Theodor Fontane kam die Idee zu diesem historischen Roman bereits Anfang der 1860er Jahre während der Arbeiten an den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", veröffentlichte ihn jedoch erst 1878. Das Oderbruch zum Jahresende 1812: Napoleons Truppen strömen nach dem vernichtenden Rückmarsch aus Russland ins Land. Von patriotischer Begeisterung beflügelt stellen Adelige und Bürger Landsturmkompanien auf, um die Franzosen anzugreifen; Initiator ist Berndt von Vitzewitz, der sich damit ausdrücklich gegen den preußischen König stellt. Sein Sohn Lewin steht der Begeisterung jedoch kritisch gegenüber. Die Zeit zwischen Weihnachten und Sylvester 1812 verbringt die Familie mit Freunden, deren Gespräche von Hoffnungen und Ängsten sowie der Ahnung erfüllt sind, dass umfassende gesellschaftliche Veränderungen bevorstehen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.03.2011Der Geist von Guse
Eines der klügsten Geschichtsbücher zur napoleonischen Ära: Theodor Fontanes Roman „Vor dem Sturm“ in umfassend kommentierter Neuausgabe
Silvester 1812, auf einem Landschloss im märkischen Oderland: Eine Gesellschaft von Gutsherren mit Damen, Geistlichen und auswärtigen Gästen hat sich zum Jahreswechsel versammelt. Der politische Moment ist angespannt, vierzehn Tage zuvor hat ein großes Bulletin aus Paris den Untergang von Napoleons Großer Armee in den russischen Schneewüsten eingeräumt; Preußen steht unmittelbar vor dem Seitenwechsel von Frankreich zu Russland.
Auch im Kleinen, in der Landschaft zwischen Berlin und Küstrin, denkt man an Umbruch: Auf Hohen-Vietz im Oderland wird vom Grafen Vitzewitz eine Partisanenaktion gegen die französische Garnison in Frankfurt geplant, nach Möglichkeit mit Genehmigung des Berliner Ministeriums und des Königs, im Notfall aber auch in eigener Regie. Die Krise erfordert es, zwischen der Loyalität zum „Land“ und der zum „König“ zu unterscheiden: im Zweifel auch ohne König für das Land. 1813, so viel ist klar, soll das Jahr der Befreiung vom französischen Empire werden; doch Prinzipien der Französischen Revolution haben es bis in die Spitzen der preußischen Adelsgesellschaft geschafft.
Der Silvester-Abend aber gilt noch der schönen Kunst, genauer der Musik und dem Theater. Tante Amélie, die Schwester des Hohen-Vietzer Schlossherren, hat eine alte Freundin vom Rheinsberger Hof des Prinzen Heinrich, des ältesten Bruders Friedrichs des Großen, eingeladen, die in Würde gealterte französische Schauspielerin Demoiselle Alceste. Sie kommt aus Urzeiten, hat sie doch schon beim Regierungsantritt Ludwigs XVI. im Jahre 1774 die Hauptrolle in Racines „Phädra“ gespielt, dem edlen Hauptdrama des französischen Klassizismus. So konnte sie die „douceurs de vivre“ des Ancien Régimes noch an ihren höfischen Zentren kennenlernen, bevor das Zeitalter der Revolution sie wegfegte.
Nun, da diese Krisenzeit sich dem Ende zuneigt, tritt Fräulein Alceste im fernen märkischen Schlösschen Guse – unschwer erkennt man das reale Gusow bei Seelow wieder – noch einmal auf, mit ein paar Prunkmonologen, und zwar aus einem Wilhelm-Tell-Drama. Aber nicht Schillers Stück ist es, sondern eine französische Alexandriner-Tragödie „Guillaume Tell“ des inzwischen etwas außer Mode geratenen Autors Antoine-Marin Lemierre, der von 1723 bis 1793 lebte und im vorrevolutionär freiheitlich bewegten Paris noch späte Triumphe gefeiert hatte. Alceste spricht am Ende, aus Höflichkeit gegen ihre preußischen Zuhörer, ein Stück sogar in deutscher Sprache, mit reizendem Akzent.
Aber natürlich muss danach das Gespräch auf Schiller kommen, auf deutsche und französische Kultur, auf die Frage nach dem Vorrang zwischen den beiden „Tell“-Dramen, die so treffend den historischen Augenblick spiegeln, den Moment vor dem Aufstand gegen die Tyrannenmacht; und auch der Konflikt zwischen zwei Nationen, dem altüberlegenen, jetzt so modernen Frankreich, und dem kulturell eben erst erblühten, sich nun auch politisch aufraffenden Deutschland. All das geht in den märkischen Silvesterabend von 1812 ein, und man staunt, mit wie leichter Hand und zarter Schattierung Theodor Fontane in nur 25 Seiten diese epochale Themenfülle im Schlusskapitel des zweiten Teils seines Romans „Vor dem Sturm“ orchestriert: als Konversationsstück in einem behaglich beleuchteten, gut beheizten Innenraum, gelegen inmitten verschneiter Ebenen, die bis nach Russland zu reichen scheinen, mit allem Sternenglanz einer Neujahrsnacht.
Die Szene in Guse ist voraussetzungsreich, aber eigentlich nicht schwer zu lesen; ganz ohne historische, auch kulturhistorische Bildung geht es allerdings nicht. Denn, natürlich, „Vor dem Sturm“ ist ein historischer Roman, er spielt in einer geschichtlichen Umgebung, einer konkreten Region zu einem genau bezeichneten Zeitpunkt. Darum ist das Buch erläuterungsbedürftig wie jeder historische Roman, zugleich aber kann es selbst als Geschichtsbuch dienen, als Ausleuchtung einer realen Situation mit den Mitteln der Fiktion.
Wer sich die Freude machen will, diesen Erkenntnisprozess zwischen historischer Faktizität und fiktionaler Ausdeutung nachzugehen, der hat nun ein ausgezeichnetes Instrument in der umfassend kommentierten, textkritisch präzisierten Neuausgabe, die von Theodor Fontanes erstem und zugleich umfangreichstem Erzählwerk im Rahmen der „Großen Brandenburger Ausgabe“ des Aufbau-Verlags erschienen ist. Hier lernt der Leser nicht nur alle wichtigen historischen Hintergründe des „Vor dem Sturm“-Stoffes kennen, sondern ihm wird durch die Erläuterung der langen Enstehungsgeschichte des Romans in den fünfzehn Jahren vor 1878 auch eine zusätzliche Ebene erschlossen: Fontanes deutsch-französisch grundierter preußischer Befreiungsroman wurde konzipiert und geschrieben exakt in jenen anderthalb Jahrzehnten, als Bismarck die preußisch-deutsche Reichseinigung, am Ende im Konflikt mit Frankreich, durchsetzte. Auch daran war Fontane ja persönlich beteiligt: als Kriegsberichterstatter und Kriegsgefangener in Frankreich 1870, danach als Historiker des deutsch-französischen Krieges.
Wer sich das vor Augen hält, wird in der Guser Silvester-Szene nicht nur das erzählerische Können bewundern, sondern noch etwas Größeres: einen menschlich-politischen Takt, der über den Graben nationaler Feindschaft einen Moment feinster Courtoisie entfaltet. Das gute alte Frankreich mit seiner Lebensart bekommt in Gestalt der Demoiselle Alceste einen ebenso berührenden Auftritt wie das edle deutsche Pathos Schillerscher Prägung; abgewogen werden die Vorzüge einer gleichmäßig hohen höfischen Kultur gegen die selteneren, aber kräftigeren Früchte der deutschen Geniezeit – am Ende bleibt offen, wer besser dasteht, auch wenn die patriotische Empfindung auf preußisch-deutscher Seite vielleicht etwas wärmer strahlt.
„Vor dem Sturm“ wurde nicht das Lieblingsbuch der Fontane-Leser. Aber zu Unrecht; denn man beurteilt dieses epische Großwerk von 800 Seiten falsch, wenn man es mit Fontanes kühnen Berliner Frauenromanen mit ihrer modernen Psychologie und soziologischen Raffinesse vergleicht. „Vor dem Sturm“ muss an den besten Beispielen seines eigenen Genres, eben des historischen Romans, gemessen werden. Und welche Geschichtsromane aus dem 19. Jahrhundert werden heute überhaupt noch gelesen? „Witiko“ mit Qualen, weil er von Stifter ist, der eine oder andere Grenzfall im Werk Raabes, Novellen von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer. Aber Willibald Alexis, Gustav Freytag, um von den noch Unbekannteren dieses einstigen Leitgenres der bürgerlichen Kultur zu schweigen, sind weithin versunken. Auch mit dem Engländer Walter Scott oder dem Franzosen Alexandre Dumas steht es nicht viel besser.
Und so kommt man zu dem Ergebnis, dass sich im 19. Jahrhundert Fontanes Meisterroman in einer durchaus großartigen Umgebung behauptet: Zwischen Alessandro Manzonis „Verlobten“ und Lew Tolstois „Krieg und Frieden“, mit dem „Vor dem Sturm“ ja sogar den Stoff teilt, die napoleonische Zeit, also die Urkatastrophe des 19. Jahrhunderts. Der Vergleich, der sich gerade hier aufdrängt, fällt bei aller Großartigkeit Tolstois nicht durchweg zuungunsten des feineren Fontane aus, gerade was den politisch-menschlichen Takt unter den Bedingungen des Hochnationalismus angeht. Eine Guser Szene hat „Krieg und Frieden“ nicht, dafür viel mehr Raserei, Leidenschaft und Hass.
Natürlich ist „Vor dem Sturm“ schon öfter kommentiert worden, aber noch nie so ausführlich wie jetzt von Christine Hehle. Das Nachwort erzählt die europäische Geschichte von den polnischen Teilungen – Polen spielen eine große und schöne Rolle im Roman – bis zum Brand von Moskau und der Konvention von Tauroggen, in der General Yorck von Wartenburg auf eigene Rechnung den Seitenwechsel des preußischen Russland-Corps vollzog und damit ein Modell für den eigenmächtigen Landaufstand im Roman schuf.
Dass Hohen-Vietz seine realen Vorbilder in den Oderdörfern Reitwein und Friedersdorf hat und dass die dort ansässigen Vitzewitze viel mit der von Fontane bewunderten brillant-reaktionären Adelsfamilie von der Marwitz zu tun hat, erfährt man gebührend. Wer sich in die Anmerkungen vertieft und die Parallelstücke aus den „Wanderungen in der Mark Brandenburg“ heranzieht, braucht eigentlich nur noch eine moderne Landkarte, um alle Schauplätze in der Wirklichkeit aufzusuchen.
Fontanes Ästhetik zielt hier auf Figurenfülle, Reichtum an Handlungssträngen, präzise Kleinmalerei, also auf die Ausleuchtung eines Moments in alle Richtungen, von den sozialen Verhältnissen der ländlichen Gesellschaft bis in die geistige Situation – literarisch informierte Pfarrer zitieren Hölderlin! „Vor dem Sturm“ bezieht in langen Gesprächen sogar die wendisch-germanische Vorgeschichte der Mark ein und spiegelt so das nationale Thema in fernster Hintergründigkeit.
Das führt zu einer erzählerischen Langsamkeit, vor allem zu Beginn, die zeitgenössische Rezensenten befremdet hat und die Fontane durch die Zwischenüberschrift „Es geschieht etwas“ sogar selbst ironisierte. Aber nur so, nur ohne das „Romanblech“ (Fontane) der heute ja meist unerträglich gewordenen Spannungselemente damaligen Erzählens ließ sich die Hintergründigkeit und kluge Gerechtigkeit der Geschichtsdiagnose entfalten, in einer Form, die der Autor bescheiden-stolz „Vielheitsroman“ nannte. Heute erlebt der Leser dieses niedertourige Tempo auch als den Zeitrhythmus einer versunkenen Epoche.
Am Ende wird der Roman dann aber doch richtig spannend. Es gibt Krieg, auf kleiner Bühne, aber doch Krieg. Schade, dass der Verlag keinen Stadtplan des 1945 weitgehend zerstörten Frankfurt an der Oder beigefügt hat – Fontanes durch vorbereitende Exkursionen gestützte Ortsgenauigkeit hätte es verdient. Übrigens sind selbst versteckte Waldwege, auf denen die Freischärler von 1813 vorrückten, dem aufmerksamen Wanderer heute noch zugänglich; es stimmt bei Fontane eben nicht nur in den Berliner Romanen immer alles.
Insofern darf man es bedauern, dass selbst dieser umfangreichste aller „Vor-dem-Sturm“-Kommentare immer noch kleinere Fragen offen lässt: Warum erläutert man den aus dem Söldnerwesen der Renaissance stammenden Satz „Ohne Geld keine Schweizer“ nicht, der übrigens schon um „L’Adultera“-Band derselben Ausgabe unerklärt geblieben war? Die alte Hanser-Ausgabe tut es.
Gibt es abgesehen davon, dass dieser Roman durch die Breite seiner historischen Malerei – eine Alltagsgeschichte, bevor es den Begriff davon gab –, die Zartheit seiner verschlungenen Liebesgeschichten, nicht zuletzt durch seinen Humor und die Dramatik am Ende sehr unterhaltsamer Lesestoff ist, einen ernsten Grund, ihn heute noch zu lesen? Ja, denn er verhandelt ein erst in den Generationen nach Fontane tragisch gewordenes Grundproblem der preußisch-deutschen Geschichte: die Frage von Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit und Treue gegen das Vaterland.
Dass Gehorsam und patriotische Treue nicht zusammenfallen müssen, ist das Grundthema des Buches – es hat vielfältige preußische Resonanzen, in der Geschichte der eigensinnigen Familie von der Marwitz, die Fontane im Oderland-Band der „Wanderungen“ erzählte, im Aufstand Friedrichs des Großen gegen seinen Vater, in Kleists Drama „Der Prinz von Homburg“ und, ganz zu Ende, in der Verschwörung des 20. Juli gegen Hitler. Auch in diesen Bezügen darf „Vor dem Sturm“, eines der klügsten Geschichtsbücher deutscher Sprache, gelesen werden.
GUSTAV SEIBT
THEODOR FONTANE: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. Große Brandenburger Ausgabe, herausgegeben und kommentiert von Christine Hehle. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 2 Bände, zusammen 1225 Seiten, 68 Euro.
Im märkischen Silvesterabend
des Jahres 1812 spiegelt sich
der große Epochenkonflikt
Die Form, in die er seine
Geschichtsdiagnose hüllte, nannte
Fontane selbst „Vielheitsroman“
Der Sturm, der sich in Theodor Fontanes Roman ankündigt: Schlacht bei Hagelberg am 27. August 1813 Foto: Mary Evans Picture Library
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Eines der klügsten Geschichtsbücher zur napoleonischen Ära: Theodor Fontanes Roman „Vor dem Sturm“ in umfassend kommentierter Neuausgabe
Silvester 1812, auf einem Landschloss im märkischen Oderland: Eine Gesellschaft von Gutsherren mit Damen, Geistlichen und auswärtigen Gästen hat sich zum Jahreswechsel versammelt. Der politische Moment ist angespannt, vierzehn Tage zuvor hat ein großes Bulletin aus Paris den Untergang von Napoleons Großer Armee in den russischen Schneewüsten eingeräumt; Preußen steht unmittelbar vor dem Seitenwechsel von Frankreich zu Russland.
Auch im Kleinen, in der Landschaft zwischen Berlin und Küstrin, denkt man an Umbruch: Auf Hohen-Vietz im Oderland wird vom Grafen Vitzewitz eine Partisanenaktion gegen die französische Garnison in Frankfurt geplant, nach Möglichkeit mit Genehmigung des Berliner Ministeriums und des Königs, im Notfall aber auch in eigener Regie. Die Krise erfordert es, zwischen der Loyalität zum „Land“ und der zum „König“ zu unterscheiden: im Zweifel auch ohne König für das Land. 1813, so viel ist klar, soll das Jahr der Befreiung vom französischen Empire werden; doch Prinzipien der Französischen Revolution haben es bis in die Spitzen der preußischen Adelsgesellschaft geschafft.
Der Silvester-Abend aber gilt noch der schönen Kunst, genauer der Musik und dem Theater. Tante Amélie, die Schwester des Hohen-Vietzer Schlossherren, hat eine alte Freundin vom Rheinsberger Hof des Prinzen Heinrich, des ältesten Bruders Friedrichs des Großen, eingeladen, die in Würde gealterte französische Schauspielerin Demoiselle Alceste. Sie kommt aus Urzeiten, hat sie doch schon beim Regierungsantritt Ludwigs XVI. im Jahre 1774 die Hauptrolle in Racines „Phädra“ gespielt, dem edlen Hauptdrama des französischen Klassizismus. So konnte sie die „douceurs de vivre“ des Ancien Régimes noch an ihren höfischen Zentren kennenlernen, bevor das Zeitalter der Revolution sie wegfegte.
Nun, da diese Krisenzeit sich dem Ende zuneigt, tritt Fräulein Alceste im fernen märkischen Schlösschen Guse – unschwer erkennt man das reale Gusow bei Seelow wieder – noch einmal auf, mit ein paar Prunkmonologen, und zwar aus einem Wilhelm-Tell-Drama. Aber nicht Schillers Stück ist es, sondern eine französische Alexandriner-Tragödie „Guillaume Tell“ des inzwischen etwas außer Mode geratenen Autors Antoine-Marin Lemierre, der von 1723 bis 1793 lebte und im vorrevolutionär freiheitlich bewegten Paris noch späte Triumphe gefeiert hatte. Alceste spricht am Ende, aus Höflichkeit gegen ihre preußischen Zuhörer, ein Stück sogar in deutscher Sprache, mit reizendem Akzent.
Aber natürlich muss danach das Gespräch auf Schiller kommen, auf deutsche und französische Kultur, auf die Frage nach dem Vorrang zwischen den beiden „Tell“-Dramen, die so treffend den historischen Augenblick spiegeln, den Moment vor dem Aufstand gegen die Tyrannenmacht; und auch der Konflikt zwischen zwei Nationen, dem altüberlegenen, jetzt so modernen Frankreich, und dem kulturell eben erst erblühten, sich nun auch politisch aufraffenden Deutschland. All das geht in den märkischen Silvesterabend von 1812 ein, und man staunt, mit wie leichter Hand und zarter Schattierung Theodor Fontane in nur 25 Seiten diese epochale Themenfülle im Schlusskapitel des zweiten Teils seines Romans „Vor dem Sturm“ orchestriert: als Konversationsstück in einem behaglich beleuchteten, gut beheizten Innenraum, gelegen inmitten verschneiter Ebenen, die bis nach Russland zu reichen scheinen, mit allem Sternenglanz einer Neujahrsnacht.
Die Szene in Guse ist voraussetzungsreich, aber eigentlich nicht schwer zu lesen; ganz ohne historische, auch kulturhistorische Bildung geht es allerdings nicht. Denn, natürlich, „Vor dem Sturm“ ist ein historischer Roman, er spielt in einer geschichtlichen Umgebung, einer konkreten Region zu einem genau bezeichneten Zeitpunkt. Darum ist das Buch erläuterungsbedürftig wie jeder historische Roman, zugleich aber kann es selbst als Geschichtsbuch dienen, als Ausleuchtung einer realen Situation mit den Mitteln der Fiktion.
Wer sich die Freude machen will, diesen Erkenntnisprozess zwischen historischer Faktizität und fiktionaler Ausdeutung nachzugehen, der hat nun ein ausgezeichnetes Instrument in der umfassend kommentierten, textkritisch präzisierten Neuausgabe, die von Theodor Fontanes erstem und zugleich umfangreichstem Erzählwerk im Rahmen der „Großen Brandenburger Ausgabe“ des Aufbau-Verlags erschienen ist. Hier lernt der Leser nicht nur alle wichtigen historischen Hintergründe des „Vor dem Sturm“-Stoffes kennen, sondern ihm wird durch die Erläuterung der langen Enstehungsgeschichte des Romans in den fünfzehn Jahren vor 1878 auch eine zusätzliche Ebene erschlossen: Fontanes deutsch-französisch grundierter preußischer Befreiungsroman wurde konzipiert und geschrieben exakt in jenen anderthalb Jahrzehnten, als Bismarck die preußisch-deutsche Reichseinigung, am Ende im Konflikt mit Frankreich, durchsetzte. Auch daran war Fontane ja persönlich beteiligt: als Kriegsberichterstatter und Kriegsgefangener in Frankreich 1870, danach als Historiker des deutsch-französischen Krieges.
Wer sich das vor Augen hält, wird in der Guser Silvester-Szene nicht nur das erzählerische Können bewundern, sondern noch etwas Größeres: einen menschlich-politischen Takt, der über den Graben nationaler Feindschaft einen Moment feinster Courtoisie entfaltet. Das gute alte Frankreich mit seiner Lebensart bekommt in Gestalt der Demoiselle Alceste einen ebenso berührenden Auftritt wie das edle deutsche Pathos Schillerscher Prägung; abgewogen werden die Vorzüge einer gleichmäßig hohen höfischen Kultur gegen die selteneren, aber kräftigeren Früchte der deutschen Geniezeit – am Ende bleibt offen, wer besser dasteht, auch wenn die patriotische Empfindung auf preußisch-deutscher Seite vielleicht etwas wärmer strahlt.
„Vor dem Sturm“ wurde nicht das Lieblingsbuch der Fontane-Leser. Aber zu Unrecht; denn man beurteilt dieses epische Großwerk von 800 Seiten falsch, wenn man es mit Fontanes kühnen Berliner Frauenromanen mit ihrer modernen Psychologie und soziologischen Raffinesse vergleicht. „Vor dem Sturm“ muss an den besten Beispielen seines eigenen Genres, eben des historischen Romans, gemessen werden. Und welche Geschichtsromane aus dem 19. Jahrhundert werden heute überhaupt noch gelesen? „Witiko“ mit Qualen, weil er von Stifter ist, der eine oder andere Grenzfall im Werk Raabes, Novellen von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer. Aber Willibald Alexis, Gustav Freytag, um von den noch Unbekannteren dieses einstigen Leitgenres der bürgerlichen Kultur zu schweigen, sind weithin versunken. Auch mit dem Engländer Walter Scott oder dem Franzosen Alexandre Dumas steht es nicht viel besser.
Und so kommt man zu dem Ergebnis, dass sich im 19. Jahrhundert Fontanes Meisterroman in einer durchaus großartigen Umgebung behauptet: Zwischen Alessandro Manzonis „Verlobten“ und Lew Tolstois „Krieg und Frieden“, mit dem „Vor dem Sturm“ ja sogar den Stoff teilt, die napoleonische Zeit, also die Urkatastrophe des 19. Jahrhunderts. Der Vergleich, der sich gerade hier aufdrängt, fällt bei aller Großartigkeit Tolstois nicht durchweg zuungunsten des feineren Fontane aus, gerade was den politisch-menschlichen Takt unter den Bedingungen des Hochnationalismus angeht. Eine Guser Szene hat „Krieg und Frieden“ nicht, dafür viel mehr Raserei, Leidenschaft und Hass.
Natürlich ist „Vor dem Sturm“ schon öfter kommentiert worden, aber noch nie so ausführlich wie jetzt von Christine Hehle. Das Nachwort erzählt die europäische Geschichte von den polnischen Teilungen – Polen spielen eine große und schöne Rolle im Roman – bis zum Brand von Moskau und der Konvention von Tauroggen, in der General Yorck von Wartenburg auf eigene Rechnung den Seitenwechsel des preußischen Russland-Corps vollzog und damit ein Modell für den eigenmächtigen Landaufstand im Roman schuf.
Dass Hohen-Vietz seine realen Vorbilder in den Oderdörfern Reitwein und Friedersdorf hat und dass die dort ansässigen Vitzewitze viel mit der von Fontane bewunderten brillant-reaktionären Adelsfamilie von der Marwitz zu tun hat, erfährt man gebührend. Wer sich in die Anmerkungen vertieft und die Parallelstücke aus den „Wanderungen in der Mark Brandenburg“ heranzieht, braucht eigentlich nur noch eine moderne Landkarte, um alle Schauplätze in der Wirklichkeit aufzusuchen.
Fontanes Ästhetik zielt hier auf Figurenfülle, Reichtum an Handlungssträngen, präzise Kleinmalerei, also auf die Ausleuchtung eines Moments in alle Richtungen, von den sozialen Verhältnissen der ländlichen Gesellschaft bis in die geistige Situation – literarisch informierte Pfarrer zitieren Hölderlin! „Vor dem Sturm“ bezieht in langen Gesprächen sogar die wendisch-germanische Vorgeschichte der Mark ein und spiegelt so das nationale Thema in fernster Hintergründigkeit.
Das führt zu einer erzählerischen Langsamkeit, vor allem zu Beginn, die zeitgenössische Rezensenten befremdet hat und die Fontane durch die Zwischenüberschrift „Es geschieht etwas“ sogar selbst ironisierte. Aber nur so, nur ohne das „Romanblech“ (Fontane) der heute ja meist unerträglich gewordenen Spannungselemente damaligen Erzählens ließ sich die Hintergründigkeit und kluge Gerechtigkeit der Geschichtsdiagnose entfalten, in einer Form, die der Autor bescheiden-stolz „Vielheitsroman“ nannte. Heute erlebt der Leser dieses niedertourige Tempo auch als den Zeitrhythmus einer versunkenen Epoche.
Am Ende wird der Roman dann aber doch richtig spannend. Es gibt Krieg, auf kleiner Bühne, aber doch Krieg. Schade, dass der Verlag keinen Stadtplan des 1945 weitgehend zerstörten Frankfurt an der Oder beigefügt hat – Fontanes durch vorbereitende Exkursionen gestützte Ortsgenauigkeit hätte es verdient. Übrigens sind selbst versteckte Waldwege, auf denen die Freischärler von 1813 vorrückten, dem aufmerksamen Wanderer heute noch zugänglich; es stimmt bei Fontane eben nicht nur in den Berliner Romanen immer alles.
Insofern darf man es bedauern, dass selbst dieser umfangreichste aller „Vor-dem-Sturm“-Kommentare immer noch kleinere Fragen offen lässt: Warum erläutert man den aus dem Söldnerwesen der Renaissance stammenden Satz „Ohne Geld keine Schweizer“ nicht, der übrigens schon um „L’Adultera“-Band derselben Ausgabe unerklärt geblieben war? Die alte Hanser-Ausgabe tut es.
Gibt es abgesehen davon, dass dieser Roman durch die Breite seiner historischen Malerei – eine Alltagsgeschichte, bevor es den Begriff davon gab –, die Zartheit seiner verschlungenen Liebesgeschichten, nicht zuletzt durch seinen Humor und die Dramatik am Ende sehr unterhaltsamer Lesestoff ist, einen ernsten Grund, ihn heute noch zu lesen? Ja, denn er verhandelt ein erst in den Generationen nach Fontane tragisch gewordenes Grundproblem der preußisch-deutschen Geschichte: die Frage von Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit und Treue gegen das Vaterland.
Dass Gehorsam und patriotische Treue nicht zusammenfallen müssen, ist das Grundthema des Buches – es hat vielfältige preußische Resonanzen, in der Geschichte der eigensinnigen Familie von der Marwitz, die Fontane im Oderland-Band der „Wanderungen“ erzählte, im Aufstand Friedrichs des Großen gegen seinen Vater, in Kleists Drama „Der Prinz von Homburg“ und, ganz zu Ende, in der Verschwörung des 20. Juli gegen Hitler. Auch in diesen Bezügen darf „Vor dem Sturm“, eines der klügsten Geschichtsbücher deutscher Sprache, gelesen werden.
GUSTAV SEIBT
THEODOR FONTANE: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. Große Brandenburger Ausgabe, herausgegeben und kommentiert von Christine Hehle. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 2 Bände, zusammen 1225 Seiten, 68 Euro.
Im märkischen Silvesterabend
des Jahres 1812 spiegelt sich
der große Epochenkonflikt
Die Form, in die er seine
Geschichtsdiagnose hüllte, nannte
Fontane selbst „Vielheitsroman“
Der Sturm, der sich in Theodor Fontanes Roman ankündigt: Schlacht bei Hagelberg am 27. August 1813 Foto: Mary Evans Picture Library
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