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Als Joseph Paul Jernigan am 5. August 1993 hingerichtet wird - vor Sonnenaufgang, wie es das texanische Gesetz vorschreibt -, ahnt noch niemand, dass dies seine Wiedergeburt einläutet, die ewiges Leben bedeutet. Denn Jernigans Körper besitzt ideale Eigenschaften, um als erster Mensch digital rekonstruiert zu werden. Und so betritt der als Mörder Verurteilte 2002 als sein eigener Avatar den Cyberspace und wird damit zum ersten digitalen Untoten der Geschichte. Dies ist eine von sieben faszinierenden Erzählungen, in denen uns Philipp Schönthaler in eine Welt führt, die gerade im Entstehen…mehr

Produktbeschreibung
Als Joseph Paul Jernigan am 5. August 1993 hingerichtet wird - vor Sonnenaufgang, wie es das texanische Gesetz vorschreibt -, ahnt noch niemand, dass dies seine Wiedergeburt einläutet, die ewiges Leben bedeutet. Denn Jernigans Körper besitzt ideale Eigenschaften, um als erster Mensch digital rekonstruiert zu werden. Und so betritt der als Mörder Verurteilte 2002 als sein eigener Avatar den Cyberspace und wird damit zum ersten digitalen Untoten der Geschichte. Dies ist eine von sieben faszinierenden Erzählungen, in denen uns Philipp Schönthaler in eine Welt führt, die gerade im Entstehen begriffen ist. Auf seinen ersten Erzählband, der u. a. mit dem Clemens-Brentano-Preis ausgezeichnet wurde, folgt nun dieser groß angelegte Erzählzyklus, in dem er eine literarische Recherche nach den Ursprüngen unserer Gegenwart und Zukunft unternimmt. Jede der raffiniert gewebten Erzählungen ist Teil einer Archäologie des neuen Menschen, mit der Schönthaler die umwälzenden Veränderungen unserer Zeit und der ihr zugehörigen Digitalität zu verstehen versucht.

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Autorenporträt
Philipp Schönthaler, 1976 in Stuttgart geboren, erhielt 2012 für sein Erzähldebüt Nach oben ist das Leben offen den Clemens-Brentano-Preis. Bei Matthes & Seitz Berlin sind bisher fünf Bücher erschienen, der Essay Portrait des Managers als junger Autor wurde 2016 mit dem Preis des Stuttgarter Wirtschaftsclubs ausgezeichnet. Sein Roman Der Weg aller Wellen. Leben und Dienste II setzt die im Erzählband Vor Anbruch der Morgenröte. Leben und Dienste I (2017) begonnene Auseinandersetzung mit der Technologie fort. Er lebt in Berlin.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Es ist eine Mixtur aus "Tribute von Panem" und Orwells "1984", welche der 1976 geborene Schriftsteller Philipp Schönthaler mit seinem aktuellen Erzählband "Vor Anbruch der Morgenröte" liefert, ein Buch, das zwischen gestern und morgen wandelt und nicht vor krassen Spagaten zurückscheut: Während in "Orchid Yards" die einen für mehr Freiheit auf den Straßen demonstrieren, tauscht sich der Vorstand eines Datenmoguls wenige Meter entfernt über die Praxis des Ausspähens aus. In "Die Zone" begibt sich eine Ich-Erzählerin auf eine künstliche Big-Brother-Insel, wo sie von Kameras beobachtet wird. Nichts ist in den dystopischen Welten echt. Selbst der Wilde Westen, den der Autor mit allen Klischees in einer Geschichte heraufbeschwört, wirkt wie ein Relikt. Nachdem einer seiner letzten spätmodernen Cowboys einen Mord begangen hat, wird an ihm nicht nur die archaische Todesstrafe vollzogen, vielmehr wird sein Körper anschließend digitalisiert. Sind die Texte etwas dick aufgetragen? Sicherlich. Auch an plakativen Gegenüberstellungen mangelt es nicht. Doch ihr sprachlicher Variationsreichtum sowie ihre visionäre Energie zeugen von einer Literatur, die Kunstfertigkeit und Gesellschaftskritik klug vereint.

© BÜCHERmagazin, Björn Hayer

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2017

Die Messer sind gewetzt

Zu Hause in Smart-City: Philipp Schönthaler untersucht in seinen Erzählungen, welchen Platz die schöne neue Welt dem Menschen zuweist.

Was ist der Mensch? Eine diskursive Formation, sagte Michel Foucault und prognostizierte sein Verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", weil sich die zentrale Fragestellung (des Menschen) verlagere. Philipp Schönthaler, der mit kulturwissenschaftlich unterfütterten Erzählungen das Zeitalter der Automation vermisst, gibt Foucault zugleich recht und auch wieder nicht. Denn der Autor, der sich extensiv mit unserer Anbiederung ans Technovirtuelle befasst, interessiert sich durchaus für die Rückwirkungen der Medienmoderne auf den alten, ungeschützten Menschen.

Auch in den vorliegenden Erzählungen aus der smarten neuen Wimmelwelt begegnet er uns, Homo nudus, streift etwa als Teilnehmer einer Art Castingshow unbekleidet und zunehmend beklommen über eine zum Set hergerichtete Insel, verfasst umständliche Beschwerdeschreiben an den Betreiber all der Elektronik-Devices im Haushalt, weil ihn eine vermutete Fehlfunktion in Verzweiflung stürzt, oder erlebt die Anlieferung einer hysterisch vermissten Internetbestellung per Drohne als Epiphaniemoment. Einmal ist es sogar der Avatar selbst, der zum Menschen wird. Ein "Serious Games"-Lab hatte einen der letzten Holocaustüberlebenden interviewt, um aus seinen Mitteilungen und Regungen ein virtuelles Gegenüber für zukünftige Generationen voller Fragen über dieses Menschheitsverbrechen zu erschaffen. Aber zum Schrecken der Lab-Betreiber scheint der digitale Klon übermannt zu werden von der Monstrosität der Vorkommnisse: Er verweigert die Aussage.

Es geht immer wieder um solche Umbruchmomente, um das Eindringen des Zweifels in die nur der Idee nach geschlossene Mensch-Maschinen-Logik. Letztere weiß Schönthaler, ein in Fachjargons gebadeter Exaktheitsfanatiker, treffend zu parodieren. Da toben fremdbestimmte Blogger in einer defekten Sprache einen hemmungslosen Markenfetischismus aus ("HB hat die robusten und für die Kinder selbst bei Regen rutschfesten Natural Flagstone-Platten von Steinernewelten.de erst kürzlich verlegt"), da fliegen uns in einer Art Endkundenhypnose die Floskeln aus der BMW-Welt um die Ohren.

Einem Manager, der in edlem Hochhausbüro einer Delegation arabischer Scheichs eine Smart-City andreht, blicken wir während der Absonderung ganzer Verkaufsphrasenkaskaden sogar in den gut gecoachten Kopf. Auch da sehen wir Unordnung aufkommen, weil tief unten, auf dem Boden der Tatsachen, eine außer Kontrolle geratende Demonstration das Gerede von der autonomen Regelung von Verkehrs- und Fußgängerströmen Lügen straft: das Echte im Falschen, Risse im System.

Die Erzählungen Schönthalers besitzen meist eine Handlung, nur gehen sie in dieser nicht auf, sondern sind in erster Linie überhitzte Samplings aus den Begleitgeräuschen der Hypermoderne. Man erkennt allmählich, dass dieses Vokabelgewitter zur Selbststabilisierung labiler Systeme dient, und mehr noch: Diese Labilen, das sind wir. Das erinnert ein wenig an die kritischen Bestandsaufnahmen Kathrin Rögglas, die ebenfalls mittels präziser Sprachpersiflagen andeutet, dass hinter der populären Selbstoptimierung eine neue Unmündigkeit lauert.

Einige Texte gemahnen auch an das Sezieren von Managerseelen durch Rainald Goetz oder an die Reprogrammierung neokultureller Inszenierungen durch Harun Farocki. Und doch befindet sich Schönthaler nicht ganz auf Augenhöhe mit den Genannten, denn den Erzählungen haftet etwas Plakatives an. Da hilft auch keine kluge Bibliographie. Eine Satire über den Würdeverlust unter Dauerbeobachtung hat fast schon Siebzigerjahre-Retrocharme (à la "Das Millionenspiel"), und die Titelerzählung über den ersten einsehbaren Menschen bleibt bei aller Anschaulichkeit seltsam unverbindlich.

Schönthaler rekapituliert hier im Protokollstil die triste Lebensgeschichte des Mörders Joseph Paul Jernigan. Seine Hinrichtung am 5. August 1993 (vor Anbruch der Morgenröte) war zugleich der Startpunkt einer ungewöhnlichen Nachlebensgeschichte, denn Jernigans Körper wurde für das Visible Human Project in fast zweitausend dünne Scheiben zerschnitten, die man digitalisierte und per Software zu einem virtuellen Abbild seines Körpers wieder zusammensetzte. Über das Projekt gibt es allerdings zahlreiche Dokumentationen, Bücher und Artikel, denen Schönthaler wenig hinzufügt.

Dass man in einem Computerprogramm die Körperscheibchen per Knopfdruck zersprengen und neu zusammensetzen kann, kommt auch durch die Bezugnahme auf Jacques Derrida ("Ein Gespenst stirbt nicht") kaum über eine triviale Erkenntnis hinaus. Wichtiger wäre doch, dass man hier - anders als bei neueren bildgebenden Verfahren - noch ganz im Banne der Anatomie des neunzehnten Jahrhunderts stand. In jedem Falle zeigt uns der Autor eindringlich, welchen Platz uns die smarte neue Welt zuweist: einen in der Todeszelle, die Auferstehung als Zombies erwartend.

OLIVER JUNGEN

Philipp Schönthaler: "Vor Anbruch der Morgenröte." Erzählungen.

Matthes & Seitz Verlag,

Berlin 2017. 216 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Begeistert bespricht Rezensent Oliver Pfohlmann Philipp Schönthalers neuen Erzählband "Vor Anbruch der Morgenröte". Die Erzählungen, die allesamt in der nahen Zukunft spielen, seien mal so unerbittlich wie Kleist, mal so klaustrophob wie Kafka und dabei doch immer sprachlich unbedingt ganz in der Gegenwart, so der Rezensent. Besonders gefallen haben Pfohlmann zwei Geschichten: die Titelgeschichte handelt von einem Mörder, der nach seiner Hinrichtung im Rahmen eines Medizinprojekts in "ganz dünne Querschnitte" zersägt wird, anschließend gescannt und am Rechner dreidimensional wieder zusammengesetzt wird - ein "digitaler Wiedergänger", fasst der Rezensent zusammen. Die beste Geschichte sei aber "Der Schweiß der Sonne", findet Pfohlmann, der hier erlebt wie eine über ihr Konsumglück bloggende Mutter durch eine fehlende Lieferung mit ihrer Familie in den Abgrund stürzt. 

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