Seit Boris Moser seine Agentur für verworfene Ideen eröffnet hatte, war niemand anderes als er selbst durch die Eingangstür getreten. Nun stand diese Frau vor seinem Schreibtisch, Rebecca. Kastanienbraunes Haar fiel auf ihre Schultern, und ihre Augen leuchteten. Während Boris noch darüber sinnierte, ob ihre elegante Nase ihr einen evolutionären Vorteil einbrachte, sprach Rebecca ihn an. Schlagartig wurde Boris klar, dass er diese Frau nie wieder gehen lassen durfte. Und dann tat er etwas, das er sonst unter allen Umständen vermieden hätte: Er erzählte ihr von einem verworfenen Romananfang. Er erzählte ihr von Sophia, die für ihren Auftraggeber eine Geschichte aufschrieb. Sie handelte von dem Wissenschaftler Heiner, der kurz davor stand, den Sinn des Lebens zu ergründen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2008Vom Landen im Müll
Willkommen in der Agentur für verworfene Ideen: Jakob Hein lässt seinen faustischen Romanhelden Boris Moser an der Informationsfülle der Moderne verzweifeln.
Was soll ich anstellen mit meinen Jahren zwischen Wiege und Grab?" Das ist eine gute Frage, über die Jakob Hein sicher nachgedacht hat, bevor er sich ein Leben als Oberarzt an der Berliner Charité ausgesucht hat und dann noch eines als Schriftsteller. Als solcher geht er sonntagabends ins Kaffee Burger, um dort Texte zu präsentieren. Er ist Mitglied der Reformbühne Heim & Welt und schreibt auf, was er erlebt hat - in seiner Ost-Berliner Jugendzeit, in Amerika, bei dem Verlust seiner Mutter. Vor vier Jahren veröffentlichte er ein unsentimentales Familienporträt, das auch den berühmten Vater Christoph Hein am Schreibtisch zeigt.
Der Sohn besitzt einen zarten, manchmal scharfen, oft komischen Blick auf die Wirklichkeit, und der besticht auch in seinen Romanen. Die Geschichte eines arbeitslosen Briefträgers, der sich dem Nichtstun verschreibt, "Herr Jensen steigt aus", hat unlängst eine große Leserschaft überzeugt. Für sein neues Buch hat Jakob Hein ein umtriebigeres Personal gewählt, aber auch dieses stellt sich die Frage: "Was soll ich anstellen mit meinen Jahren zwischen Wiege und Grab?" Eine vorläufige Antwort findet Boris Moser, der Protagonist der ersten Erzählebene dieser mehrfach verschachtelten Geschichte. Er eröffnet eine "Agentur für verworfene Ideen" und archiviert abgebrochene Gedankensplitter in der Hoffnung, diese später wiederzuverwenden. Viel hat er damit nicht zu tun, und so reagiert er erfreut, als eine schöne Frau sich auf seinem Besuchersessel niederlässt. Ihr erzählt er auch von seiner Sammlung aussortierter Romananfänge unter steter Beteuerung, kein Schriftsteller werden zu wollen. Das Gespräch bietet Anlass für flapsige Bemerkungen: Man solle die Menschheit doch um Himmels Willen nicht am Wegwerfen beschriebenen Papiers hindern! Aber da rutschen wir bereits in die zweite Erzählebene, denn der inzwischen verliebte Ideensammler gibt einen seiner Romananfänge preis.
In der nun erzählten Geschichte sitzt ein Arzt des Nachts am Bett einer Komapatientin. Auch der junge Mediziner fragt sich, ob er das richtige Leben führt und was er eigentlich will. Mitten hinein in seine müden, zwischen komischen Krankenhausszenen und Verzweiflung taumelnden Gedanken meldet sich die Stimme der bewusstlosen Frau. Mit ihr bekommt das bis dahin schon verspielte Buch eine phantastische Note. Denn die leblose Frau erläutert dem behandelnden Arzt die Gründe ihres Zusammenbruchs. Sie kann die Hoffnungen, Träume und Gedanken der Menschen lesen, und das ist kein Spaß. Sophia nennt sich eine "blütenweiße Leinwand in Menschengestalt", die jedem das zeigt, was er gerne hätte. Eingestreute Kurzbiographien beglaubigen das. Warum aber wird ausgerechnet diese zuvorkommende Person als "gefallener Engel" bezeichnet? Ein klassischer Gottesbote würde den Leuten wohl den Weg zum Heil weisen. Hier werden ihnen nur die unerfüllten Wünsche gezeigt.
Jakob Hein lässt den überforderten Engel aus seinem Leben erzählen. In jeder Geschichte steckt eine neue Geschichte - das Prinzip der russischen Puppe, aus der sich immer kleinere Püppchen hervorzaubern lassen, wie Hein überhaupt das Zaubern mit ähnlichen Figuren und Motiven liebt. Wir sehen also Sophia als Sekretärin im Haus eines alten, blinden, missgelaunten Schriftstellers. Abgesehen davon, dass sich die Reflexionen über das Schreiben hier fortsetzen, nutzt Hein den Monolog dieses Misanthropen, um eine seiner Stärken auszuspielen: das Karikieren großer und kleiner Verirrungen des modernen Mitteleuropäers. Seine Reiselust erscheint komisch verzerrt. Der gegenwartsdiagnostische Blick trifft aber auch den rituellen Eifer bei der Zubereitung von Kaffee oder Tee. Nur das Leiden am Informationsüberfluss geht über die rein satirische Darstellung hinaus. Es ist dem Autor kulturkritischer Ernst und eine neue Erzählebene wert.
Nummer vier und harter Kern des Buches ist das Manuskript des alten Mannes, in welchem er die Beschleunigung der Welt mit Goethe "veluziferisch" nennt. Die Hinweise verdichten sich, dass hier mit einem großen, bereits von einigen Vorgängern bearbeiteten Stoff gespielt wird - natürlich vielfach gebrochen, ironisch und gut postmodern. Alles andere wäre ja auch schlichter Wahnsinn oder blanke Provokation. So wie beim Quasi-Namensvetter Heine, der laut eigener Überlieferung bei seinem einzigen Besuch in Weimar auf Goethes Frage, woran er denn arbeite, geantwortet haben will: "An einem Faust." Auch Hein entwirft einen melancholischen Wissenschaftler, der sich fragt, was er mit seinem Leben anfangen soll, einen Nachtarbeiter, der es sich zum Ziel gesetzt hat, aus den wichtigsten Büchern der Menschheit ein Mosaik zusammenzusetzen, das die bisherigen Erkenntnisse zu einem Ganzen fügt. Es fehlt nicht mehr viel, nur die tägliche Menge an Mails hindert ihn noch daran, den Lebenssinn zu erfassen. Das ruft einen mysteriösen Mann auf den Plan, den prominentesten der gefallenen Engel. Er macht ein mephistophelisches Angebot.
So locker und witzig Jakob Hein mit dem übermächtigen Bezugstext umgeht, so ernst nimmt er die Erkenntnis: Uns bleibt nichts als das ewige Suchen und Streben.
SANDRA KERSCHBAUMER
Jakob Hein: "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht". Roman. Piper Verlag, München 2008. 175 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Willkommen in der Agentur für verworfene Ideen: Jakob Hein lässt seinen faustischen Romanhelden Boris Moser an der Informationsfülle der Moderne verzweifeln.
Was soll ich anstellen mit meinen Jahren zwischen Wiege und Grab?" Das ist eine gute Frage, über die Jakob Hein sicher nachgedacht hat, bevor er sich ein Leben als Oberarzt an der Berliner Charité ausgesucht hat und dann noch eines als Schriftsteller. Als solcher geht er sonntagabends ins Kaffee Burger, um dort Texte zu präsentieren. Er ist Mitglied der Reformbühne Heim & Welt und schreibt auf, was er erlebt hat - in seiner Ost-Berliner Jugendzeit, in Amerika, bei dem Verlust seiner Mutter. Vor vier Jahren veröffentlichte er ein unsentimentales Familienporträt, das auch den berühmten Vater Christoph Hein am Schreibtisch zeigt.
Der Sohn besitzt einen zarten, manchmal scharfen, oft komischen Blick auf die Wirklichkeit, und der besticht auch in seinen Romanen. Die Geschichte eines arbeitslosen Briefträgers, der sich dem Nichtstun verschreibt, "Herr Jensen steigt aus", hat unlängst eine große Leserschaft überzeugt. Für sein neues Buch hat Jakob Hein ein umtriebigeres Personal gewählt, aber auch dieses stellt sich die Frage: "Was soll ich anstellen mit meinen Jahren zwischen Wiege und Grab?" Eine vorläufige Antwort findet Boris Moser, der Protagonist der ersten Erzählebene dieser mehrfach verschachtelten Geschichte. Er eröffnet eine "Agentur für verworfene Ideen" und archiviert abgebrochene Gedankensplitter in der Hoffnung, diese später wiederzuverwenden. Viel hat er damit nicht zu tun, und so reagiert er erfreut, als eine schöne Frau sich auf seinem Besuchersessel niederlässt. Ihr erzählt er auch von seiner Sammlung aussortierter Romananfänge unter steter Beteuerung, kein Schriftsteller werden zu wollen. Das Gespräch bietet Anlass für flapsige Bemerkungen: Man solle die Menschheit doch um Himmels Willen nicht am Wegwerfen beschriebenen Papiers hindern! Aber da rutschen wir bereits in die zweite Erzählebene, denn der inzwischen verliebte Ideensammler gibt einen seiner Romananfänge preis.
In der nun erzählten Geschichte sitzt ein Arzt des Nachts am Bett einer Komapatientin. Auch der junge Mediziner fragt sich, ob er das richtige Leben führt und was er eigentlich will. Mitten hinein in seine müden, zwischen komischen Krankenhausszenen und Verzweiflung taumelnden Gedanken meldet sich die Stimme der bewusstlosen Frau. Mit ihr bekommt das bis dahin schon verspielte Buch eine phantastische Note. Denn die leblose Frau erläutert dem behandelnden Arzt die Gründe ihres Zusammenbruchs. Sie kann die Hoffnungen, Träume und Gedanken der Menschen lesen, und das ist kein Spaß. Sophia nennt sich eine "blütenweiße Leinwand in Menschengestalt", die jedem das zeigt, was er gerne hätte. Eingestreute Kurzbiographien beglaubigen das. Warum aber wird ausgerechnet diese zuvorkommende Person als "gefallener Engel" bezeichnet? Ein klassischer Gottesbote würde den Leuten wohl den Weg zum Heil weisen. Hier werden ihnen nur die unerfüllten Wünsche gezeigt.
Jakob Hein lässt den überforderten Engel aus seinem Leben erzählen. In jeder Geschichte steckt eine neue Geschichte - das Prinzip der russischen Puppe, aus der sich immer kleinere Püppchen hervorzaubern lassen, wie Hein überhaupt das Zaubern mit ähnlichen Figuren und Motiven liebt. Wir sehen also Sophia als Sekretärin im Haus eines alten, blinden, missgelaunten Schriftstellers. Abgesehen davon, dass sich die Reflexionen über das Schreiben hier fortsetzen, nutzt Hein den Monolog dieses Misanthropen, um eine seiner Stärken auszuspielen: das Karikieren großer und kleiner Verirrungen des modernen Mitteleuropäers. Seine Reiselust erscheint komisch verzerrt. Der gegenwartsdiagnostische Blick trifft aber auch den rituellen Eifer bei der Zubereitung von Kaffee oder Tee. Nur das Leiden am Informationsüberfluss geht über die rein satirische Darstellung hinaus. Es ist dem Autor kulturkritischer Ernst und eine neue Erzählebene wert.
Nummer vier und harter Kern des Buches ist das Manuskript des alten Mannes, in welchem er die Beschleunigung der Welt mit Goethe "veluziferisch" nennt. Die Hinweise verdichten sich, dass hier mit einem großen, bereits von einigen Vorgängern bearbeiteten Stoff gespielt wird - natürlich vielfach gebrochen, ironisch und gut postmodern. Alles andere wäre ja auch schlichter Wahnsinn oder blanke Provokation. So wie beim Quasi-Namensvetter Heine, der laut eigener Überlieferung bei seinem einzigen Besuch in Weimar auf Goethes Frage, woran er denn arbeite, geantwortet haben will: "An einem Faust." Auch Hein entwirft einen melancholischen Wissenschaftler, der sich fragt, was er mit seinem Leben anfangen soll, einen Nachtarbeiter, der es sich zum Ziel gesetzt hat, aus den wichtigsten Büchern der Menschheit ein Mosaik zusammenzusetzen, das die bisherigen Erkenntnisse zu einem Ganzen fügt. Es fehlt nicht mehr viel, nur die tägliche Menge an Mails hindert ihn noch daran, den Lebenssinn zu erfassen. Das ruft einen mysteriösen Mann auf den Plan, den prominentesten der gefallenen Engel. Er macht ein mephistophelisches Angebot.
So locker und witzig Jakob Hein mit dem übermächtigen Bezugstext umgeht, so ernst nimmt er die Erkenntnis: Uns bleibt nichts als das ewige Suchen und Streben.
SANDRA KERSCHBAUMER
Jakob Hein: "Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht". Roman. Piper Verlag, München 2008. 175 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2008In der Agentur für verworfene Ideen wird sich ja wohl ein Roman finden
Ein Kinderbuchautor für Erwachsene: Jakob Heins „Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht” schöpft aus 1001 Geschichte
Lässt sich aus verworfenen Ideen ein Roman machen? Ein Roman zudem, der aus einer Sammlung von Romananfängen besteht? Für Jakob Hein ist es kinderleicht, dieses Kunststück zu vollbringen. Anstrengung ist seinem Schreiben grundsätzlich nicht anzumerken. Aus einer Pointe als Ausgangspunkt wächst die Geschichte. Heins Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist so groß wie seine Sicherheit im Erzählen, und seine Einfälle sind so reichlich, dass er zur Verschwendung neigt. In einem eher schmalen Buch bringt er gleich drei oder vier Geschichten unter, die wie Schachteln ineinander stecken. Andere Autoren würden aus jedem dieser Einfälle einen ganzen Roman machen. Er leistet sich den Luxus, sie nicht zu Ende zu erzählen. Das schöne Bedauern, wenn ein beglückendes Buch ausgelesen ist, stellt sich in „Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht” deshalb gleich mehrfach ein.
Gelber Zettel mit Klebstoff
Die äußere, rahmende Geschichte handelt von einem jungen Mann, der einen Ladenraum bezogen hat und dort eine „Agentur für verworfene Ideen” betreibt. Da sitzt er am Schreibtisch und wartet darauf, dass die Menschen ihm Ideen zutragen, mit denen sie nicht fertig geworden sind, die aber vielleicht noch brauchbar sein könnten, wenn man sie mit anderen Ideen verknüpft – so wie aus der Erfindung von schlechtem Klebstoff in Kombination mit kleinen gelben Zetteln eine nützliche Sache geworden ist. Die Idee mit den verworfenen Ideen ist als solche charmant. Das Problem ist aber, dass niemand diese Agentur aufsucht, und dass der junge Mann der einzige Produzent, Lieferant und Abnehmer seiner Ideen ist. Bis ihm der Zufall, den man niemals unterschätzen sollte, eine schöne junge Frau in den Laden führt, der er seine Ideen wie ein Warensortiment vorführt. Damit sie ihn nicht wieder verlässt, beginnt er zu erzählen, und obwohl er behauptet, alles zu sammeln außer Romananfängen (weil die inflationär vorhanden und deshalb nichts wert sind), kommt er über eine Sammlung von Anfängen nicht hinaus. Doch eigentlich steckt in den Anfängen schon die ganze Geschichte, und der nächste Anfang ergibt sich daraus organisch.
Da geht es zunächst um eine Frau, die auf der Straße zusammenbricht und ins Koma fällt. Im Krankenhaus offenbart sie sich einem Pfleger als Engel oder als ein Wesen, das alle Wünsche der Menschen auf sich zieht und nun unter der Last der geballten Projektionen zusammengebrochen ist. Sie arbeitete – und das ist dann schon die nächste Geschichte – bei einem alten, blinden Schriftsteller, der maulwurfshaft misanthropisch an einem Roman herumtüftelt. Sie schreibt sein Diktat auf einer Schreibmaschine, die aber mit seltsamen thailändischen Schriftzeichen best ckt ist: Das Ergebnis ist also eine Art Geheimschrift. Man könnte auch sagen: Die Geschichte geht in dem Moment verloren, in dem er sie ihr erzählt. Diese Geschichte ist eine komische Variante auf den Faust-Stoff: Ein junger Forscher, der kurz davor ist, den Sinn des Lebens zu ergründen, geht einen Pakt mit dem Teufel ein. Er will an einen Ort gebracht werden, an dem er ungestört arbeiten kann, und wird in eine Hütte im Fränkischen, Mitten im 15. Jahrhundert, versetzt. Da hat er nun das Problem, dass er zwar in Ruhe forschen kann – ohne Ablenkung durch Internet und andere Medien. Aber wie soll er seine Ergebnisse publizieren? Der Teufel hat ihn ausgetrickst. Vermutlich liegt es daran, dass wir im 21. Jahrhundert den Sinn des Lebens immer noch nicht kennen.
Tagträumer und Einzelgänger
Jakob Hein ist vermutlich ein verhinderter Kinderbuchautor. Jedenfalls schreibt er Kinderbücher für Erwachsene. Seine Sätze sind klar und einfach; er muss sich nicht stilistisch aufplustern und wichtig machen. Die Figuren, für die er eine Vorliebe hat, kennt man aus Kinderbüchern: seltsame Erfinder oder Sammler, Engel und Zauberer. All die Sonderlinge und Tagträumer und phantasiebegabten Einzelgänger, die in der rauen Gesellschaftswirklichkeit untergehen müssten, sind dort die wahren Helden. Dazu passt seine freundliche Aversion gegen alles Karriereglatte, gegen Mode- und Medienjunkies, gegen Rucksäcke, Geld und rüstige Rentner, die sinnlos in der Welt herumreisen. Das ist grundsympathisch. Literatur ist auch dafür da, um solchen Gefühlen Asyl zu gewähren.
Dass Hein im Hauptberuf als Arzt in der Berliner Charité arbeitet, ist dem Roman in den Passagen, die im Krankenhaus spielen, anzumerken. Auch da schafft die Literatur eine bewohnbare Gegenwelt. Der Erforscher des Lebenssinns spricht es aus: „Wenn ich mir ansehe, mit welchen lächerlichen Methoden Menschen probieren, unser lächerliches Leben zu verlängern, kann ich darüber nur lachen.” Die Medizin versuche krampfhaft, das menschliche Leben in die Zukunft hinein auszudehnen. Die Literatur dagegen erlaube, es in die Vergangenheit hinein zu erweitern: „Anstatt darum zu kämpfen, weitere zwei oder zehn Jahre in eine mir immer unverständlicher werdende Zukunft zu stolpern, wandere ich in Begleitung der klügsten Köpfe durch die Epochen.” So spricht der Autor, denn der Arzt darf so nicht reden. Der Sinn des Lebens bleibt zwar ungelöst. Dass in diesem Roman aber tatsächlich die großen Fragen anklingen, ohne dass Leichtigkeit und Heiterkeit dabei verloren gehen, das ist bewundernswert genug. Und wahrscheinlich ist ja auch der Sinn des Lebens nicht mehr als eine verworfene Idee. JÖRG MAGENAU
JAKOB HEIN: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht. Roman. Piper Verlag, München 2008. 176 Seiten, 16,90 Euro.
Jakob Hein Foto: dpa
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Kinderbuchautor für Erwachsene: Jakob Heins „Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht” schöpft aus 1001 Geschichte
Lässt sich aus verworfenen Ideen ein Roman machen? Ein Roman zudem, der aus einer Sammlung von Romananfängen besteht? Für Jakob Hein ist es kinderleicht, dieses Kunststück zu vollbringen. Anstrengung ist seinem Schreiben grundsätzlich nicht anzumerken. Aus einer Pointe als Ausgangspunkt wächst die Geschichte. Heins Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist so groß wie seine Sicherheit im Erzählen, und seine Einfälle sind so reichlich, dass er zur Verschwendung neigt. In einem eher schmalen Buch bringt er gleich drei oder vier Geschichten unter, die wie Schachteln ineinander stecken. Andere Autoren würden aus jedem dieser Einfälle einen ganzen Roman machen. Er leistet sich den Luxus, sie nicht zu Ende zu erzählen. Das schöne Bedauern, wenn ein beglückendes Buch ausgelesen ist, stellt sich in „Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht” deshalb gleich mehrfach ein.
Gelber Zettel mit Klebstoff
Die äußere, rahmende Geschichte handelt von einem jungen Mann, der einen Ladenraum bezogen hat und dort eine „Agentur für verworfene Ideen” betreibt. Da sitzt er am Schreibtisch und wartet darauf, dass die Menschen ihm Ideen zutragen, mit denen sie nicht fertig geworden sind, die aber vielleicht noch brauchbar sein könnten, wenn man sie mit anderen Ideen verknüpft – so wie aus der Erfindung von schlechtem Klebstoff in Kombination mit kleinen gelben Zetteln eine nützliche Sache geworden ist. Die Idee mit den verworfenen Ideen ist als solche charmant. Das Problem ist aber, dass niemand diese Agentur aufsucht, und dass der junge Mann der einzige Produzent, Lieferant und Abnehmer seiner Ideen ist. Bis ihm der Zufall, den man niemals unterschätzen sollte, eine schöne junge Frau in den Laden führt, der er seine Ideen wie ein Warensortiment vorführt. Damit sie ihn nicht wieder verlässt, beginnt er zu erzählen, und obwohl er behauptet, alles zu sammeln außer Romananfängen (weil die inflationär vorhanden und deshalb nichts wert sind), kommt er über eine Sammlung von Anfängen nicht hinaus. Doch eigentlich steckt in den Anfängen schon die ganze Geschichte, und der nächste Anfang ergibt sich daraus organisch.
Da geht es zunächst um eine Frau, die auf der Straße zusammenbricht und ins Koma fällt. Im Krankenhaus offenbart sie sich einem Pfleger als Engel oder als ein Wesen, das alle Wünsche der Menschen auf sich zieht und nun unter der Last der geballten Projektionen zusammengebrochen ist. Sie arbeitete – und das ist dann schon die nächste Geschichte – bei einem alten, blinden Schriftsteller, der maulwurfshaft misanthropisch an einem Roman herumtüftelt. Sie schreibt sein Diktat auf einer Schreibmaschine, die aber mit seltsamen thailändischen Schriftzeichen best ckt ist: Das Ergebnis ist also eine Art Geheimschrift. Man könnte auch sagen: Die Geschichte geht in dem Moment verloren, in dem er sie ihr erzählt. Diese Geschichte ist eine komische Variante auf den Faust-Stoff: Ein junger Forscher, der kurz davor ist, den Sinn des Lebens zu ergründen, geht einen Pakt mit dem Teufel ein. Er will an einen Ort gebracht werden, an dem er ungestört arbeiten kann, und wird in eine Hütte im Fränkischen, Mitten im 15. Jahrhundert, versetzt. Da hat er nun das Problem, dass er zwar in Ruhe forschen kann – ohne Ablenkung durch Internet und andere Medien. Aber wie soll er seine Ergebnisse publizieren? Der Teufel hat ihn ausgetrickst. Vermutlich liegt es daran, dass wir im 21. Jahrhundert den Sinn des Lebens immer noch nicht kennen.
Tagträumer und Einzelgänger
Jakob Hein ist vermutlich ein verhinderter Kinderbuchautor. Jedenfalls schreibt er Kinderbücher für Erwachsene. Seine Sätze sind klar und einfach; er muss sich nicht stilistisch aufplustern und wichtig machen. Die Figuren, für die er eine Vorliebe hat, kennt man aus Kinderbüchern: seltsame Erfinder oder Sammler, Engel und Zauberer. All die Sonderlinge und Tagträumer und phantasiebegabten Einzelgänger, die in der rauen Gesellschaftswirklichkeit untergehen müssten, sind dort die wahren Helden. Dazu passt seine freundliche Aversion gegen alles Karriereglatte, gegen Mode- und Medienjunkies, gegen Rucksäcke, Geld und rüstige Rentner, die sinnlos in der Welt herumreisen. Das ist grundsympathisch. Literatur ist auch dafür da, um solchen Gefühlen Asyl zu gewähren.
Dass Hein im Hauptberuf als Arzt in der Berliner Charité arbeitet, ist dem Roman in den Passagen, die im Krankenhaus spielen, anzumerken. Auch da schafft die Literatur eine bewohnbare Gegenwelt. Der Erforscher des Lebenssinns spricht es aus: „Wenn ich mir ansehe, mit welchen lächerlichen Methoden Menschen probieren, unser lächerliches Leben zu verlängern, kann ich darüber nur lachen.” Die Medizin versuche krampfhaft, das menschliche Leben in die Zukunft hinein auszudehnen. Die Literatur dagegen erlaube, es in die Vergangenheit hinein zu erweitern: „Anstatt darum zu kämpfen, weitere zwei oder zehn Jahre in eine mir immer unverständlicher werdende Zukunft zu stolpern, wandere ich in Begleitung der klügsten Köpfe durch die Epochen.” So spricht der Autor, denn der Arzt darf so nicht reden. Der Sinn des Lebens bleibt zwar ungelöst. Dass in diesem Roman aber tatsächlich die großen Fragen anklingen, ohne dass Leichtigkeit und Heiterkeit dabei verloren gehen, das ist bewundernswert genug. Und wahrscheinlich ist ja auch der Sinn des Lebens nicht mehr als eine verworfene Idee. JÖRG MAGENAU
JAKOB HEIN: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht. Roman. Piper Verlag, München 2008. 176 Seiten, 16,90 Euro.
Jakob Hein Foto: dpa
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sandra Kerschbaumer lässt sich vom "scharfen, oft komischen Blick" in den Bann ziehen, den Jakob Hein, Oberarzt, Schriftsteller und Sohn von Christoph Hein, in seinem verschachtelt konstruierten Roman auf die Realität wirft. Boris Moser, Hauptfigur einer ersten Erzählebene, betreibt eine "Agentur für verworfene Ideen" und laboriert, wie alle anderen Protagonisten des Romans übrigens auch, an der existentiellen Frage, wie man sein Leben leben sollte, lesen wir. Diese Frage zieht sich auch durch die Erzählung einer bewusstlosen Frau, die unter der Last fremder Gedanken und Hoffnungen schier zusammengebrochen ist, und eines blinden unfrohen Schriftstellers, beides Protagonisten weiterer Erzählebenen, bemerkt Kerschbaumer bei ihrer Rekapitulation der komplexen Handlung. Dabei offenbart der Autor sein Talent, die Befindlichkeiten und Spleens des "modernen Mitteleuropäers" zu karikieren, so die Rezensentin amüsiert. Aber auch eine gehörige Portion Kulturkritik, insbesondere Kritik an der Informationsflut, der der moderne Mensch ausgesetzt ist, sei Hein so wichtig, dass er dafür noch eine weitere - die vierte - Erzählebene einziehe, in der er nichts Geringeres als den Faust-Stoff aufgreife. Dies selbstredend "ironisch und gut postmodern", was wegen des locker-komischen Tons bei allem Ernst, mit dem sich Hein dieses gewichtigen Themas annimmt, auch amüsant zu lesen ist, wie Kerschbaumer beteuert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH