Dieser Band versammelt einundzwanzig ironisch-hintergründige Geschichten, moderne Märchen und unaufdringliche Parabeln. Widmer zieht Traumpfade durch Kultur und Unkultur, auf der Suche nach unserer Geschichte. Zum Epochensprung ruft Widmer in Erinnerung, daß die Welt einmal schön war.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.1999Gärtchen Eden
Die Erlösung der Menschheit aus Urs Widmers Hut
Ein großräumig ausgreifender Erzähler ist der Schweizer Urs Widmer nicht. Seine Romane fassen sich kurz. Die Geschichten, die er jetzt unter dem Titel "Vor uns die Sintflut" versammelt hat, gehen selten über fünf, sechs Seiten hinaus. Kurzgeschichten sind es darum nicht, keine "snapshots of life"; sie zielen nicht aufs Detail, auf Krisis und Wendung eines Lebens, sondern gehen immer aufs Ganze.
Das wird zusammengedrängt auf engstem Raum, so daß die Erzählung schnell parabelhafte Züge annimmt. Andere Lehn- und Leihformen sind Märchen, Skizze, Mythos, Groteske: Miniaturen mit Maximalinhalten. Gott geht in diesen Geschichten ein und aus und herum, einmal etwa in einem verschlissenen Mantel aus Armeebeständen und mit Regenschirm. Er wohnt im Gotthard (was zeigt, daß Widmer auch den Kalauer nicht verschmäht) und ist eigentlich nur des Herrgotts Bruder: "Mein Bruder hat alles außen. Ich alles innen." Innen, im Gotthard-Massiv, ist es paradiesisch schön - und noch Platz vorhanden: "In Eden sind wir nicht viele." Sagt's und verschwindet, ohne die Zeche zu bezahlen.
Der Tonfall, den Widmer anschlägt, hat manchmal eine gewollte Hübschheit und Verspieltheit. Das gibt den Geschichten zuweilen etwas Puppenhaftes, und wie in Rossinis ernsten Opern will das Hüpfen und Tänzeln nicht zu den Dingen passen, die da verhandelt werden: daß es um die Schöpfung (Widmer verschmäht auch solche Wörter nicht) schlecht steht, daß der Mensch sich ruiniert hat und eigentlich abtreten sollte. Weil Widmer aber kein Prediger, sondern ein Erzähler ist, erzählt er, wie es ist, wenn der Mensch schon abgetreten ist. "Nach allen Kriegen", so heißt das letzte Stück der Sammlung, haben nur zwei Exemplare der mißratenen Spezies homo sapiens die Umwelt- und Selbstzerstörung überlebt, und die - ein John Mills und ein Hansueli Äschlimann - erledigen sich in einem finalen Duell gegenseitig. Die Erde kann aufatmen - und, ausgehend von einem tibetischen Bergstamm, den Widmer aus dem Hut gezaubert hat, langsam wieder Menschen aufnehmen.
Ja, die Menschen: Denen gelten der gewaltige Zorn und die ganze hilflose Zuneigung des Autors. Andere als paradoxe Gefühle sind für sie nicht vorstellbar. Deshalb kippen die Geschichten auch immer wieder um ihre eigene Achse, und deshalb leisten Thema und Tonfall einander permanent Widerstand. Die ganze Welt preßt Widmer in seine Nußschalen oder auch nur, was wir uns in unseren klischeeverstopften Hirnen davon vorstellen: Alle Kaukasier sind uralt, die Chinesen grausam ("An allen Straßenecken wurde geköpft, daß es eine Art hatte") und die Schweizer - nun, das ist ein eigenes Kapitel.
Die vorletzte und schönste Geschichte der Sammlung gilt ihnen, den Landsleuten. Sie heißt "Wir sind das Volk" und bringt Verdichtung und Miniaturisierung zum Höhepunkt: Jeder Schweizer eine Geschichte, jede Geschichte ein Satz. Das hält der Autor nur bis Nummer achtundfünfzig aus, nicht, weil ihm die Puste ausgeht, sondern weil jetzt endlich der Stoff die Form sprengt. Die Sätze entfalten ihre inneren Widersprüche, und aus der Aufzählung entspringen lauter Protogeschichten. Etwa diese: "Einer will die Eigernordwand ganz allein durchklettern, obwohl ihm alle, der Wetterprognose wegen, abraten. Er stürzt ins Seil und wird in einem Einsatz bei Nacht und Sturm von den Bergführern, die ihn gewarnt haben, gerettet. Er fährt nach Hause und reicht Klage gegen sie ein, weil sie ihn unsachgemäß abgeseilt und dabei seine Ausrüstung erheblich beschädigt hätten." Auf diese Weise könnte Widmer eine ganze Schweiz erzählen. Oder, noch besser: neu erfinden. MARTIN EBEL
Urs Widmer: "Vor uns die Sintflut". Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 1998. 160 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Erlösung der Menschheit aus Urs Widmers Hut
Ein großräumig ausgreifender Erzähler ist der Schweizer Urs Widmer nicht. Seine Romane fassen sich kurz. Die Geschichten, die er jetzt unter dem Titel "Vor uns die Sintflut" versammelt hat, gehen selten über fünf, sechs Seiten hinaus. Kurzgeschichten sind es darum nicht, keine "snapshots of life"; sie zielen nicht aufs Detail, auf Krisis und Wendung eines Lebens, sondern gehen immer aufs Ganze.
Das wird zusammengedrängt auf engstem Raum, so daß die Erzählung schnell parabelhafte Züge annimmt. Andere Lehn- und Leihformen sind Märchen, Skizze, Mythos, Groteske: Miniaturen mit Maximalinhalten. Gott geht in diesen Geschichten ein und aus und herum, einmal etwa in einem verschlissenen Mantel aus Armeebeständen und mit Regenschirm. Er wohnt im Gotthard (was zeigt, daß Widmer auch den Kalauer nicht verschmäht) und ist eigentlich nur des Herrgotts Bruder: "Mein Bruder hat alles außen. Ich alles innen." Innen, im Gotthard-Massiv, ist es paradiesisch schön - und noch Platz vorhanden: "In Eden sind wir nicht viele." Sagt's und verschwindet, ohne die Zeche zu bezahlen.
Der Tonfall, den Widmer anschlägt, hat manchmal eine gewollte Hübschheit und Verspieltheit. Das gibt den Geschichten zuweilen etwas Puppenhaftes, und wie in Rossinis ernsten Opern will das Hüpfen und Tänzeln nicht zu den Dingen passen, die da verhandelt werden: daß es um die Schöpfung (Widmer verschmäht auch solche Wörter nicht) schlecht steht, daß der Mensch sich ruiniert hat und eigentlich abtreten sollte. Weil Widmer aber kein Prediger, sondern ein Erzähler ist, erzählt er, wie es ist, wenn der Mensch schon abgetreten ist. "Nach allen Kriegen", so heißt das letzte Stück der Sammlung, haben nur zwei Exemplare der mißratenen Spezies homo sapiens die Umwelt- und Selbstzerstörung überlebt, und die - ein John Mills und ein Hansueli Äschlimann - erledigen sich in einem finalen Duell gegenseitig. Die Erde kann aufatmen - und, ausgehend von einem tibetischen Bergstamm, den Widmer aus dem Hut gezaubert hat, langsam wieder Menschen aufnehmen.
Ja, die Menschen: Denen gelten der gewaltige Zorn und die ganze hilflose Zuneigung des Autors. Andere als paradoxe Gefühle sind für sie nicht vorstellbar. Deshalb kippen die Geschichten auch immer wieder um ihre eigene Achse, und deshalb leisten Thema und Tonfall einander permanent Widerstand. Die ganze Welt preßt Widmer in seine Nußschalen oder auch nur, was wir uns in unseren klischeeverstopften Hirnen davon vorstellen: Alle Kaukasier sind uralt, die Chinesen grausam ("An allen Straßenecken wurde geköpft, daß es eine Art hatte") und die Schweizer - nun, das ist ein eigenes Kapitel.
Die vorletzte und schönste Geschichte der Sammlung gilt ihnen, den Landsleuten. Sie heißt "Wir sind das Volk" und bringt Verdichtung und Miniaturisierung zum Höhepunkt: Jeder Schweizer eine Geschichte, jede Geschichte ein Satz. Das hält der Autor nur bis Nummer achtundfünfzig aus, nicht, weil ihm die Puste ausgeht, sondern weil jetzt endlich der Stoff die Form sprengt. Die Sätze entfalten ihre inneren Widersprüche, und aus der Aufzählung entspringen lauter Protogeschichten. Etwa diese: "Einer will die Eigernordwand ganz allein durchklettern, obwohl ihm alle, der Wetterprognose wegen, abraten. Er stürzt ins Seil und wird in einem Einsatz bei Nacht und Sturm von den Bergführern, die ihn gewarnt haben, gerettet. Er fährt nach Hause und reicht Klage gegen sie ein, weil sie ihn unsachgemäß abgeseilt und dabei seine Ausrüstung erheblich beschädigt hätten." Auf diese Weise könnte Widmer eine ganze Schweiz erzählen. Oder, noch besser: neu erfinden. MARTIN EBEL
Urs Widmer: "Vor uns die Sintflut". Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 1998. 160 S., geb., 32,- DM.
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"Widmer spielt souverän auf der gesamten ihm zur Verfügung stehenden literarischen Klaviatur. Egon Friedells Kulturgeschichte der Menschheit hat selbst in einer ökonomisch gedruckten Ausgabe mehr als 1500 Seiten; wenn Sie es - auch weil man bis zum Jahr 2000 nicht mehr so viel Zeit hat - knapper und witziger auf 164 Seiten haben wollen, lesen Sie Widmer." (Berliner Morgenpost) "Urs Widmer's works are a sensuous and intellectual delight at one and the same time." (Tages-Anzeiger)