»Kein umfangreiches, aber ein wichtiges, vollendetes, nobles, noch unausgeschöpftes uvre, voll von Lesefreuden, ein Lehrbuch für junge Schriftsteller, und ich glaube, es zählt zum Bleibenden der deutschen Literatur.« Wolfgang Koeppen
Zum 60. Todestag Friedo Lampes wird mit dem vorliegenden Band die Ausgabe seines Gesamtwerks im Taschenbuch abgeschlossen. Nach den beiden Romanen »Am Rande der Nacht« und »Septembergewitter« versammelt dieser Band all jene Texte, die das schmale Oeuvre noch bereithält.
Die Auswahl und Anordnung der zehn Geschichten im ersten Teil des Bandes orientiert sich an der von Lampe selbst autorisierten Erstausgabe »Von Tür zu Tür. Zehn Geschichten und eine.« von 1944. Hinzu kommen Erzählungen, Märchen und Gedichte, die überwiegend posthum veröffentlicht wurden - nach dem schrecklich-sinnlosen Tod des Autors.
Auch diese Texte, in denen Stoffe aus der griechischen Mythologie ebenso zu finden sind, wie Augenblicksaufnahmen aus dem Alltagsleben, entfalten rhythmisch dicht komponiert eine faszinierende Mischung aus heiter-musikalischen und morbid-magischen Stimmungen.
Zum 60. Todestag Friedo Lampes wird mit dem vorliegenden Band die Ausgabe seines Gesamtwerks im Taschenbuch abgeschlossen. Nach den beiden Romanen »Am Rande der Nacht« und »Septembergewitter« versammelt dieser Band all jene Texte, die das schmale Oeuvre noch bereithält.
Die Auswahl und Anordnung der zehn Geschichten im ersten Teil des Bandes orientiert sich an der von Lampe selbst autorisierten Erstausgabe »Von Tür zu Tür. Zehn Geschichten und eine.« von 1944. Hinzu kommen Erzählungen, Märchen und Gedichte, die überwiegend posthum veröffentlicht wurden - nach dem schrecklich-sinnlosen Tod des Autors.
Auch diese Texte, in denen Stoffe aus der griechischen Mythologie ebenso zu finden sind, wie Augenblicksaufnahmen aus dem Alltagsleben, entfalten rhythmisch dicht komponiert eine faszinierende Mischung aus heiter-musikalischen und morbid-magischen Stimmungen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2002Avantgarde im Teufelsmoor
Heller Kopf in finsterer Zeit: Mit Friedo Lampes Prosa beginnt die zweite Moderne der deutschen Literatur
Die Vorgeschichte dieses Buches könnte bizarrer kaum sein. Schon der erste Roman seines Autors, erschienen im Herbst 1933, war von den neuen Machthabern, unter Hinweis auf den Paragraphen 175, umgehend eingestampft worden. Der zweite hatte vier Jahre später erscheinen können, war aber geradezu demonstrativ übersehen worden. 1937 hatte der anrüchige Autor seine Verlagsanstellung verloren. Ende 1943 ausgebombt, von Gelegenheitslektoraten lebend und in einen Erpressungsfall wegen seiner Homosexualität verwickelt, richtet er nun seine ganze Hoffnung auf das dritte Buch, eine Sammlung verstreut publizierter Erzählungen; die Fahnenabzüge fallen 1944 einem Luftangriff zum Opfer. Als Anfang 1945 die vernichtete Arbeit neu hergestellt ist und der Druck beginnen soll, wird der Autor, der Krieg und Tyrannei überlebt hat, im buchstäblich letzten Augenblick zum Opfer eines tödlichen Mißverständnisses: Am Tag der Befreiung Berlins wird er von einem Soldaten der Roten Armee aufgrund einer Verwechslung auf offener Straße erschossen. Ein Jahr später sind Friedo Lampes Erzählungen dann doch noch erschienen - und in der Nachkriegsliteratur beinahe untergegangen. Dies also ist das Buch, das jetzt neu vor uns liegt, nach den Romanen "Am Rande der Nacht" und "Septembergewitter" der dritte bei Wallstein erschienene Band, erweitert um (teils erstmals gedruckte) Prosa und Gedichte. Ein großes Leseabenteuer, und das Selbstporträt eines hellen Kopfes in finsterer Zeit.
Der ursprünglich geplante Titel "Phantasien und Capriccios" spielt an auf Ernst Jüngers "Das abenteuerliche Herz", das Lampe in einem Brief "das beste erzählende Prosabuch unserer Zeit" nannte. So einleuchtend aber die Nachbarschaft seiner Erzählungen zu diesen surrealistischen Experimenten auf den zweiten Blick anmutet, so überraschend wirkt sie doch auf den ersten. Lampe scheint nicht nur ungleich sanfter und weicher als Jünger, sondern überhaupt als ein bleiches und schönes Kind des Fin de siècle. Seine Jahreszeit ist der September, seine bevorzugten Schauplätze sind Herbstlandschaften "im milden Spätlicht", kleine Städte, deren Straßen "im feuchten Herbstdunst" dämmern. Wenn doch einmal die Metropole erscheint, dann im Ausnahmezustand abendlicher Stille, eine Landschaft auch sie. Braun und golden schimmern diese Szenerien, eine Burg steht "dunkelklar vorm kühlen Blau", durch die Wiesen gleiten "die schwarzen Segel der Torfboote, sanft gebläht". Moorig und modrig ist diese Welt und erfüllt von schöner und trauriger Todesnähe. Wie die badenden Knaben "still hintreiben im Weichen, im Flüssig-Kühlen, auf dem Rücken liegend, die weißen Leiber im moorigen Wasser", so gleiten die meisten Figuren Lampes durch eine Welt zeitloser Gegenwart (oder geraten allmählich in sie hinein), in der auch die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt. Grimms Märchen spuken durch diese Bilder und griechische Mythen; und in blauer Ferne tönt des Knaben Wunderhorn.
Aus solchen Bildern aber schneidet sich Lampe das Material zurecht für die erstaunlichsten Collagen, betörend und beängstigend, von halluzinatorischer Schärfe und traumhaft entstellt. Seine Prosa nährt sich vom romantischen Deutschland. Aber sie entlockt dem Wunderhorn die "leise, jazzartig" synkopierten Rhythmen einer modernen Gegenwart - Stilmischungen zum Beispiel (wer hier ein Dornröschen liebt, ist "verschossen"; ein Flüchtling ist "ausgekniffen", der Dieb "entflutscht" seinem Verfolger) und die kalkulierten Schockeffekte greller Farben, die plötzlich aus den gedämpften Tönen hervorbrechen. Wer beschreibt den Schreck der kleinen Nichte, wenn beim abendlichen Glockenläuten die Tante ihrem unablässig lachenden und schon nicht mehr ganz geheuren Papagei jäh den Hals durchschneidet mit den Worten: "so, nun hat er sein Fett" - woraufhin, wie auf ein geheimes Zeichen, die rotkäppchenhafte Familienwelt auseinanderfällt in eine Traumkaskade, aus der kein Ausweg mehr zu finden sein wird in den Alltag des Anfangs.
Je länger man liest, desto fremder und heterogener, desto künstlicher und kunstreicher zeigt sich Lampes dunkel lockende Welt. Dornröschen, Zeus und die fahrenden Ritter - hier führen sie eine wunderliche Koexistenz mit Figuren wie dem "Detektiv Herrn Boltz aus Berlin", dem "Magier Giacomo Bufferini" oder "Lizzi Lorena, dem berühmten Star". Aus Zeitungen und Trivialromanen sind sie entflutscht, aber auch aus literarischen Vorlagen. Döblin, Kafka und den "Steppenwolf" hört man zuweilen. Und zwei Knaben, die an einem einsamen Turm spielen und die Namen "Kurt" und "Edgar" tragen, persiflieren unbemerkt Strindbergs "Totentanz".
Vor allem aber prägt sich hier Lampes stereoskopisches Schreiben noch dichter aus als in seinen Romanen, die Auflösung linearer Handlungsabläufe in Fragmente und Facetten, die rasanten und beiläufigen Perspektivenwechsel, die in einen Zustand zeitlosen Schwebens münden. Zwischen Figuren, die voneinander nichts wissen, entspinnen sich so geheimnisvolle und weitläufige Beziehungsnetze. Sonderbar verloren sind sie alle im Gewimmel und doch nie allein, Ameisen im Ameisenhaufen, Tauben im Gras.
Zur elegisch-impressionistischen Stimmungskunst stehen solche experimentellen Kunstgriffe in eigentümlicher Spannung. So deutlich manche herbstdunklen Moorlandschaften und abendlichen Gärten an die Szenerien Bangs und Keyserlings erinnern, so entschieden will Lampe doch darüber hinaus - ohne aber ganz damit zu brechen. Er wolle "volkstümlich schlicht und doch neu in der Form sein", hat er seinem Verleger geschrieben (und Wolfgang Koeppen hat ihm ebendies später nachgerühmt). Er hätte auch schreiben können: antimodern und modernistisch. Lampes bodenständige, von ihm selbst als "magisches Erzählen" umschriebene Variante des Surrealismus ist ein sehr deutsches Phänomen.
Wer Lampes Prosastücke liest, blickt auf ein Vexierbild. Was als modernistisches Experiment mit Simultaneität erscheint, ist hier zugleich Rückkehr zu vormodernen Gegenentwürfen; romantische Traumpoesie vermischt sich mit dem avantgardistischen Gestus filmischen Schreibens. Es ist gerade diese Melange, die seine Texte so aufregend macht. Eindrucksvoll zeigen sie, wie zunehmend abgesondert dieser deutsche Sonderweg der Moderne vom weltliterarischen Hauptstrom gewesen ist - und wie autochthon er sich in dieser etwas stickigen Nische entwickelt hat. Das Ergebnis ist ein Zwitter, seltsam und wunderbar, halb Spengler, halb Joyce; Dos Passos in Bremen, Avantgarde im Teufelsmooor.
Am augenfälligsten tritt diese Ambivalenz in Lampes vieldiskutiertem Umgang mit dem neuen Medium der Epoche hervor. "Ich will schreiben wie Film", hat Irmgard Keuns "Kunstseidenes Mädchen" 1932 proklamiert. Dort, auf dem nächtlich glitzernden Asphalt der Berliner Neuen Sachlichkeit, war "Film" beinahe gleichbedeutend gewesen mit Großstadt, Amerika, kosmopolitischer Weltläufigkeit. Der Unterschied zu Lampe könnte nicht größer sein. Nach innen geht sein geheimnisvoller Weg, in die chthonischen Seelentiefen Klages' und Bachofens, in eine romantische Zivilisationsmüdigkeit. Wenn Lampe 1932 einem Freund über sein erstes Romanprojekt schreibt, ihm schwebten "lauter kleine, filmartig verwobene Szenen" vor, dann fügt er sogleich hinzu: "nach dem Hofmannsthalschen Motto: ,Viele Geschicke fühle ich neben dem meinen. / Durcheinander spielt sie alle das Dasein.'" Noch in einer nachgelassenen Selbstbefragung werden die neuen Ausdrucksmöglichkeiten des Films ("blitzartig aufleuchtende Zusammenhänge") in einem Atemzug genannt mit dem "Teppich des Lebens", mit Stefan Georges Symbolismus. Um alogisch-prärationale Verschmelzung geht es Lampe, um eine wiedergefundene Totalität, an die er doch nicht mehr glaubt. Einige der suggestivsten Filmsequenzen seiner Prosa ergeben sich aus der Verwandlung alter Gemälde in moderne Erzählung, am schönsten in Phantasien über Rembrandt und Rubens. In der Buchausgabe verwischt Lampe diese im Vorabdruck noch genannten Spuren, emanzipiert die Vision von ihrem Auslöser und das "Schreiben wie Film" von seinem vormodernen Ursprung.
Befreiung "aus diesem entsetzlichen Kasten von Raum und Zeit", wie sie hier in einer Kino-Erzählung beschworen wird: Gelesen im Kontext der Entstehungszeit, beschreibt dieser Wunsch keineswegs nur ein ästhetisches Verlangen. Zeit und Raum zu entkommen, das war auch ein existentielles Überlebensmittel; wer diese Kunst beherrschte, könnte unter den Zwängen der Diktatur und der Todesangst womöglich einfach hinwegtauchen. Weil diese Prosa nicht nur den Zeitbezügen, sondern der Zeit überhaupt entkommen will, deshalb wird, wer Lampes Erzählungen auf heimliche Widerstandssignale durchmustert, nicht viel Greifbares zutage fördern. Daß der alte Hamsun sich auf die Seite der Nazis stellt, weckt Lampes Empörung - aber mit der bezeichnenden Begründung: "Wie kann sich ein Dichter in diese groben politischen Kämpfe hineinbegeben?" Seine Dichtung soll sich abwenden vom Anwidernden und Beängstigenden und den Blick, mit dem Rücken zur Geschichte, auf die mythentiefe Natur- und Seelenwelt richten. Auf diese aber starrt sie mit aufgerissenen Augen, denen man die Angst um so deutlicher ansieht. In diesem schreckengeweiteten Blick flackert, ungewollt und unübersehbar, der Widerschein der großen Brände.
Nein, nichts von den groben politischen Kämpfen will Lampe erzählen. Es ist doch nur die kleine Lotti, die da einmal aus einer Märchenszenerie hinübergleitet in eine böse Albtraumwelt. Aber ausgerechnet dieses in einen riesigen, fremden Raum eingeschlossene Kind gelangt im Bemühen um Orientierung zu der Einsicht, dies sei keine "Bahnhofshalle" und kein "Gewächshaus" - "wir sind in einem Krematorium, wir sind also doch in einem Krematorium". Nur eine Traumvision unter anderen war das. Aber geschrieben in Berlin 1943, scheinen solche Sätze mehr zu wissen, als ihr Autor ahnen mochte (oder sagen durfte).
In Lampes Teufelsmoor gibt es niemals nur das Moor zu sehen, sondern immer auch den Teufel - ungewiß, zwielichtig, wie ein kalter Nebel. Man riecht seine Fäulnis, seinen Schwefelhauch; er liegt in der Luft. Und manchmal wird er selbst zum heimlichen Faszinosum. Weil der Ennui auch hier, wie bei Jünger, als Überdruß an der bürgerlichen Konvention erscheint, deshalb kann die Todesangst umschlagen in Untergangslust. In einem zuerst 1941 im "Reich" erschienenen Prosastück träumt sich ein Halbwüchsiger aus der Langeweile eines Theaterbesuchs in die wilde Welt von Altdorfers "Alexanderschlacht" hinein, in einen Kampf zwischen den "besten Kriegern Europas" und den "Weichlingen Asiens", und jubelt dem siegreichen (und schönen) Griechenherrscher mit "heil!" und "Sieg!" zu. Lauter bedenkliche Worte. Doch Lampe führt auch hier nur eine knabenhafte Kriegs- als Abenteuerlust vor, solidarisch und distanziert: die Sehnsucht fort aus der kleinbürgerlichen Bildungswelt in ein erotisch getöntes Griechenland. Die Heils-Vision enthüllt er als Erzeugnis eines "verzweifelten und todestrunkenen" Gemüts - das er doch zumindest augenblicksweise auch selber ist. Daß dieser körperbehinderte Autor selbst auf seine Kriegsuntauglichkeit hofft, daß er in Briefen von seiner Angst vor der Einberufung in Hitlers Armee spricht und von seiner Sehnsucht nach dem "Zarteren, Menschlichen": das steht nicht auf einem anderen, sondern auf demselben Blatt wie diese mythisierende Kriegsprosa.
Der Widerspruch, der dieses schmale und weitläufige Werk in Gang hielt, war unauflöslich, und ebenso wurde er produktiv. Unter den wenigen Lesern, die Lampes Dichtung in den vierziger Jahren gefunden hat, waren einige der hellhörigsten Autoren dieser Zeit, Hans Bender etwa, Wolfgang Weyrauch und allen voran Wolfgang Koeppen, ein Schüler und Schuldner Lampes. Die vielgerühmte zweite Moderne der deutschen Nachkriegsliteratur - sie beginnt schon vor der Stunde Null. Sie beginnt mit Friedo Lampes großer kleiner Prosa.
Friedo Lampe: "Von Tür zu Tür". Phantasien und Capriccios. Herausgegeben von Johann-Günther König. Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 240 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heller Kopf in finsterer Zeit: Mit Friedo Lampes Prosa beginnt die zweite Moderne der deutschen Literatur
Die Vorgeschichte dieses Buches könnte bizarrer kaum sein. Schon der erste Roman seines Autors, erschienen im Herbst 1933, war von den neuen Machthabern, unter Hinweis auf den Paragraphen 175, umgehend eingestampft worden. Der zweite hatte vier Jahre später erscheinen können, war aber geradezu demonstrativ übersehen worden. 1937 hatte der anrüchige Autor seine Verlagsanstellung verloren. Ende 1943 ausgebombt, von Gelegenheitslektoraten lebend und in einen Erpressungsfall wegen seiner Homosexualität verwickelt, richtet er nun seine ganze Hoffnung auf das dritte Buch, eine Sammlung verstreut publizierter Erzählungen; die Fahnenabzüge fallen 1944 einem Luftangriff zum Opfer. Als Anfang 1945 die vernichtete Arbeit neu hergestellt ist und der Druck beginnen soll, wird der Autor, der Krieg und Tyrannei überlebt hat, im buchstäblich letzten Augenblick zum Opfer eines tödlichen Mißverständnisses: Am Tag der Befreiung Berlins wird er von einem Soldaten der Roten Armee aufgrund einer Verwechslung auf offener Straße erschossen. Ein Jahr später sind Friedo Lampes Erzählungen dann doch noch erschienen - und in der Nachkriegsliteratur beinahe untergegangen. Dies also ist das Buch, das jetzt neu vor uns liegt, nach den Romanen "Am Rande der Nacht" und "Septembergewitter" der dritte bei Wallstein erschienene Band, erweitert um (teils erstmals gedruckte) Prosa und Gedichte. Ein großes Leseabenteuer, und das Selbstporträt eines hellen Kopfes in finsterer Zeit.
Der ursprünglich geplante Titel "Phantasien und Capriccios" spielt an auf Ernst Jüngers "Das abenteuerliche Herz", das Lampe in einem Brief "das beste erzählende Prosabuch unserer Zeit" nannte. So einleuchtend aber die Nachbarschaft seiner Erzählungen zu diesen surrealistischen Experimenten auf den zweiten Blick anmutet, so überraschend wirkt sie doch auf den ersten. Lampe scheint nicht nur ungleich sanfter und weicher als Jünger, sondern überhaupt als ein bleiches und schönes Kind des Fin de siècle. Seine Jahreszeit ist der September, seine bevorzugten Schauplätze sind Herbstlandschaften "im milden Spätlicht", kleine Städte, deren Straßen "im feuchten Herbstdunst" dämmern. Wenn doch einmal die Metropole erscheint, dann im Ausnahmezustand abendlicher Stille, eine Landschaft auch sie. Braun und golden schimmern diese Szenerien, eine Burg steht "dunkelklar vorm kühlen Blau", durch die Wiesen gleiten "die schwarzen Segel der Torfboote, sanft gebläht". Moorig und modrig ist diese Welt und erfüllt von schöner und trauriger Todesnähe. Wie die badenden Knaben "still hintreiben im Weichen, im Flüssig-Kühlen, auf dem Rücken liegend, die weißen Leiber im moorigen Wasser", so gleiten die meisten Figuren Lampes durch eine Welt zeitloser Gegenwart (oder geraten allmählich in sie hinein), in der auch die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt. Grimms Märchen spuken durch diese Bilder und griechische Mythen; und in blauer Ferne tönt des Knaben Wunderhorn.
Aus solchen Bildern aber schneidet sich Lampe das Material zurecht für die erstaunlichsten Collagen, betörend und beängstigend, von halluzinatorischer Schärfe und traumhaft entstellt. Seine Prosa nährt sich vom romantischen Deutschland. Aber sie entlockt dem Wunderhorn die "leise, jazzartig" synkopierten Rhythmen einer modernen Gegenwart - Stilmischungen zum Beispiel (wer hier ein Dornröschen liebt, ist "verschossen"; ein Flüchtling ist "ausgekniffen", der Dieb "entflutscht" seinem Verfolger) und die kalkulierten Schockeffekte greller Farben, die plötzlich aus den gedämpften Tönen hervorbrechen. Wer beschreibt den Schreck der kleinen Nichte, wenn beim abendlichen Glockenläuten die Tante ihrem unablässig lachenden und schon nicht mehr ganz geheuren Papagei jäh den Hals durchschneidet mit den Worten: "so, nun hat er sein Fett" - woraufhin, wie auf ein geheimes Zeichen, die rotkäppchenhafte Familienwelt auseinanderfällt in eine Traumkaskade, aus der kein Ausweg mehr zu finden sein wird in den Alltag des Anfangs.
Je länger man liest, desto fremder und heterogener, desto künstlicher und kunstreicher zeigt sich Lampes dunkel lockende Welt. Dornröschen, Zeus und die fahrenden Ritter - hier führen sie eine wunderliche Koexistenz mit Figuren wie dem "Detektiv Herrn Boltz aus Berlin", dem "Magier Giacomo Bufferini" oder "Lizzi Lorena, dem berühmten Star". Aus Zeitungen und Trivialromanen sind sie entflutscht, aber auch aus literarischen Vorlagen. Döblin, Kafka und den "Steppenwolf" hört man zuweilen. Und zwei Knaben, die an einem einsamen Turm spielen und die Namen "Kurt" und "Edgar" tragen, persiflieren unbemerkt Strindbergs "Totentanz".
Vor allem aber prägt sich hier Lampes stereoskopisches Schreiben noch dichter aus als in seinen Romanen, die Auflösung linearer Handlungsabläufe in Fragmente und Facetten, die rasanten und beiläufigen Perspektivenwechsel, die in einen Zustand zeitlosen Schwebens münden. Zwischen Figuren, die voneinander nichts wissen, entspinnen sich so geheimnisvolle und weitläufige Beziehungsnetze. Sonderbar verloren sind sie alle im Gewimmel und doch nie allein, Ameisen im Ameisenhaufen, Tauben im Gras.
Zur elegisch-impressionistischen Stimmungskunst stehen solche experimentellen Kunstgriffe in eigentümlicher Spannung. So deutlich manche herbstdunklen Moorlandschaften und abendlichen Gärten an die Szenerien Bangs und Keyserlings erinnern, so entschieden will Lampe doch darüber hinaus - ohne aber ganz damit zu brechen. Er wolle "volkstümlich schlicht und doch neu in der Form sein", hat er seinem Verleger geschrieben (und Wolfgang Koeppen hat ihm ebendies später nachgerühmt). Er hätte auch schreiben können: antimodern und modernistisch. Lampes bodenständige, von ihm selbst als "magisches Erzählen" umschriebene Variante des Surrealismus ist ein sehr deutsches Phänomen.
Wer Lampes Prosastücke liest, blickt auf ein Vexierbild. Was als modernistisches Experiment mit Simultaneität erscheint, ist hier zugleich Rückkehr zu vormodernen Gegenentwürfen; romantische Traumpoesie vermischt sich mit dem avantgardistischen Gestus filmischen Schreibens. Es ist gerade diese Melange, die seine Texte so aufregend macht. Eindrucksvoll zeigen sie, wie zunehmend abgesondert dieser deutsche Sonderweg der Moderne vom weltliterarischen Hauptstrom gewesen ist - und wie autochthon er sich in dieser etwas stickigen Nische entwickelt hat. Das Ergebnis ist ein Zwitter, seltsam und wunderbar, halb Spengler, halb Joyce; Dos Passos in Bremen, Avantgarde im Teufelsmooor.
Am augenfälligsten tritt diese Ambivalenz in Lampes vieldiskutiertem Umgang mit dem neuen Medium der Epoche hervor. "Ich will schreiben wie Film", hat Irmgard Keuns "Kunstseidenes Mädchen" 1932 proklamiert. Dort, auf dem nächtlich glitzernden Asphalt der Berliner Neuen Sachlichkeit, war "Film" beinahe gleichbedeutend gewesen mit Großstadt, Amerika, kosmopolitischer Weltläufigkeit. Der Unterschied zu Lampe könnte nicht größer sein. Nach innen geht sein geheimnisvoller Weg, in die chthonischen Seelentiefen Klages' und Bachofens, in eine romantische Zivilisationsmüdigkeit. Wenn Lampe 1932 einem Freund über sein erstes Romanprojekt schreibt, ihm schwebten "lauter kleine, filmartig verwobene Szenen" vor, dann fügt er sogleich hinzu: "nach dem Hofmannsthalschen Motto: ,Viele Geschicke fühle ich neben dem meinen. / Durcheinander spielt sie alle das Dasein.'" Noch in einer nachgelassenen Selbstbefragung werden die neuen Ausdrucksmöglichkeiten des Films ("blitzartig aufleuchtende Zusammenhänge") in einem Atemzug genannt mit dem "Teppich des Lebens", mit Stefan Georges Symbolismus. Um alogisch-prärationale Verschmelzung geht es Lampe, um eine wiedergefundene Totalität, an die er doch nicht mehr glaubt. Einige der suggestivsten Filmsequenzen seiner Prosa ergeben sich aus der Verwandlung alter Gemälde in moderne Erzählung, am schönsten in Phantasien über Rembrandt und Rubens. In der Buchausgabe verwischt Lampe diese im Vorabdruck noch genannten Spuren, emanzipiert die Vision von ihrem Auslöser und das "Schreiben wie Film" von seinem vormodernen Ursprung.
Befreiung "aus diesem entsetzlichen Kasten von Raum und Zeit", wie sie hier in einer Kino-Erzählung beschworen wird: Gelesen im Kontext der Entstehungszeit, beschreibt dieser Wunsch keineswegs nur ein ästhetisches Verlangen. Zeit und Raum zu entkommen, das war auch ein existentielles Überlebensmittel; wer diese Kunst beherrschte, könnte unter den Zwängen der Diktatur und der Todesangst womöglich einfach hinwegtauchen. Weil diese Prosa nicht nur den Zeitbezügen, sondern der Zeit überhaupt entkommen will, deshalb wird, wer Lampes Erzählungen auf heimliche Widerstandssignale durchmustert, nicht viel Greifbares zutage fördern. Daß der alte Hamsun sich auf die Seite der Nazis stellt, weckt Lampes Empörung - aber mit der bezeichnenden Begründung: "Wie kann sich ein Dichter in diese groben politischen Kämpfe hineinbegeben?" Seine Dichtung soll sich abwenden vom Anwidernden und Beängstigenden und den Blick, mit dem Rücken zur Geschichte, auf die mythentiefe Natur- und Seelenwelt richten. Auf diese aber starrt sie mit aufgerissenen Augen, denen man die Angst um so deutlicher ansieht. In diesem schreckengeweiteten Blick flackert, ungewollt und unübersehbar, der Widerschein der großen Brände.
Nein, nichts von den groben politischen Kämpfen will Lampe erzählen. Es ist doch nur die kleine Lotti, die da einmal aus einer Märchenszenerie hinübergleitet in eine böse Albtraumwelt. Aber ausgerechnet dieses in einen riesigen, fremden Raum eingeschlossene Kind gelangt im Bemühen um Orientierung zu der Einsicht, dies sei keine "Bahnhofshalle" und kein "Gewächshaus" - "wir sind in einem Krematorium, wir sind also doch in einem Krematorium". Nur eine Traumvision unter anderen war das. Aber geschrieben in Berlin 1943, scheinen solche Sätze mehr zu wissen, als ihr Autor ahnen mochte (oder sagen durfte).
In Lampes Teufelsmoor gibt es niemals nur das Moor zu sehen, sondern immer auch den Teufel - ungewiß, zwielichtig, wie ein kalter Nebel. Man riecht seine Fäulnis, seinen Schwefelhauch; er liegt in der Luft. Und manchmal wird er selbst zum heimlichen Faszinosum. Weil der Ennui auch hier, wie bei Jünger, als Überdruß an der bürgerlichen Konvention erscheint, deshalb kann die Todesangst umschlagen in Untergangslust. In einem zuerst 1941 im "Reich" erschienenen Prosastück träumt sich ein Halbwüchsiger aus der Langeweile eines Theaterbesuchs in die wilde Welt von Altdorfers "Alexanderschlacht" hinein, in einen Kampf zwischen den "besten Kriegern Europas" und den "Weichlingen Asiens", und jubelt dem siegreichen (und schönen) Griechenherrscher mit "heil!" und "Sieg!" zu. Lauter bedenkliche Worte. Doch Lampe führt auch hier nur eine knabenhafte Kriegs- als Abenteuerlust vor, solidarisch und distanziert: die Sehnsucht fort aus der kleinbürgerlichen Bildungswelt in ein erotisch getöntes Griechenland. Die Heils-Vision enthüllt er als Erzeugnis eines "verzweifelten und todestrunkenen" Gemüts - das er doch zumindest augenblicksweise auch selber ist. Daß dieser körperbehinderte Autor selbst auf seine Kriegsuntauglichkeit hofft, daß er in Briefen von seiner Angst vor der Einberufung in Hitlers Armee spricht und von seiner Sehnsucht nach dem "Zarteren, Menschlichen": das steht nicht auf einem anderen, sondern auf demselben Blatt wie diese mythisierende Kriegsprosa.
Der Widerspruch, der dieses schmale und weitläufige Werk in Gang hielt, war unauflöslich, und ebenso wurde er produktiv. Unter den wenigen Lesern, die Lampes Dichtung in den vierziger Jahren gefunden hat, waren einige der hellhörigsten Autoren dieser Zeit, Hans Bender etwa, Wolfgang Weyrauch und allen voran Wolfgang Koeppen, ein Schüler und Schuldner Lampes. Die vielgerühmte zweite Moderne der deutschen Nachkriegsliteratur - sie beginnt schon vor der Stunde Null. Sie beginnt mit Friedo Lampes großer kleiner Prosa.
Friedo Lampe: "Von Tür zu Tür". Phantasien und Capriccios. Herausgegeben von Johann-Günther König. Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 240 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main