Vor dem autobiografischen Hintergrund seiner streng katholischen Kindheit in einer oberschwäbischen Schustersfamilie beschreibt Johannes Hösle eine längst entschwundene Zeit und Welt. Die Dörfer, in denen er aufwuchs, tragen Namen wie Gutenzell, Edelbeuren oder Erolzheim. Reisen gibt es in der Regel nur in Gestalt von Wallfahrten. Und überhaupt wird das Leben weitgehend vom Kirchenkalender geprägt.Ein Mikrokosmos mit all seinen Widersprüchen und kleinen Verlogenheiten, die das Kind in entwaffnender Weise aufdeckt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2000Heiligenlaufbahn
Johannes Hösle entdeckt Oberschwäbisches vor aller Zeit
Lebenserinnerungen berichten meist von den Jahren der beruflichen Tätigkeit und somit von den erstrebten oder verhinderten Zeiten, auch davon, wie die zurückblickende Person inzwischen historisch gewordene Ereignisse miterlebt hat. Den Lehrjahren wird dabei in der Regel noch viel Raum zugemessen, während die Kindheit oft nur schemenhaft skizziert erscheint. Die Leerstellen in der Beschreibung der Anfänge erklären sich weder durch Gedächtnislücken noch durch das Fehlen von psychologischen Elementarkenntnissen der Memoirenschreiber, sondern viel eher durch den Mangel an erzählerischem, ja dichterischem Vermögen. Denn nur wer über eine gewisse poetische Anlage verfügt, wird imstande sein, die im Alter durch alle Ablagerungen hindurchdringenden Erinnerungsstücke seiner frühen Jahre ins Wort zu bannen.
Johannes Hösle, emeritierter Professor der Romanistik vom Jahrgang 1929, hat sein in der wissenschaftlichen Tätigkeit nie ganz gestilltes kreatives Bedürfnis glücklicherweise nicht an einen Schlüsselroman über die deutsche Universität vergeudet, sondern an die stillere, aber schwierigere Arbeit gewendet, den asketisch schmalen Bildungsroman einer Kindheit zu schreiben, für den ihm die eigene Jugend das geeignete Material bot. Das ist die verschwundene und ebendeshalb so brauchbare katholische Dorfwelt im Oberschwäbischen - eine Welt "vor aller Zeit", obwohl es sich um die dreißiger Jahre handelt, also auch der Schatten von Hitler darüber fällt und der Krieg beginnt.
Im Kirchenlied wird der Herr als großer Gott gelobt, der in Ewigkeit so bleibt, wie er war vor aller Zeit. Indessen ist das als Titel gewählte Zitat gerade nicht im Sinne des ursprünglichen Textes gemeint. Es wird, in bewusst unscharfer Jahreschronologie, vom ersten Dezennium des kleinen Schustersohnes erzählt, doch liegt darüber der bunte Bilderteppich des Kirchenjahres von Advent und Weihnacht bis Allerseelen. Die Feiertage dienen zudem als Kapitelüberschriften. Die Beschreibung der noch ganz dem archaisch-mythischen Grund der Religion verhafteten Feste, Prozessionen und Wallfahrten in der Perspektive einer Kinderseele hat ersichtlich nicht den Zweck, die Glaubens- und Aberglaubenssphäre durch Verklärung zu retten. Das wache Bürschlein macht mit seinen Fragen alsbald gerade dort nicht Halt, wo die frommen kleinen Leute das Denken beim Pfarrer abgegeben haben. So kommt ein aufklärerisches Element in die Erzählung. Zwar steht es, als Projektion des längst der Kirche entfremdeten Autors, gelegentlich etwas quer zu der ansonsten überzeugenden kindheitsmythischen Atmosphäre, vermag sie aber nicht allzu empfindlich zu stören.
Hösle plant eine Fortsetzung des kleinen, aber trotz seiner leichten Lesbarkeit konzisen Bandes. Sie soll bis 1952 reichen. Das weckt die Neugierde darauf, wie es dem Verfasser gelingen mag, eine Darstellungsform zu finden, die dem sich verschärfenden Bewusstsein des Heranwachsenden samt den ungeheuren Umwälzungen dieser Jahre so adäquat sein könnte, wie der nur gelegentlich bis in die Nachbarorte und einmal sogar bis Ulm aufreißende Horizont dem Dorfkind entspricht, das nicht Bischof und Papst, sondern gleich ein Heiliger werden wollte.
ECKHARD HEFTRICH
Johannes Hösle: "Vor aller Zeit - Geschichte einer Kindheit". Verlag C. H. Beck, München 2000. 129 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Johannes Hösle entdeckt Oberschwäbisches vor aller Zeit
Lebenserinnerungen berichten meist von den Jahren der beruflichen Tätigkeit und somit von den erstrebten oder verhinderten Zeiten, auch davon, wie die zurückblickende Person inzwischen historisch gewordene Ereignisse miterlebt hat. Den Lehrjahren wird dabei in der Regel noch viel Raum zugemessen, während die Kindheit oft nur schemenhaft skizziert erscheint. Die Leerstellen in der Beschreibung der Anfänge erklären sich weder durch Gedächtnislücken noch durch das Fehlen von psychologischen Elementarkenntnissen der Memoirenschreiber, sondern viel eher durch den Mangel an erzählerischem, ja dichterischem Vermögen. Denn nur wer über eine gewisse poetische Anlage verfügt, wird imstande sein, die im Alter durch alle Ablagerungen hindurchdringenden Erinnerungsstücke seiner frühen Jahre ins Wort zu bannen.
Johannes Hösle, emeritierter Professor der Romanistik vom Jahrgang 1929, hat sein in der wissenschaftlichen Tätigkeit nie ganz gestilltes kreatives Bedürfnis glücklicherweise nicht an einen Schlüsselroman über die deutsche Universität vergeudet, sondern an die stillere, aber schwierigere Arbeit gewendet, den asketisch schmalen Bildungsroman einer Kindheit zu schreiben, für den ihm die eigene Jugend das geeignete Material bot. Das ist die verschwundene und ebendeshalb so brauchbare katholische Dorfwelt im Oberschwäbischen - eine Welt "vor aller Zeit", obwohl es sich um die dreißiger Jahre handelt, also auch der Schatten von Hitler darüber fällt und der Krieg beginnt.
Im Kirchenlied wird der Herr als großer Gott gelobt, der in Ewigkeit so bleibt, wie er war vor aller Zeit. Indessen ist das als Titel gewählte Zitat gerade nicht im Sinne des ursprünglichen Textes gemeint. Es wird, in bewusst unscharfer Jahreschronologie, vom ersten Dezennium des kleinen Schustersohnes erzählt, doch liegt darüber der bunte Bilderteppich des Kirchenjahres von Advent und Weihnacht bis Allerseelen. Die Feiertage dienen zudem als Kapitelüberschriften. Die Beschreibung der noch ganz dem archaisch-mythischen Grund der Religion verhafteten Feste, Prozessionen und Wallfahrten in der Perspektive einer Kinderseele hat ersichtlich nicht den Zweck, die Glaubens- und Aberglaubenssphäre durch Verklärung zu retten. Das wache Bürschlein macht mit seinen Fragen alsbald gerade dort nicht Halt, wo die frommen kleinen Leute das Denken beim Pfarrer abgegeben haben. So kommt ein aufklärerisches Element in die Erzählung. Zwar steht es, als Projektion des längst der Kirche entfremdeten Autors, gelegentlich etwas quer zu der ansonsten überzeugenden kindheitsmythischen Atmosphäre, vermag sie aber nicht allzu empfindlich zu stören.
Hösle plant eine Fortsetzung des kleinen, aber trotz seiner leichten Lesbarkeit konzisen Bandes. Sie soll bis 1952 reichen. Das weckt die Neugierde darauf, wie es dem Verfasser gelingen mag, eine Darstellungsform zu finden, die dem sich verschärfenden Bewusstsein des Heranwachsenden samt den ungeheuren Umwälzungen dieser Jahre so adäquat sein könnte, wie der nur gelegentlich bis in die Nachbarorte und einmal sogar bis Ulm aufreißende Horizont dem Dorfkind entspricht, das nicht Bischof und Papst, sondern gleich ein Heiliger werden wollte.
ECKHARD HEFTRICH
Johannes Hösle: "Vor aller Zeit - Geschichte einer Kindheit". Verlag C. H. Beck, München 2000. 129 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Selten hat jemand das gängige Vorurteil gegen Professorenprosa eindrucksvoller widerlegt. Hätte der Autor nicht ziemlich viele unschöne Wortwiederholungen stehen lassen, man könnte sogar von einem kleinen Meisterwerk sprechen." Armin Ayren in der 'Stuttgarter Zeitung'
"Ein hervorragender Erzähler ... eine Sinne und Fantasie ansprechende Welt." Rudolf Grimm in der 'Frankfurter Neuen Presse'
"Ein Ton, der manchmal an Ludwig Thoma erinnert ... Die Beschreibung des Landlebens, die Erinnerung an eine schöne Kindheit, die es so nicht mehr geben kann, ist lustig und kein bisschen schmalzig geraten." Stefanie Holzer in der 'Wiener Zeitung'
"Ein raffiniert schlichtes Lob des Herkommens." Andreas Nentwich in der 'Süddeutschen Zeitung'
"Wohltuend unterscheidet sich seine Geschichte nicht nur sprachlich von anderer Erinnerungsliteratur, die seit dem Bestseller 'Herbstmilch' von Anna Wimschneider über die Verlage hereinbrach. Sie verdeutlicht auch, wie weit vor nur 70 Jahren ein Dorf bei Memmingen von einer Metropole wie Berlin entfernt war." Focus
"Ein bemerkenswertes Buch." Rainer Moritz im 'Rheinischen Merkur'
"Ein hervorragender Erzähler ... eine Sinne und Fantasie ansprechende Welt." Rudolf Grimm in der 'Frankfurter Neuen Presse'
"Ein Ton, der manchmal an Ludwig Thoma erinnert ... Die Beschreibung des Landlebens, die Erinnerung an eine schöne Kindheit, die es so nicht mehr geben kann, ist lustig und kein bisschen schmalzig geraten." Stefanie Holzer in der 'Wiener Zeitung'
"Ein raffiniert schlichtes Lob des Herkommens." Andreas Nentwich in der 'Süddeutschen Zeitung'
"Wohltuend unterscheidet sich seine Geschichte nicht nur sprachlich von anderer Erinnerungsliteratur, die seit dem Bestseller 'Herbstmilch' von Anna Wimschneider über die Verlage hereinbrach. Sie verdeutlicht auch, wie weit vor nur 70 Jahren ein Dorf bei Memmingen von einer Metropole wie Berlin entfernt war." Focus
"Ein bemerkenswertes Buch." Rainer Moritz im 'Rheinischen Merkur'
"Wohltuend unterscheidet sich seine Geschichte nicht nur sprachlich von anderer Erinnerungsliteratur ... Sie verdeutlicht auch, wie weit vor nur 70 Jahren ein Dorf bei Memmingen von einer Metropole wie Berlin entfernt war." (Focus)