Produktdetails
- Verlag: Traversion
- ISBN-13: 9783906012001
- ISBN-10: 390601200X
- Artikelnr.: 34562195
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2012Tausend Lösungen für die Einsamkeit und die Angst
Réjean Ducharmes frankokanadischer Kultroman der sechziger Jahre erscheint erstmals auf Deutsch
Réjean Ducharme ist so etwas wie der Thomas Pynchon der frankokanadischen Literatur. Schon seit Jahrzehnten lebt er konsequent zurückgezogen irgendwo in Montréal. Über seine Biographie liegen nur wenige, kaum gesicherte Informationen vor: Geboren 1941 in Saint-Félix-de-Valois, verlässt der Sohn eines Taxifahrers noch vor Abschluss der zwölften Klasse das College; später studiert er für einige Monate, um dann für ein paar Wochen bei der Canadian Air Force zu arbeiten, vermutlich im äußersten Norden des Landes; anschließend unternimmt er eine drei Jahre dauernde Reise durch Kanada, die Vereinigten Staaten und Mexiko. Weiteres geben die Lexika kaum her. Und wie im Falle Pynchons, den wir nur von wenigen, alten Bildern kennen, gibt es auch von Ducharme kaum Fotografien: Auf einem schwarzweißen Porträt, wahrscheinlich aus der Collegezeit, sehen wir den Dichter als jungen Mann im Wollpullover; ein Schnappschuss aus den siebziger oder achtziger Jahren zeigt den Autor in Daunenjacke auf verschneiter Straße, neben ihm ein Hund.
Der vollständige Rückzug Ducharmes aus der Öffentlichkeit begann, dies immerhin lässt sich recht genau datieren, nach der Veröffentlichung seines 1966 bei Gallimard in Paris erschienenen und bald darauf für den Prix Goncourt nominierten Debütromans "L'avalée des avalés" - ein Werk, das im "Oxford Companion to Canadian Literature" immerhin als ein "high point" der modernen französisch-kanadischen Literatur gehandelt wird. Im September desselben Jahres verkündete Ducharme in seinem letzten Interview: "Ich möchte nicht, dass mein Gesicht bekannt wird, ich möchte nicht, dass die Leute zwischen mir und meinem Roman eine Verbindung herstellen ... Mein Roman ist öffentlich, ich aber bin es nicht."
Nicht nur der Autor ist seither ein Abwesender, ein Unbekannter. Auch sein übersichtliches Werk, das sich vor allem aus Romanen, aber auch einigen Theaterstücken, ein paar Drehbüchern und Songtexten zusammensetzt, ist der Welt außerhalb Québecs heute kaum mehr ein Begriff. Daran änderte auch Jean-Marie Le Clézio nichts, als er in der Dankesrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2008 einen kurzen Gruß in die kanadische Ferne schickte: "À Réjean Ducharme, pour la vie." In Québec selbst hingegen gilt Ducharme als eine Art Legende - und sein Werk bestätigt diese Mystifikation auf eigene Weise. Ein virtuoses Beispiel hierfür gibt sein Roman "L'avalée des avalés", der unter dem Titel "Von Verschlungenen verschlungen" nun erstmals auf Deutsch erschienen ist, übertragen von dem Berliner Übersetzer Till Bardoux. Der bibliophil gestalteten Ausgabe ist außerdem ein dünnes Heft mit Begleittexten von Thomas Ballhausen und Madeleine Stratfort beigegeben, die in den Roman und seine Übersetzung einführen.
Der verschrobene Titel des Romans bezieht sich auf ein mehr als komplexes, ja streckenweise undurchsichtiges Erzählprogramm. Ducharme gibt den inneren Monolog seiner Romanheldin Bérénice Einberg wieder, die zunächst als Kind, später als Jugendliche aus ihrem Leben erzählt. Als Tochter einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters wächst das Mädchen mit ihrem Bruder auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom und dort in einer ehemaligen Abtei auf; weitere, spätere Erzählstationen sind New York und Israel. Bérénice lebt ein einsames, ja mehr noch: ein hasserfülltes Leben gegen die Welt - gegen ihre heillos zerstrittenen Eltern an erster Stelle, dann aber auch gegen den Primat der Vernunft und die Normen der Erwachsenenwelt, schließlich gegen ihr eigenes Selbst und die ihr aufgezwungene Sprache. Entlastung bietet nur die ebenso einsame wie ausschweifende Lektüre schlechter Romane: "Jede Seite eines Buches ist eine Stadt. Jede Zeile ist eine Straße. Jedes Wort ist eine Behausung."
Als Nihilistin reinsten Wassers will Bérénice sowohl das Ich als auch seine Sprache loswerden, ja sie zerstören, um aus dem Nichts heraus ein neues, freies Selbst zu erschaffen, darin dem von Friedrich Nietzsche utopisch ersonnenen Übermenschen nicht unähnlich (wie der Text überhaupt von verdeckten Nietzsche-Anspielungen durchzogen ist): "Das hier ist es, was ich tun muss, um frei zu sein: alles zerstören. Ich sage nicht leugnen, ich sage zerstören. Ich bin das Werk und der Künstler." Diese Neuerschaffung des Ich geht konsequenterweise mit der Erfindung einer neuen Sprache einher, des "Berenikischen", in dem von "Grohschwankättern" die Rede ist, von einem "Bäxerolächerellen Morschonster" und einem "schlammschlingstrangelnden Spetermatorinx". Nicht bloß in sprachartistischen, wortwitzigen Passagen wie diesen erweist sich die Übersetzung als ein literarisches Meisterstück von eigenem Wert.
Das Ineinander von Vernunft und Wahn, Selbstbeherrschung und Rausch, Zynismus und Tiefsinn im Innenleben Bérénices gestaltet sich fließend, wovon der Bericht der Ich-Erzählerin nicht unberührt bleibt. Bérénices Monolog wechselt beständig hin und her zwischen vermeintlich glaubwürdigen Aussagen über die Realität und grellen Traum-, Rausch- und Wahnszenarien, die ihrerseits mit der Zeit eine eigene Wahrhaftigkeit erzeugen - bis schließlich jede Sicherheit über die vermeintliche Wirklichkeit vom Erzählstrom verschlungen wird.
Wer "L'avalée des avalés" in seiner unübersichtlichen, wuchernden Erzählweise und seinen zahllosen, teils offenen, teils verdeckten Bezügen auf Philosophie, Kunst und Literatur, auf die Religionen sowie die Psychologie und Kulturgeschichte bis ins Letzte verstehen will, wird notwendig scheitern, denn dieser Roman will erfahren werden - als ein Literatur gewordener Trip in unterschiedliche Stadien des Bewusstseins, an dessen Ende die Einsicht in die Unzuverlässigkeit jeder eindimensionalen Wirklichkeitsauffassung steht. In dieser Absicht entspricht der Roman einer bewusstseinserweiternden Droge, über deren Wirkungsweise Ducharme durch seine Heldin selbst Auskunft gibt: "Zuweilen kann der Zusammenhalt, den Einbildungskraft und Willen den äußeren Erscheinungen des Lebens geben, völlig irrsinnig werden, er kann zum Wahn, zum Rausch werden. Und diese Möglichkeit ist fruchtbar, sehr fruchtbar, sehr rege, sehr reichhaltig: Sie bietet tausend Lösungen für die Einsamkeit und die Angst."
Mit dieser Poetik erweist sich "L'avalée des avalés" als tief verwurzelt in den sechziger Jahren. Dies gilt zum einen für die Literatur, man denke an Thomas Pynchons Debütroman "V." (1963) mit seiner postmodern-spielerischen Realitätsverwirrung. Dies gilt zum anderen für die Popkultur: Entschieden will Durcharme auf eine Entgrenzung des Bewusstseins hinaus. Doch Ducharme repräsentiert in der unbändigen Gewalt, in dem schrankenlosen Hass, die er seiner Protagonistin zuschreibt, eine pessimistische Schattenseite der sechziger Jahre mit ihrer Fixierung auf das Ich und seine ungehemmte Entfaltung. Bei Ducharme ist das Ziel der Selbsterschaffung gebunden an die innere Auslöschung der Mitwelt - und koste es auch das eigene Leben: "Ich werde im Vollbesitz meiner Kräfte sterben, durch die Explosion meiner eigenen Wucht", bekennt Bérénice in einem ungebrochenen Pathos, das an die grandiose Schlussexplosion in Michelangelo Antonionis Aussteigerfilm "Zabriskie Point" (1970) denken lässt.
Nein, Ducharme, der Aussteiger aus Montréal, denkt in seinem Roman keinen dritten Weg zwischen Anpassung und Widerstand, er sieht keine Alternative zur Gewalt, zum Hass als Weg zum eigenen Selbst - und spätestens mit diesem Eindruck stellt sich beim Leser Beklommenheit ein. "Eine Schwalbe würde eher den Tod in Kauf nehmen, als nicht mehr in alle vier Himmelsrichtungen fliegen zu können", stellt Bérénice in Abgrenzung gegenüber den "degenerierten" Menschen fest, die sich durch "knechtisches Nicht-aus-der-Reihe-Tanzen" ihrer Natur entfremdet haben. In dieser starren Oppositionsbildung - hier das im Rausch, im Wahn erleuchtete Ich, dort das dumpfe, verblendete Herdentier - erweist sich Ducharmes Roman als ein historisches Zeugnis, das in seinem aggressiven Nonkonformismus ebenso aufschlussreich wie überholt erscheint. Zugleich aber vermochte wohl nur die völlige Verweigerung, die komplette Ablehnung ein so eigenständiges und überspanntes Romanexperiment überhaupt hervorzubringen. "Ich werde eine große Kanone haben und die Langeweile jagen": Mit seinem extremen Roman setzt Ducharme das Vorhaben seiner Heldin furios ins Werk.
KAI SINA
Réjean Ducharme: "Von Verschlungenen verschlungen". Roman.
Aus dem Französischen von Till Bardoux. Verlag Traversion, Deitingen 2012. 320 S., br., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Réjean Ducharmes frankokanadischer Kultroman der sechziger Jahre erscheint erstmals auf Deutsch
Réjean Ducharme ist so etwas wie der Thomas Pynchon der frankokanadischen Literatur. Schon seit Jahrzehnten lebt er konsequent zurückgezogen irgendwo in Montréal. Über seine Biographie liegen nur wenige, kaum gesicherte Informationen vor: Geboren 1941 in Saint-Félix-de-Valois, verlässt der Sohn eines Taxifahrers noch vor Abschluss der zwölften Klasse das College; später studiert er für einige Monate, um dann für ein paar Wochen bei der Canadian Air Force zu arbeiten, vermutlich im äußersten Norden des Landes; anschließend unternimmt er eine drei Jahre dauernde Reise durch Kanada, die Vereinigten Staaten und Mexiko. Weiteres geben die Lexika kaum her. Und wie im Falle Pynchons, den wir nur von wenigen, alten Bildern kennen, gibt es auch von Ducharme kaum Fotografien: Auf einem schwarzweißen Porträt, wahrscheinlich aus der Collegezeit, sehen wir den Dichter als jungen Mann im Wollpullover; ein Schnappschuss aus den siebziger oder achtziger Jahren zeigt den Autor in Daunenjacke auf verschneiter Straße, neben ihm ein Hund.
Der vollständige Rückzug Ducharmes aus der Öffentlichkeit begann, dies immerhin lässt sich recht genau datieren, nach der Veröffentlichung seines 1966 bei Gallimard in Paris erschienenen und bald darauf für den Prix Goncourt nominierten Debütromans "L'avalée des avalés" - ein Werk, das im "Oxford Companion to Canadian Literature" immerhin als ein "high point" der modernen französisch-kanadischen Literatur gehandelt wird. Im September desselben Jahres verkündete Ducharme in seinem letzten Interview: "Ich möchte nicht, dass mein Gesicht bekannt wird, ich möchte nicht, dass die Leute zwischen mir und meinem Roman eine Verbindung herstellen ... Mein Roman ist öffentlich, ich aber bin es nicht."
Nicht nur der Autor ist seither ein Abwesender, ein Unbekannter. Auch sein übersichtliches Werk, das sich vor allem aus Romanen, aber auch einigen Theaterstücken, ein paar Drehbüchern und Songtexten zusammensetzt, ist der Welt außerhalb Québecs heute kaum mehr ein Begriff. Daran änderte auch Jean-Marie Le Clézio nichts, als er in der Dankesrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2008 einen kurzen Gruß in die kanadische Ferne schickte: "À Réjean Ducharme, pour la vie." In Québec selbst hingegen gilt Ducharme als eine Art Legende - und sein Werk bestätigt diese Mystifikation auf eigene Weise. Ein virtuoses Beispiel hierfür gibt sein Roman "L'avalée des avalés", der unter dem Titel "Von Verschlungenen verschlungen" nun erstmals auf Deutsch erschienen ist, übertragen von dem Berliner Übersetzer Till Bardoux. Der bibliophil gestalteten Ausgabe ist außerdem ein dünnes Heft mit Begleittexten von Thomas Ballhausen und Madeleine Stratfort beigegeben, die in den Roman und seine Übersetzung einführen.
Der verschrobene Titel des Romans bezieht sich auf ein mehr als komplexes, ja streckenweise undurchsichtiges Erzählprogramm. Ducharme gibt den inneren Monolog seiner Romanheldin Bérénice Einberg wieder, die zunächst als Kind, später als Jugendliche aus ihrem Leben erzählt. Als Tochter einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters wächst das Mädchen mit ihrem Bruder auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom und dort in einer ehemaligen Abtei auf; weitere, spätere Erzählstationen sind New York und Israel. Bérénice lebt ein einsames, ja mehr noch: ein hasserfülltes Leben gegen die Welt - gegen ihre heillos zerstrittenen Eltern an erster Stelle, dann aber auch gegen den Primat der Vernunft und die Normen der Erwachsenenwelt, schließlich gegen ihr eigenes Selbst und die ihr aufgezwungene Sprache. Entlastung bietet nur die ebenso einsame wie ausschweifende Lektüre schlechter Romane: "Jede Seite eines Buches ist eine Stadt. Jede Zeile ist eine Straße. Jedes Wort ist eine Behausung."
Als Nihilistin reinsten Wassers will Bérénice sowohl das Ich als auch seine Sprache loswerden, ja sie zerstören, um aus dem Nichts heraus ein neues, freies Selbst zu erschaffen, darin dem von Friedrich Nietzsche utopisch ersonnenen Übermenschen nicht unähnlich (wie der Text überhaupt von verdeckten Nietzsche-Anspielungen durchzogen ist): "Das hier ist es, was ich tun muss, um frei zu sein: alles zerstören. Ich sage nicht leugnen, ich sage zerstören. Ich bin das Werk und der Künstler." Diese Neuerschaffung des Ich geht konsequenterweise mit der Erfindung einer neuen Sprache einher, des "Berenikischen", in dem von "Grohschwankättern" die Rede ist, von einem "Bäxerolächerellen Morschonster" und einem "schlammschlingstrangelnden Spetermatorinx". Nicht bloß in sprachartistischen, wortwitzigen Passagen wie diesen erweist sich die Übersetzung als ein literarisches Meisterstück von eigenem Wert.
Das Ineinander von Vernunft und Wahn, Selbstbeherrschung und Rausch, Zynismus und Tiefsinn im Innenleben Bérénices gestaltet sich fließend, wovon der Bericht der Ich-Erzählerin nicht unberührt bleibt. Bérénices Monolog wechselt beständig hin und her zwischen vermeintlich glaubwürdigen Aussagen über die Realität und grellen Traum-, Rausch- und Wahnszenarien, die ihrerseits mit der Zeit eine eigene Wahrhaftigkeit erzeugen - bis schließlich jede Sicherheit über die vermeintliche Wirklichkeit vom Erzählstrom verschlungen wird.
Wer "L'avalée des avalés" in seiner unübersichtlichen, wuchernden Erzählweise und seinen zahllosen, teils offenen, teils verdeckten Bezügen auf Philosophie, Kunst und Literatur, auf die Religionen sowie die Psychologie und Kulturgeschichte bis ins Letzte verstehen will, wird notwendig scheitern, denn dieser Roman will erfahren werden - als ein Literatur gewordener Trip in unterschiedliche Stadien des Bewusstseins, an dessen Ende die Einsicht in die Unzuverlässigkeit jeder eindimensionalen Wirklichkeitsauffassung steht. In dieser Absicht entspricht der Roman einer bewusstseinserweiternden Droge, über deren Wirkungsweise Ducharme durch seine Heldin selbst Auskunft gibt: "Zuweilen kann der Zusammenhalt, den Einbildungskraft und Willen den äußeren Erscheinungen des Lebens geben, völlig irrsinnig werden, er kann zum Wahn, zum Rausch werden. Und diese Möglichkeit ist fruchtbar, sehr fruchtbar, sehr rege, sehr reichhaltig: Sie bietet tausend Lösungen für die Einsamkeit und die Angst."
Mit dieser Poetik erweist sich "L'avalée des avalés" als tief verwurzelt in den sechziger Jahren. Dies gilt zum einen für die Literatur, man denke an Thomas Pynchons Debütroman "V." (1963) mit seiner postmodern-spielerischen Realitätsverwirrung. Dies gilt zum anderen für die Popkultur: Entschieden will Durcharme auf eine Entgrenzung des Bewusstseins hinaus. Doch Ducharme repräsentiert in der unbändigen Gewalt, in dem schrankenlosen Hass, die er seiner Protagonistin zuschreibt, eine pessimistische Schattenseite der sechziger Jahre mit ihrer Fixierung auf das Ich und seine ungehemmte Entfaltung. Bei Ducharme ist das Ziel der Selbsterschaffung gebunden an die innere Auslöschung der Mitwelt - und koste es auch das eigene Leben: "Ich werde im Vollbesitz meiner Kräfte sterben, durch die Explosion meiner eigenen Wucht", bekennt Bérénice in einem ungebrochenen Pathos, das an die grandiose Schlussexplosion in Michelangelo Antonionis Aussteigerfilm "Zabriskie Point" (1970) denken lässt.
Nein, Ducharme, der Aussteiger aus Montréal, denkt in seinem Roman keinen dritten Weg zwischen Anpassung und Widerstand, er sieht keine Alternative zur Gewalt, zum Hass als Weg zum eigenen Selbst - und spätestens mit diesem Eindruck stellt sich beim Leser Beklommenheit ein. "Eine Schwalbe würde eher den Tod in Kauf nehmen, als nicht mehr in alle vier Himmelsrichtungen fliegen zu können", stellt Bérénice in Abgrenzung gegenüber den "degenerierten" Menschen fest, die sich durch "knechtisches Nicht-aus-der-Reihe-Tanzen" ihrer Natur entfremdet haben. In dieser starren Oppositionsbildung - hier das im Rausch, im Wahn erleuchtete Ich, dort das dumpfe, verblendete Herdentier - erweist sich Ducharmes Roman als ein historisches Zeugnis, das in seinem aggressiven Nonkonformismus ebenso aufschlussreich wie überholt erscheint. Zugleich aber vermochte wohl nur die völlige Verweigerung, die komplette Ablehnung ein so eigenständiges und überspanntes Romanexperiment überhaupt hervorzubringen. "Ich werde eine große Kanone haben und die Langeweile jagen": Mit seinem extremen Roman setzt Ducharme das Vorhaben seiner Heldin furios ins Werk.
KAI SINA
Réjean Ducharme: "Von Verschlungenen verschlungen". Roman.
Aus dem Französischen von Till Bardoux. Verlag Traversion, Deitingen 2012. 320 S., br., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eine wahre Entdeckung scheint Jörg Plath dieser erste Roman des hierzulande unbekannten, in seiner Heimat aber verehrten kanadischen Schriftstellers Réjean Ducharme aus dem Jahr 1966, der jetzt endlich in deutscher Übersetzung vorliegt. Im Zentrum des Werks sieht er das Mädchen Bérenice Einberg, die schon als Neunjährige redet wie eine gebildete Dreißigjährige, wenn sie von "Alkyonen" und "hieratischen Posen" spricht. Klar ist für Plath, dass diese Figur weniger eine Roman- als eine Denkfigur ist, und zwar eine ziemlich radikale. Er charakterisiert Bérenice dann auch als "Ich-Terroristin" und "Terroristin der Selbstbehauptung", die über ihren Willen, ihre Identität zu finden, ihre Umgebung zerstört. Im Vergleich zur Radikalität und Negativität von Bérenice und ihren Jammertiraden wirken die Romanhelden von Thomas Bernhard auf Plath geradezu harmlos. Sein Fazit: ein "So frisch und unverbraucht kann die Moderne klingen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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