaum zu ertragen war. Ihre Hände fingen an zu zittern, aber sie ignorierte es und richtete ihre Konzentration ganz auf das Lied, das sie summte. Irgendwann summte sie nicht mehr, sie sang. Unter ihren Füßen kribbelte es und es war, als würde die Energie durch sie hindurchfließen, an ihren Fingerspitzen verweilen, um dann den Tod aus seinem Körper zu zeichnen. Ihn kriegt ihr heute nicht, wandte sie sich in Gedanken an die Götter. Es war, als würden sie sie testen, denn sie spürte, wie ihre Hände wieder zu zittern begannen und die kleinen Energieflammen an ihren Fingerspitzen abebbten. Ihn kriegt ihr heute nicht, dachte sie noch einmal mit Nachdruck und stampfte ihre Füße in den Boden.Ein schmerzhaftes Gefühl durchzog Alizar plötzlich, als wäre seine Wunde auf sie übergesprungen, und sie hielt kurz inne. Irgendetwas fühlte sich anders an, aber sie konnte es nicht zuordnen. Alizar fuhr mit ihren Berührungen fort und konnte gar nicht mehr aufhören. Plötzlich fingen ihre Hände stark an zu zittern, sie konnte es kaum kontrollieren. Sie kniff die Augen zusammen, spürte die Energie, die in ihr wuchs und wuchs und Warme Hände schlossen sich um die ihren und die Flamme erlosch. Alizar öffnete erschöpft die Augen. Ungläubig starrte der Fremde erst auf seine Hüfte, dann auf Alizar. Sie hätte vor Freude weinen können, als sie gewahr wurde, dass der schwarze Kern der Wunde vollends verschwunden war. Nie hatte sie eine so große, tief infizierte Wunde geheilt und nie so viel Energie in sich gespürt. Auch fragte sie sich, welches Tier eine solche Bisswunde hinterließ und warum es ihr so schwer gefallen war, aufzuhören.Der Fremde starrte sie weiterhin an und sagte kein Wort. ťIch hätte nicht gedacht, dass es funktioniertŤ, sagte sie und lächelte ihn an. Der Fremde öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, blickte dann jedoch an ihr vorbei, als hätte er etwas gehört. Er runzelte die Stirn, fing wieder ihren Blick auf und schaute sie noch einen Augenblick undurchdringlich an. Dann flüsterte er: ťElaes AnismaŤ, und in der nächsten Sekunde war dort, wo er gesessen hatte, nur noch die leere Bank zu sehen.MitschuldVier Männer kamen auf Alizar zugestürzt. Sie trugen blaue Uniformen mit lächerlichen Hüten, an denen man erkannte, dass sie im Dienste des Königs standen. Alizar starrte die Männer an und dann wieder auf die Bank. Sie verstand nichts von dem, was die Männer riefen. Alles war so schnell gegangen. Weitere Männer rannten in kleinen Gruppen um das Hospital herum, traten über die Absperrungen des Sees und suchten den Boden und die Bäume ab. Einer der Männer, die auf sie zugelaufen waren, packte sie unsanft an der Schulter und rüttelte sie. Sie spürte, dass kleine Speicheltropfen bei jedem Wort in ihrem Gesicht landeten.ťWo ist er hin?Ť, schrie der Mann sie an. Alizar starrte auf den blauen pompösen Hut und wunderte sich, wer auf die Idee gekommen war, den Personen, vor denen man Respekt haben sollte, diese Hüte auf die Köpfe zu setzen. Sie schaute noch einmal zur Bank Elaes Anisma? , dann in das runde, rote Gesicht der Wache, die sie gerüttelt hatte.ťIch weiß es nichtŤ, sagte sie ruhig. Sie wusste gar nichts. Sie verstand auch gar nichts. Wo war der Fremde hin und wie war er verschwunden? Der Mann stöhnte, schaute zu den anderen Männern und wurde nur noch roter. Ein kleinerer, hagerer Mann trat auf sie zu und funkelte sie böse an.ťHabt Ihr ihm geholfen?Ť, blaffte er sie an. Alizar blickte den Mann an und fragte verwirrt: ťWobei geholfen?Ť Der Mann rief wutentbrannt mit einer Stimme, die sich fast überschlug: ťZu fliehen!Ť Sie hatte also richtig vermutet, der Fremde war wirklich auf der Flucht. ťIch weiß nicht einmal seinen Namen, geschweige denn, dass er ein Gefangener ist.ŤSie betonte das Wort scharf. Sie wusste ja, wie der Schutzarm Martagons mit Gefangenen umging. König Fyod hatte oft bewiesen, dass Menschenleben für ihn nicht von Bedeutung waren. Der hagere Mann blickte ihr wütend ins Gesicht und stieß drohend hervor: ťDas könnt Ihr dem König erklären.Ť Alizar wurde mulmig zumute. Sie hatte ihm geholfen. Aber niemand wusste von ihren Heilfähigkeiten und niemand hatte gesehen, dass sie den Fremden geheilt hatte. Was hatte er getan, dass so viele Wachen des Schutzarmes mitten in der Nacht in Tulophidel standen?Ein weiterer Mann meldete sich zu Wort: ťWie konnte er überhaupt verschwinden? Wie konnte er das überhaupt überleben? Mädchen, habt Ihr Verletzungen gesehen? Was hat er zu Euch gesagt?Ť Sie blickte den Mann an. Er schien ein hoher Offizier oder Kommandant zu sein. Er war beherrscht und schien im Gegensatz zu seinen Unterstellten einen klaren Kopf zu bewahren, oder zumindest gab er sich den Anschein. Er hatte kurze Haare und ein mit Falten überzogenes Gesicht mit einer wulstigen Narbe am Kinn.Alizar schluckte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. ťEr hat nicht mit mir gesprochen. Er hat nur gewünscht, dass ich ihn in Ruhe lasse. Er ... Ich habe keine Wunden gesehen!Ť, beeilte sie sich zu erklären. Ihre Finger fingen plötzlich an zu kribbeln. Oh. Alizar warf einen verstohlenen Blick auf ihre Hände. Das Blut des Fremden klebte an ihren Händen. Rasch versuchte sie, so unauffällig wie möglich ihre Hände in der Dienstkleidung zu verstecken, indem sie vortäuschte zu frieren.Sie hatte sich soeben mitschuldig gemacht, was immer auch der Fremde verbrochen hatte, indem sie einen Kommandanten des Schutzarmes angelogen hatte. Und indem sie einem Gefangenen des Schutzarmes zur Flucht verholfen hatte, nachdem sie diesem auch noch das Leben gerettet hatte. Ihr wurde schlecht.MisstrauenDer Kommandant wandte sich an den hageren Mann und sprach: ťDer Mann, der ihn am Seeufer gefunden und hergeschleppt hat, erinnert sich nicht an sein Gesicht. Er war zu betrunken.Ť Alizar horchte auf. Am Seeufer gefunden? Sie fragte den Kommandanten: ťEr war im See?Ť Sie schluckte. Deshalb war er nass gewesen. Wieso, bei den Göttern, lebte er noch?Der Kommandant blickte seine Kollegen an, dann Alizar und fuhr sie an: ťIhr müsst mitkommen und uns alles beschreiben. Jedes Wort, das er sagte. Ihr habt sein Gesicht gesehen.Ť Vor Alizars innerem Auge erschien das schöne Gesicht des Fremden. Die dunklen Haare, die ihm ins Gesicht hingen, und seine Augen. Sie nuschelte verlegen: ťNur grob, es ist immerhin mitten in der Nacht.Ť Sie schickte einen kurzen Dank in den Himmel zu der Wolke, die gerade den Mond verdeckte und ihre Aussage unterstützte. Man konnte glücklicherweise kaum etwas erkennen.Aber wozu brauchten sie sein Gesicht? Sie mussten doch wissen, wie er aussah, wenn er geflohen war. Es sei denn, er war gar kein Gefangener gewesen. Was ihn zwar nicht unschuldig machte, wer weiß, weshalb sie ihn suchen, aber Alizars Misstrauen gegenüber den Wachen wuchs. Der Kommandant blickte sie forschend an. ťIhr habt heute die Götter auf Eurer Seite, Mädchen.Ť Wieso hatte Alizar ganz und gar nicht dieses Gefühl? Die Wache nahm sie am Arm und sagte ruppig: ťKommt jetzt. Der Weg nach Athanasía ist weit.ŤAlizar schaute auf den See und fragte sich, wie die Nacht nur so bergab hatte gehen können. In der Zwischenzeit wurde Amalie befragt und Alizar wunderte sich, wieso sie nicht mit in die Hauptstadt musste. Wie sich aber herausstellte, hatte sie ihn weder gesehen noch hatte er etwas anderes zu ihr gesagt, als dass sie wohl beschäftigt gewesen sein musste, als die Götter schöne Stimmen zu vergeben hatten. Alizar musste sich ein Lachen verkneifen, als sie das hörte. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Amalie ins Zimmer gestürmt war und mit ihrer schrillen Stimme versucht hatte, ihre Arbeit zu erledigen, um sich endlich den wichtigeren Dingen wie einem gewissen Arzt, der ebenfalls Dienst hatte zu widmen. Während Amalie über den gesamten Flur tönte, sie habe sich ja gleich gedacht, dass mit ihm etwas nicht stimmen würde, konnte Alizar sich in einem unbeobachteten Moment noch die blutigen Hände waschen und war froh, dass keine Rückstände blieben. Außer viele Fragen, auf die sie keine Antworten fand.
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