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Bis zum April 1995 galt Hans Schwerte als angesehener Germanist und liberaler, fortschrittlicher Professor. Dann deckten Journalisten seine wahre Identität auf: Schwerte hatte bis 1945 Hans Ernst Schneider geheißen und stand im Dienste der SS. Die Öffentlichkeit verurteilte ihn daraufhin fast einhellig. Claus Leggewie zeigt in seiner Untersuchung des Falls "Schneider-Schwerte" daß Schwerte eine Verwandlung vom NS-Verbrecher zum liberalen Demokraten durchaus gelang - ähnlich, wie es der Bundesrepublik Deutschland auch gelungen ist. Leggewie plädiert gegen eine vorschnelle Verurteilung und…mehr

Produktbeschreibung
Bis zum April 1995 galt Hans Schwerte als angesehener Germanist und liberaler, fortschrittlicher Professor. Dann deckten Journalisten seine wahre Identität auf: Schwerte hatte bis 1945 Hans Ernst Schneider geheißen und stand im Dienste der SS. Die Öffentlichkeit verurteilte ihn daraufhin fast einhellig. Claus Leggewie zeigt in seiner Untersuchung des Falls "Schneider-Schwerte" daß Schwerte eine Verwandlung vom NS-Verbrecher zum liberalen Demokraten durchaus gelang - ähnlich, wie es der Bundesrepublik Deutschland auch gelungen ist. Leggewie plädiert gegen eine vorschnelle Verurteilung und stellt unsere gängigen Aufbereitungsmechanismen in Frage. "Das Verdienst von Leggewies Buch besteht darin, daß er die Grauzone zwischen Opportunismus und Tüchtigkeit, Dummheit und Intelligenz, Mittelmaß und Individualität sichtbar macht." Ulrich Greiner, DIE ZEIT
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.1998

Archiv des Bösen
Schwerte zu Schneidern: Die Wissenschaft hat einen Fall

Allein in diesem Herbst erscheinen drei Bücher über den Aachener Germanisten Hans Schwerte, der 1995 als ehemaliger SS-Hauptsturmführer Hans Schneider enttarnt wurde. Die gespenstische Wiederkehr der schon historisch fernen Vergangenheit in einer noch lebenden Person, die unheimliche Präsenz einer anderen Welt mitten in der vertrauten rief bei der deutschen und amerikanischen Presse eine Sensation hervor. Sie wird dort, wie es Sensationen zu ergehen pflegt, bald vergessen sein. In den - sachlich und emotional - betroffenen Disziplinen jedoch begann mit der Enthüllung erst die Arbeit.

Die immer noch wachsende Reihe von Reden, Aufsätzen, Kolloquien, Sammelbänden und Monographien erweckt den Eindruck einer überhitzten "Schneider/Schwerte-Industrie". So viele Forscher drängen sich in diese plötzlich entdeckte Forschungslücke, daß sie mit Beweisstücken, Schlußfolgerungen, Mutmaßungen, Anklagen und Entschuldigungen schon wieder überfüllt ist. Vor wenigen Tagen erst hat der Politologe Claus Leggewie, Autor eines der drei Bücher ("Von Schneider zu Schwerte", Hanser Verlag), das letzte Kapitel seines Werkes vor dem Druck zurückgezogen: Aachener Kreise hätten ihm gedroht. Und Ludwig Jäger, Autor eines anderen ("Seitenwechsel", Wilhelm Fink Verlag), hat widersprochen und Leggewie bezichtigt, nachlässig gearbeitet zu haben.

Hat sich Schneider, der in der SS-Abteilung "Ahnenerbe" großdeutsche Machtansprüche mit altgermanischen Kulturphantasien rechtfertigte, der den "Germanischen Wissenschaftseinsatz" in Nachbarländern leitete und medizinische Geräte für Menschenversuche im Konzentrationslager Dachau besorgte, hat dieser überzeugte Funktionär der nationalsozialistischen Welt nach ihrem Untergang nur den Namen oder auch Gesinnung und Charakter gewechselt? War es blanker Opportunismus, wenn Schwerte, der es in seiner zweiten Karriere bis zum Professor und Rektor brachte, sich als Beförderer einer linksliberalen Aufklärung ausgab? Oder wollte er durch solch forciertes Bekenntnis zur Demokratie seine verschwiegenen Untaten im Dritten Reich wiedergutmachen? Förderten "alte Kameraden" seinen Aufstieg?

Wer kannte die wahre Identität des Mannes, der sein Leben doppelt lebte: zweimal die gleiche Frau heiratete, zweimal in Germanistik promovierte, zweimal für die Zusammenarbeit mit belgischen und holländischen Universitäten zuständig war, zweimal sogar dafür einen Orden erhielt - zuerst vor, dann nach 1945, zuerst unter dem Namen Schneider, dann unter dem Namen Schwerte?

"Alle denkbaren Interpretationen des Falls sind durchgespielt", resümiert der Politologe Helmut König ("Der Fall Schwerte im Kontext", Westdeutscher Verlag), und dennoch gehen sie weiter. Sie erfassen jetzt auch die, die den Sachverhalt aufgedeckt hatten. Wurde Schwerte von Leuten enttarnt, die längst wußten, wer er wirklich war, und die ihr Wissen nur schrittweise preisgaben, um damit ihren Einfluß auf die Aachener Hochschulpolitik zu stärken? Dient die bereitwillige Empörung über Schwertes Doppelspiel den nachgeborenen Vertretern des Fachs dazu, ihr keiner Versuchung ausgesetztes Dasein in den gesicherten Verhältnissen der Bundesrepublik mit der Gloriole unerbittlicher Moralität zu schmücken?

Kameraden und Großväter

Über all diesen Fragen, Antworten und neuen Fragen ist das Doppelwesen Schneider-Schwerte zu einer allegorischen Figur geworden. Ihre akribische und zugleich spekulative Auslegung durch eine jüngere Generation von Philologen und Historikern läßt das Mittelmaß vergessen, das Schwerte als Gelehrter kaum überschritten hat. Die Vermutung, daß sich in den unter seinen beiden Namen erschienenen Schriften ein verborgener Zusammenhang auftue, hat ihnen ein unverdientes Nachleben beschert. Aus dem "innerlich tragenden Grund von Volk und Reich" wird nach 1945 die "abendländisch verpflichtete Wertverantwortung" - Kontinuität zeigt sich vor allem in der Vagheit der Begriffe, die sich um Übereinstimmung mit den Klischees der Epoche bemühen. Originell ist zweifellos die Biographie, obgleich sie als typisch für deutsche Lebensläufe im zwanzigsten Jahrhundert gelten soll (wie Claus Leggewie behauptet) oder für die Geschichte der Vor- und Nachkriegsgermanistik (wie Ludwig Jäger nachweist).

Noch einmal, und sei es als geheimes Archiv des Bösen, gewinnt diese glanzlose Disziplin eine öffentliche Bedeutung. Die drei Bücher über den Fall Schwerte lassen sich symmetrisch zu einem Tableau der Interpretationsmöglichkeiten anordnen. Links, auf der Seite der Anklage, steht Jäger, der minuziös die Dienstakten auswertet, die sich von Schneiders SS- und Schwertes Universitätslaufbahn erhalten haben. Er erklärt die Person als Charaktermaske jener Institutionen, die sie trugen und für die sie ihrerseits tätig war.

Direkt und indirekt sei demnach Schneider an den Verbrechen des Nationalsozialismus, insbesondere der SS, beteiligt gewesen und für sie verantwortlich. Die Germanistik wiederum habe eine zwielichtige Gestalt wie Schwerte, dessen Schriften noch 1950 völkische Werke propagierten, hingenommen und gefördert, weil ehemalige Nationalsozialisten, die bis in die sechziger Jahre die Mehrheit der Lehrstühle besetzt hielten, in ihm einen der Ihren erkannten. Der große Aufwand an archivalischer Nachforschung hat sich zumindest wegen der neuen Einblicke in die persönlichen Hintergründe und Abgründe der Fachgeschichte gelohnt. Die These allerdings, die durch diese Anstrengung erhärtet werden sollte, Schwerte sei durch "die Diskretion der Germanistik" vor der Enttarnung geschützt worden und durch das Engagement kaum getarnter NS-Germanisten (Böckmann, von Wiese, Martini) zu einem Lehrstuhl gekommen, gelangt über den Status des Verdachts nicht hinaus. Die meisten Akteure, zwischen denen prekäre Angelegenheiten gewiß nur mündlich verhandelt wurden, sind gestorben, und wenn sie noch lebten, würden sie nicht die Wahrheit sagen.

Rechts, auf der Seite der Verteidigung, steht Leggewie. Er hat längere private Gespräche mit Schwerte geführt (der wieder Schneider heißen muß), um zu dessen Lebensgeschichte einen authentischen Kommentar zu erhalten. Der fast neunzigjährige Mann hat dabei die Sympathie seines jungen Besuchers in einem bedenklichen Ausmaß gewonnen. Leggewie, der hier den "Stoff für einen Roman" wittert, erzählt Schwertes Erzählungen gutgläubig nach (vielleicht nur mit gespielter Gutgläubigkeit, um die Partei der Schwerte-Kritiker zu reizen). Von seinem Gesprächspartner übernimmt er sogar den Tonfall forscher Gemütlichkeit.

Kameraden (in der SS) und Jungmädels erscheinen ebenso ohne Anführungszeichen wie Opapa und Omama. Hand in Hand durchwandern der Professor Hauptsturmführer und sein Biograph die Wonnen der Kindheit und der Jugendjahre: "Er trank gerne und war ein eifriger Tänzer, unternahm auch gerne Ausflüge an die Ostseeküste, verkroch sich aber auch weiterhin gern im Schneckenhaus der Literatur. Er las, was er in die Finger bekam." Wie einzigartig, wie aufschlußreich! Leggewie präsentiert das Durchschnittliche, als handle es sich um eine Kostbarkeit. Schneider-Schwerte jedoch ist lediglich ein eklatanter Fall, keine bedeutende Gestalt, die eine vollständige Biographie verdient.

Der renommierte Tanzexperte

Ärgerlich an Leggewies Porträt ist nicht die moralische Laxheit - diese ist einer unvoreingenommenen Erkenntnis meistens förderlich -, sondern die sprachliche Kumpanei mit dem Porträtierten. Sie endet selbst dann nicht, wenn die Erzählung im Dritten Reich ankommt, das in Dr. Schneider sogleich einen dienstbaren Anhänger fand. Ist es Schwerte, der spricht, oder Leggewie, der von einem Mitglied der Harzburger Front schreibt, "Der war jedoch erledigt, als die Nazis dem erklärten Antisemiten 1932 eine jüdische Großmutter nachweisen konnten"? Juden und Linke werden "Kandidaten für die Nacht der langen Messer" genannt - so lustig ging es damals zu, und im Jargon des Unmenschen, den Schwerte spricht oder Leggewie schreibt, geht es immer noch so zu. Der Leser darf beider Freude teilen, daß sich Schneiders "Renommee als Tanzexperte" festigte, nachdem er den "Reichsführer SS" vor einem tanzgeschichtlichen Irrtum und damit "vor einer Blamage bewahrt" hat. Angesichts solcher Verdienste ist es kein Wunder, daß sich "auch privat die Dinge für Schneider zwischen 1936 und 1940 recht positiv entwickelten", so positiv wie sein Aufstieg in der SS-Hierarchie.

"Recht positiv" entwickeln sich auch nach dem Krieg "die Dinge" für Schneider, der nun Schwerte heißt. Noch im Betrug und seiner schließlichen Aufdeckung kann Leggewie nur Positives erkennen: "Auch die Öffentlichkeit kann froh sein, die Chance zur Diskussion dieses Falles bekommen zu haben. Schwerte hat seine Vergangenheit zwar nicht, wie von ihm immer wieder gefordert wird, coram publico aufgearbeitet, er hat sie aber professionell und im Rahmen seiner Institution abgearbeitet. Und damit hat er sich um die Bundesrepublik verdient gemacht." Mit dieser Schlußformel, die im Bundestag nach dem Ableben bedeutender Staatsmänner gebraucht wird, plädiert Leggewie implizit dafür, daß sein Held das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, das ihm 1995 aberkannt wurde, wieder zurückerhält.

Über der programmatischen Einfühlung in Schwertes Darstellung seiner Vergangenheit vergißt sein Biograph die Distanz: Er verzichtet auf den Konjunktiv der indirekten Rede, auf Zweifel gegenüber Schwertes Verharmlosungen und Verleugnungen, auf eine kritische Analyse, die das Erzählte mit der Aktenlage konfrontieren müßte. Aus Mangel an Beweisen schließt er auf Unschuld. Zwar mußte die Staatsanwaltschaft die Anklage, Schneider habe zu den tödlichen Experimenten an Dachauer Häftlingen beigetragen, einstellen, weil die erhaltenen Dokumente für einen Prozeß nicht ausreichten (Schneider war in den letzten Tagen vor dem Ende des Kriegs in Berlin damit beschäftigt, möglichst alle Akten der SS zu vernichten). Aber der Biograph darf sich nicht bei Schwertes Auskunft beruhigen, er habe sich bei den von ihm besorgten medizinischen Geräten und ihrem Bestimmungsort KZ Dachau nichts gedacht. Der Richter braucht zweifelsfreie Beweise, der Historiker muß auch das Mögliche und Wahrscheinliche erwägen.

In der Mitte zwischen den beiden Büchern steht der Band "Der Fall Schwerte im Kontext". Vor allem in den Beiträgen Helmut Königs, des Herausgebers, und Bernd-A. Rusineks meint man ein gerechtes Urteil als Resultat unparteiischer Untersuchung zu vernehmen. Sie bestimmen aus der Kenntnis der Dokumente und aus sachlichen Überlegungen exakt die Grenzen zwischen Wissen, Vermutung und Nicht-Wissen zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen. Schneider-Schwertes doppelte Identität erklärt Helmut König aus der "Elitenkontinuität" zwischen dem Dritten Reich und der frühen Bundesrepublik, deren "habitueller Kern" notwendigerweise "Heuchelei" sein mußte. Schwerte war an diesem Anfang unseres Staates beteiligt und ist ihm treu geblieben, auch als ihn die "Banalität von Karrieren" zum Repräsentanten einer späteren Phase deutscher Politik und Wissenschaft werden ließ. Für das heutige Deutschland ist jener Anfang kaum weniger historisch als die nationalsozialistische Epoche. Nur die verspätete Entdeckung hat dem Fall Schwerte, der seit langem hätte historisch werden müsen, den grellen Schein der Aktualität verliehen. HEINZ SCHLAFFER

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"Das Verdienst von Leggewies Buch besteht darin, dass er die Grauzone zwischen Opportunismus und Tüchtigkeit, Dummheit und Intelligenz, Mittelmaß und Individualität sichtbar macht."(Ulrich Greiner, DIE ZEIT)