Produktdetails
  • Essay
  • Verlag: Literaturverlag Droschl
  • Seitenzahl: 92
  • Abmessung: 180mm
  • Gewicht: 106g
  • ISBN-13: 9783854205012
  • ISBN-10: 3854205015
  • Artikelnr.: 27656076
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.1998

Zoologe seines Inneren
Michaux zu Lande, zu Wasser, in der Luft · Von Ulrich Raulff

Auch Plume war einmal in Berlin. Kaum angekommen, wurde er auf der Straße von einer Frau angesprochen, die behauptete, sie sei Mutter von neun Kindern, und ihn einlud, die Nacht mit ihr zu verbringen, und als Plume zögerte, wiegelte sie das Viertel auf, ließ ihn von der Polizei in ein verwanztes Hotel schleppen, wo sie und ihre Freundinnen ihn ausplünderten, sich dann mit ihm vergnügten und ihn am Schluß auf die Straße warfen. "Sieh an, dachte Plume", lautet der letzte Satz in der absurden Slapstick-Erzählung von Henri Michaux, "das gibt später mal eine famose Reiseerinnerung."

Tatsächlich, Reisen bildet, und mancher Strapaze unterzieht man sich nur, weil am Schluß eine schöne Erinnerung winkt. So gesehen ist das ganze Leben eine Art Camel Trophy - das Leben, vor dem man, wie Jules Renard schrieb, immer Angst hat, und wenn es vorüber ist, kann man seine Augen nicht von ihm abwenden. Viele Schriftsteller reisen nur, weil es sich hinterher, hat man die Reise überlebt, so prächtig fabulieren läßt. Nirgendwo wird mehr gelogen als in der Reiseschriftstellerei, in der doch alles handfest erlebt und authentisch wirkt: Wie soll man nachprüfen, wo einer wirklich reiste, ob in der Inneren Mongolei oder in der Mongolei seines Inneren? Deshalb sind die Leser von Reiseliteratur die größten Schafe oder die tolerantesten Menschen, weil sie bereit sind, sich jeden Bären aufbinden zu lassen, dem der Autor nie begegnet ist. Darin ähneln sie den masochistischen Lesern von Traumbüchern (was ist öder als anderer Leute Träume?). In kleinen Dosen mag das nett sein, jeder freut sich über die staatstragenden Urlaubskärtchen seiner Tante, aber die Reiseschriftstellerei im großen Stil verlangt schon eine spezielle Genußfähigkeit.

Zur Verteidigung des Reiseschriftstellers Henri Michaux ist zu sagen, daß er die feinen ontologischen Unterschiede von innerer und äußerer Wirklichkeit, Traum und Wachzustand, Rausch und Nüchternheit nie respektiert hat. Vielleicht auch nicht verstanden hat, wenn er tatsächlich so einfältig war, wie einer seiner Rezensenten jüngst meinte, der ihn an Benjamin maß, dem aber bekanntlich niemand das Wasser reichen kann, schon gar nicht das schmutzige Wasser aus dem Ganges, denn Benjamin kam nur bis Ibiza, Michaux aber badete im Ganges (oder blieb am Ufer, weil er sich vor dem Dreck ekelte). Michaux fand in Asien die Wirklichkeit: "Als ich Indien sah", schrieb er, "und als ich China sah, schien mir zum ersten Mal, daß es Völkern auf dieser Erde zustand, wirklich zu sein." Und als er zurückdenkt an die Länder, die er in Asien in den zwanziger Jahren gesehen hat, scheint es ihm, als betrachtete er sie "innerlich wie imaginäre Reisen, die sich, als Werk von ,anderen', ohne mich verwirklicht hätten. Länder, die ein anderer erfunden hätte." Komplizierter läßt es sich nicht sagen - und auch nicht einfacher. Reisen bildet, es bildet imaginäre Wirklichkeiten, Länder, die ein anderer erfunden hätte.

Wahrscheinlich sind die Götter, die diese Länder erfunden haben, phantasielose Reiseschriftsteller gewesen, die all die Bäume, Vögel, Bettler und Wolken nur geschaffen haben, um Stoff für neue Erzählungen zu haben. Wie jeder Mensch wurde auch Gott in Frankreich zum Schriftsteller, und an diesem Tag schuf er den Urwald von Ecuador: "Damals gab es in dieser Gegend einen korkenziehenden Vogel. Sein Gesang war nicht sehr lang. Zunächst ein vorbereitender Ton und dann, rrap . . . ließ er den Korken der Flasche springen, und die Flüssigkeit verströmte summend. Gut nachgeahmt war vor allem das Herausziehen des Korkens. Man fühlte das Vakuum danach und die Luft, die in den Flaschenhals strömte. Ich versuchte, nicht darauf zu achten. Aber vergeblich. Dieser Wald, in dem überall ringsum der Champagner knallte, war erstaunlich."

Das ist göttlich, keine Frage, und es ist französisch, zeugt es doch von einer feinen Kunst der Naturbeobachtung, die anderen, roheren Völkern, Deutschen zum Beispiel, nie gegeben war oder spätestens seit Wilhelm Busch und Christian Morgenstern unwiderruflich verlorenging. Michaux ist Naturforscher, einen Augenblick lang studierte er Medizin, bis er bemerkte, daß er nur einer literarischen und ziemlich nostalgischen Vorstellung von Medizin nachhing, er ist Naturalist in der Tradition der großen Beobachter und Beschreiber von Buffon und Cuvier bis Jean-Henri Fabre, dem Homer der Insekten, aber diese Tradition hat sich in ihm nicht einfach fortgesetzt, sondern grotesk zugespitzt, und nun belächelt sie sich selbst in ihrer literarischen Verdoppelung.

So daß nicht nur die überwältigende Menschlichkeit unserer tierischen Verwandten sichtbar wird ("Die Taube ist sexbesessen. Kaum hat sie einen Bissen geschluckt und sich ein wenig gestärkt, wird sie schon wieder von ihrem Teufel geritten"), sondern auch die Animalität derer, die man, kurzsichtig, wie es eben ein aufgeklärter Europäer ist, für seinesgleichen hielt: "Man kann die Chinesen nie genug als Tiere sehen. Die Hindus als andere Tiere, die Japaner, dito, die Russen und die Deutschen, und so fort. Und in jeder Rasse drei Spielarten: den erwachsenen Mann, das Kind und die Frau. Drei Welten. Ein Mann ist ein Wesen, das vom Kind und von der Frau nicht viel versteht." Michaux reist, weil er sich als das falsche Tier im falschen Biotop empfindet, "er ist und möchte anderswo sein", wie es im soeben erschienenen ersten Band seiner dreibändigen "Pléiade"-Ausgabe heißt, "radikal anderswo, und anders". Anderswo sein, in Ländern, die ein anderer erfunden hätte: da flackern die Feuerchen des Exotismus, da ist die Wüste, da sind Rimbaud, Leiris, Artaud e tutti quanti, die reisten, um sich selbst und ihr zivilisiertes Ich loszuwerden, um aus dem stählernen Gehäuse der Subjektivität auszubrechen, wirklich, literarisch, imaginär, wer weiß das schon.

Michaux reist aus demselben Grund wie alle anderen, weil er es daheim in Belgien nicht aushält: "Nicht weit von der Stadt war ein Teich. Große Girlanden von Gewändern und Gelächter. So sah das aus. Nicht weit von der Stadt war ein Wald von großen Bäumen; das waren wirkliche Einbeiner, ja wirklich, ungeheure Einbeiner. Nicht weit von der Stadt war ein mit Häusern vollgestelltes Land. Denn so ist es, das traurige und überbevölkerte Land, in dem er lebte. Eine Krankheit des Landes: es treibt Pilze. Hausmörtel dringt ihm aus allen Poren. Und die Häuser bleiben." Melancholie lehrt reisen.

Aber vor der Melancholie ist der Ekel, vor der Tristesse der Reflexion das fleischliche Verlangen, uneins zu werden, der konvulsivische Drang, sich abzusondern, um so das bißchen Ich zu gewinnen, das man später nie wieder los wird, egal wie weit und wohin man reist. Die Welt des jungen Michaux ist wüst und leer; Angst, Krankheit, Ekel sind die Elemente seines düsteren Selbstschöpfungsdramas, und der Sinn für die Leere, aus der er kommt und in die er sich findet, wird ihn nie verlassen: "Ich habe sieben oder acht Sinnesorgane", schreibt er in Ecuador. "Darunter: das für den Mangel. Ich berühre und betaste es, wie man Holz betastet . . . Mein Leben ist es, mein Leben aus der Leere. Wenn sie verschwindet, diese Leere, suche ich mich, gerate in Panik, und dann ist es noch schlimmer. Mein ganzes Gebäude ruht auf einer fehlenden Säule."

Aus dieser existentiellen Grundsituation des Mangels hat Michaux das Rezept seiner Kunst gewonnen. Niemand beherrscht wie er die Kunst der Reduktion, des Weglassens, der lapidaren Verknappung. "Aus den Mängeln des Kindes besteht sein Genie", schreibt er in einem der in zahllose Aphorismen und Aperçus zerbrochenen Essays, die unter dem Titel "Von Sprachen und Schriften" soeben auf deutsch erschienen sind. Es ist ein Schlüsselsatz zur bitterbösen Kinderwelt des Henri Michaux, voll Angst, Desinteresse, Krankheit, Verzweiflung.

Aber nicht nur seine Pathologie, auch sein Humor verbindet Henri Michaux mit Thomas Bernhard. Was die beiden trennt, ist nicht nur die Lakonie des Älteren, sein Hang zur extremen Ökonomie der Mittel, gleichgültig, ob er schreibt (seit Anfang der zwanziger) oder zeichnet und malt (seit Anfang der dreißiger Jahre), sondern auch der Zeitabstand von jenen zwei, drei Jahrzehnten, die es einem erlaubten, in einer Weise unpolitisch und politisch unkorrekt zu sein, wie es den Nachgeborenen der Jahrhundertkatastrophe nie mehr möglich war, wie misanthrop sie auch immer sein mochten. Die grausame Heiterkeit (oder heitere Grausamkeit) des reisenden Naturalisten der zwanziger Jahre gehört zu den Gemütszuständen, deren Unschuld auf immer verwirkt war. Jahrzehnte später erst bemerkt Michaux, was seinen asiatischen Reisen von damals vollkommen fehlte: die Politik. Er hätte auch sagen können: die Moral.

Michaux' Ecuador, sein Indien und sein China sind Welten ohne Geschichte und Politik. Wer deshalb findet, sie seien oberflächlich erfaßt, trifft einen wesentlichen Aspekt seiner tachistischen Beschreibungskunst, wer aber meint, sie seien gedankenlos beschrieben, ist blind für die subtile, ganz eigentümliche Intelligenz eines Autors, der sich mit vielen Zeitgenossen, den Surrealisten zumal, aber auch den Naturalisten des Geistes wie Valéry und den Phänomenologen der natürlichen Welt wie Ponge und Caillois, berührte und der sich doch mit keinem wirklich vergleichen läßt. Was Michaux ins Zentrum der literarischen Moderne Frankreichs stellte und dort vollkommen vereinzelte, war der trockene, brüchige und nicht selten grausame Humor dieses Buster Keaton des Surrealismus. Denn der Humor ist die Qualität, die den Menschen am tiefsten mit allen anderen Tieren seiner Art verbindet. Weil er aber so furchtbar selten ist, läßt er seinen Träger immer einzeln und ein wenig einsam erscheinen.

Henri Michaux: "Ein Barbar auf Reisen". Aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig. Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1998. 381 S., geb., 49,50 DM.

Henri Michaux: "OEuvres complètes". Band I. Hrsg. von Raymond Bellour unter Mithilfe von Ysé Tran. Bibliothèque de la Pléiade, Verlag Gallimard, Paris 1998. 1430 S., geb., Abb., 390,- FFr.

Henri Michaux: "Von Sprachen und Schriften". Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Eleonore Frey. Literaturverlag Droschl, Graz 1998. 93 S., br., 22,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr