Was Wissenschaftler vornehm »demografischer Wandel« nennen, ist in Wirklichkeit ein langsamer Tod, der ganze Landstriche entvölkern wird. Er befällt Dörfer und Städte dort, wo Deutschland noch am ursprünglichsten ist, wo Traditionen und Dialekte, Kultur und Geschichte zu einer glücklichen Kindheit gewachsen sind und jenen unauslöschlichen Ort in unserer Erinnerung bilden, den wir Heimat nennen. In dieser schockierenden Reportage beschreibt Günther Lachmann die Geisterstädte der Zukunft und das verheerende Zusammenspiel von Demografie und wirtschaftlichem Niedergang. Er schildert die Entvölkerung in den klassischen Industriestandorten des Westens oder in schon jetzt menschenleeren Gebieten in Ostdeutschland. Alle betroffenen Regionen werden analysiert, ihre Chancen für die Zukunft dargestellt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2008Der Landrat hat so kleine Augen
Ein Drama: Günther Lachmann reist durchs alternde und entvölkerte Deutschland
Verlassene Fabrikhallen, demolierte Büros, verwaiste Pausenräume – die traurigen Arbeitsruinen finden sich nicht selten im Abseits, auf dem Land. Erfüllen sich die Prophezeiungen des Journalisten Günther Lachmann, werden sie in Zukunft immer mehr werden – und neben verlassenen Wohnblocks, zerfallenden Kindergärten und zuwuchernden Bauernhäusern zunehmend das Bild kleiner Gemeinden prägen. Bis zum Jahre 2050, warnt Lachmann, droht ganzen Landstrichen die Entvölkerung. Das Szenario, das der Autor in seinem Buch „Von Not nach Elend” entwirft, ist düster.
Schon auf den ersten Seiten macht Lachmann klar, worum es geht: Deutschland sterbe einen „leisen Tod”, der „übers Land kriecht” und in die deutsche Landkarte „Narben reißen” werde; die Landstriche würden „ausbluten” zu „Orten ohne Erinnerung”. Mit diesen dramatischen Worten beginnt die „schockierende Reportage” über den demographischen Wandel in Deutschland. Der Autor sorgt sich ernsthaft um den Fortbestand der deutschen Heimat, unter der er vor allem die dünn besiedelten Orte auf dem Lande versteht. Lachmann will vor allem diejenigen zu mehr Bewusstsein und Verantwortung ermahnen, die ihren dort gelegenen Geburtsorten achtlos den Rücken kehren, um ihr Glück in den „wachsenden Metropolregionen” zu suchen.
Für diese Mission hat der selbst provinzgeprägte, in Papenburg im Emsland geborene, Lachmann keine Mühen gescheut. Er hat Deutschland von Norden nach Süden, von Osten nach Westen mit seinem Auto durchkurvt, sich nach Eggesin, Borken, Otersen und Sangershausen durchgeschlagen, den Sorgen von Kleinststadt-Bürgermeistern gelauscht, die an Bushaltestellen herumlungernde Dorfjugend interviewt, mit besorgten Kindergärtnerinnen, Pfarrern, Mitgliedern des Harzclubs e. V. und dem bayerischen Finanzminister und CSU-Vorsitzenden Erwin Huber gesprochen. Kurzum: Lachmann versucht, den stummen Zahlen, die zusammen mit Begriffen wie Geburtenknick, Überalterung, Beschäftigungslücke und Abwanderung durch die Medien geistern, Leben einzuhauchen, ihnen Gesichter gegeben.
Stellenweise funktioniert das ganz gut. Wer eine mit Zahlen gefütterte Fortsetzung von Florian Illies’ „Ortsgespräch” erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Zwar bemüht sich Lachmann, auch die Mentalität der Menschen einzufangen, die sich Großstädten verweigern und Tag für Tag die Folgen der Landflucht erleben; sein Fokus liegt allerdings darauf, historische, wirtschaftliche und politische Ursachen und Konsequenzen miteinander zu verweben und so auf Versäumnisse und Zukunftsaufgaben für die Gemeinden hinzuweisen.
Wunsiedel wird Greisstadt
So erfährt man vom Tourismus, der den Harz zugunsten des Auslands verlassen hat, von dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Desaster und Bevölkerungsschwund, von den Nachwuchsproblemen der Freiwilligen Feuerwehren, den Engpässen bei der medizinischen Versorgung, den immer länger werdenden Wegen zu Verwaltungsstätten, Krankenhäusern, Supermärkten und den Beschwerlichkeiten für die immer älter werdende Bevölkerung. In die Sächsische Schweiz sollen schon Wölfe und Elche zurückgekehrt sein. Die bayerische Kreisstadt Wunsiedel macht aus der Not eine Tugend und wandelt sich nach Vorbild der amerikanischen Senioren-Stadt Sun City in eine „Greisstadt” – inklusive abgesenkter Bordsteine.
Das alles ist so alarmierend wie interessant. Aber: Irgendwann reicht es. Zu diesem Gefühl des Lesers tragen auch die nicht immer hilfreichen Reportage-Elemente bei, die Lachmann vor allem im ersten Teil „Von Orten und Menschen” gerne einsetzt: Landschaftsbeschreibungen, mühsame Anfahrtswege, nur scheinbar Intimität herstellende Eigenschaften der Protagonisten. Was tragen beispielsweise die „kleinen Knopfaugen” des Landrats des Örtchens Forst an der polnischen Grenze zum Thema bei? Hinzu kommt, dass am Ende alle schrumpfenden Gemeinden doch unter ähnlichen Defiziten leiden, sodass sich sowohl die Probleme und Dramen als auch Lachmanns Formulierungen zwangsläufig wiederholen.
Der zweite Teil des Buches, „Orte und Daten”, liefert dann noch einmal ausführliche Zahlenbelege. Diesem gründlich im Fließtext referierten Datenhagel hätten vielleicht einige sprechende Schaubilder gutgetan.
Die Polemik, die Kritiker Lachmann schon bei seinem vorangegangenen Buch „Tödliche Toleranz” (2005) attestierten, ist auch in „Von Not nach Elend” spürbar. Lachmann hat ganz offensichtlich eine Mission. Sein Thema scheint der wie auch immer geartete Verlust von Heimat zu sein. Auch „Tödliche Toleranz” beschäftigte sich mit der Identitätssuche der Deutschen; damals übte der Welt-Korrespondent Kritik am laxen Umgang der Deutschen mit Islam und Muslimen in unserer „offenen Gesellschaft” und erklärte Integration und multikulturelles Miteinander für gescheitert.
Aller Entschiedenheit zum Trotz ist „Von Not nach Elend” kein Plädoyer fürs Landleben. Denn die Lust auf einen Umzug aufs Land vergeht einem bei der Lektüre gründlich. Wer sich für positive Beispiele der wirtschaftlichen Entwicklung auf regionaler Ebene interessiert, dem sei als Ergänzung Neuland empfohlen. Dieser vierteljährlich erscheinende Ableger des Wirtschaftsmagazins brand eins konzentriert sich pro Ausgabe auf eine deutsche Region – aktuell: Ostwestfalen-Lippe. Neuland transportiert das, woran es Günther Lachmann leider gebricht: eine optimistische Haltung. EVA-MARIA TRÄGER
GÜNTHER LACHMANN: Von Not nach Elend. Eine Reise durch deutsche Landschaften und Geisterstädte von morgen. Piper Verlag, München 2008. 288 Seiten, 18 Euro.
Entleerte Provinz: Ein verfallendes Büro der pleitegegangenen „Nordischen Stahlwerke” in Neumünster – aus der Serie „Insolvenz – Alles muss raus” der Fotografin Susanne Ludwig, einer Schülerin von Dirk Reinartz. Foto: Susanne Ludwig
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Ein Drama: Günther Lachmann reist durchs alternde und entvölkerte Deutschland
Verlassene Fabrikhallen, demolierte Büros, verwaiste Pausenräume – die traurigen Arbeitsruinen finden sich nicht selten im Abseits, auf dem Land. Erfüllen sich die Prophezeiungen des Journalisten Günther Lachmann, werden sie in Zukunft immer mehr werden – und neben verlassenen Wohnblocks, zerfallenden Kindergärten und zuwuchernden Bauernhäusern zunehmend das Bild kleiner Gemeinden prägen. Bis zum Jahre 2050, warnt Lachmann, droht ganzen Landstrichen die Entvölkerung. Das Szenario, das der Autor in seinem Buch „Von Not nach Elend” entwirft, ist düster.
Schon auf den ersten Seiten macht Lachmann klar, worum es geht: Deutschland sterbe einen „leisen Tod”, der „übers Land kriecht” und in die deutsche Landkarte „Narben reißen” werde; die Landstriche würden „ausbluten” zu „Orten ohne Erinnerung”. Mit diesen dramatischen Worten beginnt die „schockierende Reportage” über den demographischen Wandel in Deutschland. Der Autor sorgt sich ernsthaft um den Fortbestand der deutschen Heimat, unter der er vor allem die dünn besiedelten Orte auf dem Lande versteht. Lachmann will vor allem diejenigen zu mehr Bewusstsein und Verantwortung ermahnen, die ihren dort gelegenen Geburtsorten achtlos den Rücken kehren, um ihr Glück in den „wachsenden Metropolregionen” zu suchen.
Für diese Mission hat der selbst provinzgeprägte, in Papenburg im Emsland geborene, Lachmann keine Mühen gescheut. Er hat Deutschland von Norden nach Süden, von Osten nach Westen mit seinem Auto durchkurvt, sich nach Eggesin, Borken, Otersen und Sangershausen durchgeschlagen, den Sorgen von Kleinststadt-Bürgermeistern gelauscht, die an Bushaltestellen herumlungernde Dorfjugend interviewt, mit besorgten Kindergärtnerinnen, Pfarrern, Mitgliedern des Harzclubs e. V. und dem bayerischen Finanzminister und CSU-Vorsitzenden Erwin Huber gesprochen. Kurzum: Lachmann versucht, den stummen Zahlen, die zusammen mit Begriffen wie Geburtenknick, Überalterung, Beschäftigungslücke und Abwanderung durch die Medien geistern, Leben einzuhauchen, ihnen Gesichter gegeben.
Stellenweise funktioniert das ganz gut. Wer eine mit Zahlen gefütterte Fortsetzung von Florian Illies’ „Ortsgespräch” erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Zwar bemüht sich Lachmann, auch die Mentalität der Menschen einzufangen, die sich Großstädten verweigern und Tag für Tag die Folgen der Landflucht erleben; sein Fokus liegt allerdings darauf, historische, wirtschaftliche und politische Ursachen und Konsequenzen miteinander zu verweben und so auf Versäumnisse und Zukunftsaufgaben für die Gemeinden hinzuweisen.
Wunsiedel wird Greisstadt
So erfährt man vom Tourismus, der den Harz zugunsten des Auslands verlassen hat, von dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Desaster und Bevölkerungsschwund, von den Nachwuchsproblemen der Freiwilligen Feuerwehren, den Engpässen bei der medizinischen Versorgung, den immer länger werdenden Wegen zu Verwaltungsstätten, Krankenhäusern, Supermärkten und den Beschwerlichkeiten für die immer älter werdende Bevölkerung. In die Sächsische Schweiz sollen schon Wölfe und Elche zurückgekehrt sein. Die bayerische Kreisstadt Wunsiedel macht aus der Not eine Tugend und wandelt sich nach Vorbild der amerikanischen Senioren-Stadt Sun City in eine „Greisstadt” – inklusive abgesenkter Bordsteine.
Das alles ist so alarmierend wie interessant. Aber: Irgendwann reicht es. Zu diesem Gefühl des Lesers tragen auch die nicht immer hilfreichen Reportage-Elemente bei, die Lachmann vor allem im ersten Teil „Von Orten und Menschen” gerne einsetzt: Landschaftsbeschreibungen, mühsame Anfahrtswege, nur scheinbar Intimität herstellende Eigenschaften der Protagonisten. Was tragen beispielsweise die „kleinen Knopfaugen” des Landrats des Örtchens Forst an der polnischen Grenze zum Thema bei? Hinzu kommt, dass am Ende alle schrumpfenden Gemeinden doch unter ähnlichen Defiziten leiden, sodass sich sowohl die Probleme und Dramen als auch Lachmanns Formulierungen zwangsläufig wiederholen.
Der zweite Teil des Buches, „Orte und Daten”, liefert dann noch einmal ausführliche Zahlenbelege. Diesem gründlich im Fließtext referierten Datenhagel hätten vielleicht einige sprechende Schaubilder gutgetan.
Die Polemik, die Kritiker Lachmann schon bei seinem vorangegangenen Buch „Tödliche Toleranz” (2005) attestierten, ist auch in „Von Not nach Elend” spürbar. Lachmann hat ganz offensichtlich eine Mission. Sein Thema scheint der wie auch immer geartete Verlust von Heimat zu sein. Auch „Tödliche Toleranz” beschäftigte sich mit der Identitätssuche der Deutschen; damals übte der Welt-Korrespondent Kritik am laxen Umgang der Deutschen mit Islam und Muslimen in unserer „offenen Gesellschaft” und erklärte Integration und multikulturelles Miteinander für gescheitert.
Aller Entschiedenheit zum Trotz ist „Von Not nach Elend” kein Plädoyer fürs Landleben. Denn die Lust auf einen Umzug aufs Land vergeht einem bei der Lektüre gründlich. Wer sich für positive Beispiele der wirtschaftlichen Entwicklung auf regionaler Ebene interessiert, dem sei als Ergänzung Neuland empfohlen. Dieser vierteljährlich erscheinende Ableger des Wirtschaftsmagazins brand eins konzentriert sich pro Ausgabe auf eine deutsche Region – aktuell: Ostwestfalen-Lippe. Neuland transportiert das, woran es Günther Lachmann leider gebricht: eine optimistische Haltung. EVA-MARIA TRÄGER
GÜNTHER LACHMANN: Von Not nach Elend. Eine Reise durch deutsche Landschaften und Geisterstädte von morgen. Piper Verlag, München 2008. 288 Seiten, 18 Euro.
Entleerte Provinz: Ein verfallendes Büro der pleitegegangenen „Nordischen Stahlwerke” in Neumünster – aus der Serie „Insolvenz – Alles muss raus” der Fotografin Susanne Ludwig, einer Schülerin von Dirk Reinartz. Foto: Susanne Ludwig
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eva-Maria Träger hat Günther Lachmanns Reportage über Entvölkerung, Vergreisung und Verarmung auf dem Land durchaus mit Interesse gelesen, doch irritiert sie der pessimistische Blick und der missionarische Eifer, der daraus spricht. Der Autor hat Deutschland kreuz und quer bereist und konstatiert eine sich stetig verschlimmernde Lage in den Dörfern. Im ersten Teil seines Buches, "Von Orten und Menschen" überschrieben, bemüht sich Lachmann darum, die alarmierenden Entwicklungen mit "Reportageelementen" wie der Beschreibung schwieriger Anfahrtswege oder den anatomischen Besonderheiten eines Landrats anschaulich zu machen. Dabei fühlt sich die Rezensentin aber auch mit vollkommen unnützen Informationen versorgt, auf die sie gut und gerne verzichtet hätte. Im zweiten Teil geht es dem Autor dann mehr um statistische Zahlen und hier hätte sich Tröger unterstützende Grafiken gewünscht. Insgesamt sei diese Reportage durchaus bedenkenswert, so Träger, doch die Klage um den "Verlust der Heimat", die sie zwischen den Zeilen herausliest, stört sie auf die Dauer dann doch, zumal sich das Elend nach dem zigsten Beispiel eines entvölkerten Landstrichs wiederholt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH