Produktdetails
- Verlag: DuMont Buchverlag
- Seitenzahl: 336
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 502g
- ISBN-13: 9783770152308
- ISBN-10: 3770152301
- Artikelnr.: 24178071
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2000Schneefall auf Koksnasen
Dem Tabu entrückt: Eine Anthologie russischer junger Erzähler
Viktor Jerofejew, der agile Autor, der seinen Ort zwischen den Welten Rußland und Deutschland gefunden hat, immer bemüht, den einen wie den anderen Büchermarkt zu bedienen, sorgt erneut für Aufregung. Mit der Anthologie "Vorbereitung für die Orgie", die gleichzeitig in russischer und deutscher Version erscheint, stellt er die jüngste Generation russischer Erzähler vor. Eine Generation, die die "Andere Prosa" und den Konzeptualismus der heute Fünfzig- und Sechzigjährigen längst hinter sich gelassen hat und mit frisch gemischten Karten ins Spiel der Literatur eintritt.
Zwischen 1962 und 1975 geboren, zum überwiegenden Teil in Moskau zu Hause, zeigen die 22 Autorinnen und Autoren, daß man das Erzählen in Rußland wieder mit Kraft und Können beherrscht. Keine Spur mehr von Experimenten oder Minimalismen, vielmehr ein neues, derbes Vertrauen in Erzählung und Beschreibung, oft mit einer Dosis phantastischer oder bewußtseinserweiternder Substanz - so stellt sich die junge Phalanx dar. Jerofejew reiht sie unter das Rubrum "Neuer Text", was natürlich am wenigsten chronologisch zu verstehen ist. Die jungen Schriftsteller, beteuert der Herausgeber, gehörten zur ersten Generation freier Menschen in der gesamten russischen Geschichte. Die junge Literatur glaube nicht an "glückliche" soziale Veränderungen oder moralisches Pathos, lebe ohne staatliche und innere Zensur und summe allenfalls irgendwelche Jingles aus der Werbung vor sich hin. Unter "inneren Organen" verstehe sie Leber und Nieren. Im großen und ganzen überwiege das Bedürfnis nach einem Leben ohne Extreme.
Die Anthologie bekräftigt eine Erneuerung von Erzählmodellen, die an traditionelle russische Narrationskunst anknüpfen. So mit den großartigen Vergegenwärtigungen von Kindheitserfahrungen in den Erzählungen "Großvater Apollonskij" von Jekaterina Sadur, "Misa" von Aleksandr Kutinov oder der "Kindergeschichte" von Aleksandra Danilova, die Ehestreit und Scheidung aus der Sicht des Kindes nachzeichnet. Auch ein "klassisch" erzähltes Stück wie die umwerfenden Liebes- und Saufabenteuer eines leichtsinnigen Helden im fernöstlichen Ussurijsk (in "Die Fliege oder Lavrentij Zajcev" des Autorengespanns Vladimir Belobrov und Oleg Popov) besticht noch immer durch die Genauigkeit und Pointiertheit der Darbietung.
Einprägsame Frauengestalten, verkommen oder etabliert, auf jeden Fall aber selbstbewußt und unabhängig, bevölkern den Band. Solschenizyn konterkarierend, protokolliert Elena Muljarova den Tagesablauf einer Journalistin ebenso wie Sofja Kuprjasina den einer Trinkerin, die sich zwischen Moskva und der Ausnüchterungszelle herumtreibt. In Arkadij Pasternaks Erzählung "Sonja, die Schlampe", in der Moskauer "Szene" angesiedelt, bleibt bis zum Schluß unklar, ob das Teufelsweib Sonja eine Mafiosa oder ein Hauptmann der Innentruppe war. In Sarapovas "Kosmische Nachtmahre" erscheint eine selbständige Frau als "Außerirdische" einfach darum, weil sie weder trinkt noch raucht.
In einer solchen literarischen Welt kann die Groteske nicht fehlen. Aleksandr Selin läßt Menschen und weiße Klaviere im finsteren Wald verschwinden, Viktorija Fomina in "Marmoriertes Fleisch" eine vegetarische Buddhistin und einen Fleischproduzenten zusammentreffen. Es gibt im "Neuen Text" keine Helden mehr. Und so kann Kuprjasinas "Besuch bei Graf Tolstoj" nur in einer gänzlich überflüssigen, geschmacklosen Persiflage auf den großen Schriftsteller bestehen, deren einzige Rechtfertigung man darin sehen mag, daß sie auf einem Mißverständnis beruht.
Neu am "Neuen Text" sind demnach weniger die Erzählformen als vielmehr die Themen und Haltungen, die sie transportieren. Eine totale Tabulosigkeit, eine dreiste Abgebrühtheit, eine Eiseskälte des Sehens und Erlebens durchziehen diesen Band von Anfang bis Ende. Abgesehen von einigen buddhistischen Einsprengseln, fehlen ideologische Akzente fast vollständig. Vor allem ist von der für die russische Literatur sprichwörtlichen Prüderie kein Rest mehr geblieben. Hatte Jerofejew bereits 1998 mit dem Band "Die russischen Blumen des Bösen" das Abräumen der Tabus in der Dissidenten- und Wendeliteratur dokumentiert, so läßt sein neuer Band die Exerzitien der älteren Generation weit hinter sich. Das pornographische Vokabular wird weidlich ausgeschöpft, als gehöre es nun vollends zur literatursprachlichen Normalität.
Zwar weckt der kurze Text "Vorbereitung für die Orgie" von Pawel Pepperstejn, dem ehemaligen Konzeptualisten, da er lediglich von unschuldigen Zurichtungen im harmlosen Ambiente eines verfallenden Schulhauses berichtet, noch ungewisse Erwartungen, doch lassen die angekündigten Sexorgien nicht lange auf sich warten. Sie stammen, exzessiv ausgeführt, von Bajan Sijanov, von dem nach New York emigrierten Jaroslav Mogutin und dem in London lebenden Efim Sveklicnyj. Mit der obsessiven Beschreibungsgenauigkeit, die den Literaturhistorikern aus der "natürlichen Schule" der 1840er Jahre bekannt ist, werden die sexuellen Handlungen bei den genannten Autoren in die Zeitlupe schlechter Unendlichkeit gewendet.
Mogutin gibt in seiner homophilen, durch Kokaingenuß gehemmten Anordnung sogar seine Poetik preis: "Keine Ahnung, wie's andere machen, aber ich schreibe mit Sperma." Die gigantische Dogge Ginger, Zeuge der verknoteten Körper im Zimmer, wird, unmenschlich traurige Laute ausstoßend, zur mißbilligenden Stimme der Moral und Sittlichkeit. Ist das Ironie? Eher wohl nur die Leere der auf das Animalische heruntergefahrenen Akteure. Jerofejew glaubt indes, daß das "Herunterdrücken auf pornographisch Konkretes bis zu besseren Zeiten" sich auch in Europa zum Merkmal des anbrechenden Jahrhunderts entwickeln werde.
Vorerst aber zeichnet sich in der Welt der Ausgeflippten und Ausgestoßenen, der Spekulanten und Neureichen eine geistige und kulturelle Ödnis ab, eine Apathie und Perspektivlosigkeit, die schaudern macht. Die Menschen sind, wie bei Gorki, "auf dem Grund" gelandet, doch es findet sich niemand, der Utopien verkünden, Hoffnung predigen könnte oder wollte. Jerofejew hat wohl recht, wenn er vom langsamen Absterben der von "großen Ideen" beherrschten Literatur spricht, denn deren wichtigster Motor, die Idee der Befreiung, fehle nun. So spricht aus dem "Neuen Text" weder Trotz noch Aufbegehren, sondern allein eine illusionslose Nüchternheit, hinter der sich am Ende nicht einmal Verzweiflung oder Verlorenheit breitmacht. Als Diagnose der gegenwärtigen Befindlichkeit junger russischer Menschen genommen, stimmt der Band den Leser nachdenklich und traurig. Man kann leider nicht umhin, Viktor Jerofejew zuzustimmen, wenn er schreibt: "Rußland wird im Neuen Text beiseite geschoben, da in dem Punkt ohnehin alles klar und bislang nichts zu ändern ist. Diagnose: paranoides Delirium."
REINHARD LAUER
"Vorbereitung für die Orgie". Junge russische Literatur. Herausgegeben von Viktor Jerofejew. DuMont Buchverlag, Köln 2000. 336 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dem Tabu entrückt: Eine Anthologie russischer junger Erzähler
Viktor Jerofejew, der agile Autor, der seinen Ort zwischen den Welten Rußland und Deutschland gefunden hat, immer bemüht, den einen wie den anderen Büchermarkt zu bedienen, sorgt erneut für Aufregung. Mit der Anthologie "Vorbereitung für die Orgie", die gleichzeitig in russischer und deutscher Version erscheint, stellt er die jüngste Generation russischer Erzähler vor. Eine Generation, die die "Andere Prosa" und den Konzeptualismus der heute Fünfzig- und Sechzigjährigen längst hinter sich gelassen hat und mit frisch gemischten Karten ins Spiel der Literatur eintritt.
Zwischen 1962 und 1975 geboren, zum überwiegenden Teil in Moskau zu Hause, zeigen die 22 Autorinnen und Autoren, daß man das Erzählen in Rußland wieder mit Kraft und Können beherrscht. Keine Spur mehr von Experimenten oder Minimalismen, vielmehr ein neues, derbes Vertrauen in Erzählung und Beschreibung, oft mit einer Dosis phantastischer oder bewußtseinserweiternder Substanz - so stellt sich die junge Phalanx dar. Jerofejew reiht sie unter das Rubrum "Neuer Text", was natürlich am wenigsten chronologisch zu verstehen ist. Die jungen Schriftsteller, beteuert der Herausgeber, gehörten zur ersten Generation freier Menschen in der gesamten russischen Geschichte. Die junge Literatur glaube nicht an "glückliche" soziale Veränderungen oder moralisches Pathos, lebe ohne staatliche und innere Zensur und summe allenfalls irgendwelche Jingles aus der Werbung vor sich hin. Unter "inneren Organen" verstehe sie Leber und Nieren. Im großen und ganzen überwiege das Bedürfnis nach einem Leben ohne Extreme.
Die Anthologie bekräftigt eine Erneuerung von Erzählmodellen, die an traditionelle russische Narrationskunst anknüpfen. So mit den großartigen Vergegenwärtigungen von Kindheitserfahrungen in den Erzählungen "Großvater Apollonskij" von Jekaterina Sadur, "Misa" von Aleksandr Kutinov oder der "Kindergeschichte" von Aleksandra Danilova, die Ehestreit und Scheidung aus der Sicht des Kindes nachzeichnet. Auch ein "klassisch" erzähltes Stück wie die umwerfenden Liebes- und Saufabenteuer eines leichtsinnigen Helden im fernöstlichen Ussurijsk (in "Die Fliege oder Lavrentij Zajcev" des Autorengespanns Vladimir Belobrov und Oleg Popov) besticht noch immer durch die Genauigkeit und Pointiertheit der Darbietung.
Einprägsame Frauengestalten, verkommen oder etabliert, auf jeden Fall aber selbstbewußt und unabhängig, bevölkern den Band. Solschenizyn konterkarierend, protokolliert Elena Muljarova den Tagesablauf einer Journalistin ebenso wie Sofja Kuprjasina den einer Trinkerin, die sich zwischen Moskva und der Ausnüchterungszelle herumtreibt. In Arkadij Pasternaks Erzählung "Sonja, die Schlampe", in der Moskauer "Szene" angesiedelt, bleibt bis zum Schluß unklar, ob das Teufelsweib Sonja eine Mafiosa oder ein Hauptmann der Innentruppe war. In Sarapovas "Kosmische Nachtmahre" erscheint eine selbständige Frau als "Außerirdische" einfach darum, weil sie weder trinkt noch raucht.
In einer solchen literarischen Welt kann die Groteske nicht fehlen. Aleksandr Selin läßt Menschen und weiße Klaviere im finsteren Wald verschwinden, Viktorija Fomina in "Marmoriertes Fleisch" eine vegetarische Buddhistin und einen Fleischproduzenten zusammentreffen. Es gibt im "Neuen Text" keine Helden mehr. Und so kann Kuprjasinas "Besuch bei Graf Tolstoj" nur in einer gänzlich überflüssigen, geschmacklosen Persiflage auf den großen Schriftsteller bestehen, deren einzige Rechtfertigung man darin sehen mag, daß sie auf einem Mißverständnis beruht.
Neu am "Neuen Text" sind demnach weniger die Erzählformen als vielmehr die Themen und Haltungen, die sie transportieren. Eine totale Tabulosigkeit, eine dreiste Abgebrühtheit, eine Eiseskälte des Sehens und Erlebens durchziehen diesen Band von Anfang bis Ende. Abgesehen von einigen buddhistischen Einsprengseln, fehlen ideologische Akzente fast vollständig. Vor allem ist von der für die russische Literatur sprichwörtlichen Prüderie kein Rest mehr geblieben. Hatte Jerofejew bereits 1998 mit dem Band "Die russischen Blumen des Bösen" das Abräumen der Tabus in der Dissidenten- und Wendeliteratur dokumentiert, so läßt sein neuer Band die Exerzitien der älteren Generation weit hinter sich. Das pornographische Vokabular wird weidlich ausgeschöpft, als gehöre es nun vollends zur literatursprachlichen Normalität.
Zwar weckt der kurze Text "Vorbereitung für die Orgie" von Pawel Pepperstejn, dem ehemaligen Konzeptualisten, da er lediglich von unschuldigen Zurichtungen im harmlosen Ambiente eines verfallenden Schulhauses berichtet, noch ungewisse Erwartungen, doch lassen die angekündigten Sexorgien nicht lange auf sich warten. Sie stammen, exzessiv ausgeführt, von Bajan Sijanov, von dem nach New York emigrierten Jaroslav Mogutin und dem in London lebenden Efim Sveklicnyj. Mit der obsessiven Beschreibungsgenauigkeit, die den Literaturhistorikern aus der "natürlichen Schule" der 1840er Jahre bekannt ist, werden die sexuellen Handlungen bei den genannten Autoren in die Zeitlupe schlechter Unendlichkeit gewendet.
Mogutin gibt in seiner homophilen, durch Kokaingenuß gehemmten Anordnung sogar seine Poetik preis: "Keine Ahnung, wie's andere machen, aber ich schreibe mit Sperma." Die gigantische Dogge Ginger, Zeuge der verknoteten Körper im Zimmer, wird, unmenschlich traurige Laute ausstoßend, zur mißbilligenden Stimme der Moral und Sittlichkeit. Ist das Ironie? Eher wohl nur die Leere der auf das Animalische heruntergefahrenen Akteure. Jerofejew glaubt indes, daß das "Herunterdrücken auf pornographisch Konkretes bis zu besseren Zeiten" sich auch in Europa zum Merkmal des anbrechenden Jahrhunderts entwickeln werde.
Vorerst aber zeichnet sich in der Welt der Ausgeflippten und Ausgestoßenen, der Spekulanten und Neureichen eine geistige und kulturelle Ödnis ab, eine Apathie und Perspektivlosigkeit, die schaudern macht. Die Menschen sind, wie bei Gorki, "auf dem Grund" gelandet, doch es findet sich niemand, der Utopien verkünden, Hoffnung predigen könnte oder wollte. Jerofejew hat wohl recht, wenn er vom langsamen Absterben der von "großen Ideen" beherrschten Literatur spricht, denn deren wichtigster Motor, die Idee der Befreiung, fehle nun. So spricht aus dem "Neuen Text" weder Trotz noch Aufbegehren, sondern allein eine illusionslose Nüchternheit, hinter der sich am Ende nicht einmal Verzweiflung oder Verlorenheit breitmacht. Als Diagnose der gegenwärtigen Befindlichkeit junger russischer Menschen genommen, stimmt der Band den Leser nachdenklich und traurig. Man kann leider nicht umhin, Viktor Jerofejew zuzustimmen, wenn er schreibt: "Rußland wird im Neuen Text beiseite geschoben, da in dem Punkt ohnehin alles klar und bislang nichts zu ändern ist. Diagnose: paranoides Delirium."
REINHARD LAUER
"Vorbereitung für die Orgie". Junge russische Literatur. Herausgegeben von Viktor Jerofejew. DuMont Buchverlag, Köln 2000. 336 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Reinhard Lauer bescheinigt der in diesem Sammelband vertretenen jungen Generation russischer Autoren ein gerütteltes Maß an "Kraft und Können", an Phantasie und Erzählkunst - wodurch sie sich seiner Ansicht nach von den bisweilen minimalistischen Experimenten einiger ihrer Vorgänger unterscheiden. Dennoch sieht er durchaus auch Anknüpfungspunkte an die "russische Narrationskunst". Allerdings sei nicht mehr viel zu spüren von Ideologie, von der Angst vor Zensur, Pathos, Heldentum und auch Utopien. An deren Stelle treten seiner Ansicht nach vielmehr groteske Elemente, eine überraschende "Tabulosigkeit", gerade auch in sexueller Hinsicht, die in deutlichem Kontrast zur "sprichwörtlichen Prüderie" der bisherigen russischen Literatur stünden. Bedauerlich scheint Lauer es allerdings zu finden, dass die Texte zu weiten Teilen auch von Illusionslosigkeit und sogar Kälte geprägt sind. Der Blick, der hier auf die Gefühlswelt junger Russen eröffnet wird "stimmt (...) den Leser nachdenklich und traurig", so Lauer.
© Perlentaucher Medien GmbH
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