"Was tun Sie, wenn Sie einen Menschen lieben?", wird Herr Keuner gefragt. Brecht lässt ihn antworten: "Ich mache einen Entwurf von ihm, und sorge, dass er ihm ähnlich wird", natürlich nicht der Entwurf, sondern der Mensch. Vorbilder sind Puppen, Masken, Modelle; sie sind Götter, Stars, Prominente, und sie überzeugen ihr Publikum als Maßstäbe, Phantasmen, Ideale. Vorbilder verkörpern, was zur Wirklichkeit treibt. In ihnen manifestiert sich ein unbedingter Wille zur Realität. Auch wenn diese Realität im eigenen Tod gipfelt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.12.2011Sachbücher des
Monats Januar
Empfohlen werden nach einer monatlicherstellten Rangliste Bücherder Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. DOUG SAUNDERS: Arrival City. Übersetzt von Werner Roller, Blessing Verlag, 576 Seiten, 22,95 Euro.
2. VOLKER PERTHES:Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, Pantheon Verlag, 223 Seiten, 12,99 Euro
3. ANDREAS TÖNNESMANN: Monopoly: Das Spiel, die Stadt und das Glück, Verlag Klaus Wagenbach, 160 Seiten, 22,90 Euro.
4. THEA DORN, RICHARD WAGNER: Die deutsche Seele, Albrecht Knaus Verlag, 554 S., 26,99 Euro.
5. ORLANDO FIGES: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Übersetzt von Bernd Rullkötter, Berlin Verlag, 747 Seiten, 36 Euro.
6. OTTFRIED DASCHER: „Es ist etwas Wahnsinniges mit der Kunst“. Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler und Verleger, Nimbus Verlag, 511 Seiten, 39,80 Euro.
7.-9. THOMAS MACHO:Vorbilder, Wilhelm Fink Verlag, 477 Seiten, 39,90 Euro.
JOSEPH NYE:Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter. Übersetzt von Karl Heinz Sieber, Siedler Verlag, 383 Seiten, 24,99 Euro.
KARL-WILHELM WELWEI: Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus, Verlag Ferdinand Schöningh, 587 Seiten, 49,90 Euro.
10. Norbert Leithold: Friedrich II. von Preußen. Ein kulturgeschichtliches Panorama von A bis Z, Eichborn Verlag (Die Andere Bibliothek), 436 Seiten, 32 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats Januar von Andreas Wang: Chronik der philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert. Erarbeitet von Arnim Regenbogen, Felix Meiner Verlag, 639 Seiten, 68 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Jacques Schuster, Norbert Seitz, Hilal Sezgin, Elisabeth von Thadden, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
Die nächste SZ/NDR/BuchJournal-
Liste der Sachbücher des Monats erscheint am 31. Januar 2012.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Monats Januar
Empfohlen werden nach einer monatlicherstellten Rangliste Bücherder Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. DOUG SAUNDERS: Arrival City. Übersetzt von Werner Roller, Blessing Verlag, 576 Seiten, 22,95 Euro.
2. VOLKER PERTHES:Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, Pantheon Verlag, 223 Seiten, 12,99 Euro
3. ANDREAS TÖNNESMANN: Monopoly: Das Spiel, die Stadt und das Glück, Verlag Klaus Wagenbach, 160 Seiten, 22,90 Euro.
4. THEA DORN, RICHARD WAGNER: Die deutsche Seele, Albrecht Knaus Verlag, 554 S., 26,99 Euro.
5. ORLANDO FIGES: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Übersetzt von Bernd Rullkötter, Berlin Verlag, 747 Seiten, 36 Euro.
6. OTTFRIED DASCHER: „Es ist etwas Wahnsinniges mit der Kunst“. Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler und Verleger, Nimbus Verlag, 511 Seiten, 39,80 Euro.
7.-9. THOMAS MACHO:Vorbilder, Wilhelm Fink Verlag, 477 Seiten, 39,90 Euro.
JOSEPH NYE:Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter. Übersetzt von Karl Heinz Sieber, Siedler Verlag, 383 Seiten, 24,99 Euro.
KARL-WILHELM WELWEI: Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus, Verlag Ferdinand Schöningh, 587 Seiten, 49,90 Euro.
10. Norbert Leithold: Friedrich II. von Preußen. Ein kulturgeschichtliches Panorama von A bis Z, Eichborn Verlag (Die Andere Bibliothek), 436 Seiten, 32 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats Januar von Andreas Wang: Chronik der philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert. Erarbeitet von Arnim Regenbogen, Felix Meiner Verlag, 639 Seiten, 68 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Jacques Schuster, Norbert Seitz, Hilal Sezgin, Elisabeth von Thadden, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2011Dreizehn Geistesblitze für die Menschheit
Von positivistischen Heiligen, inszenierten Schädeln, bösen Helden, kühlen Schönheiten und noch einigem mehr: Thomas Macho widmet sich detailreich und brillant dem Thema "Vorbilder".
Was sagt in einem Buch über Vorbilder der Verweis auf Vorbilder aus? Im Falle von Thomas Machos großer Studie zum Thema eine ganze Menge. Wobei man vorausschicken muss, dass Macho sich gegen das einseitige Verständnis von Vorbildern als Beispielen fürs eigene Handeln wendet; er will ein Vorbild auch im wörtlichen Sinne als Antizipation begriffen sehen, als ein Bild, das vorausweist. Kommt beides zusammen, hat man ein besonders geglücktes Vorbild.
Auguste Comte ist für Macho ein solches. Der Franzose gilt als Begründer der Soziologie, zumindest prägte er vor anderthalb Jahrhunderten den Namen dieser Wissenschaft. Seine Gesellschaftslehre wollte sich abwenden vom kindischen Geist früherer Epochen, die der Welt mit Religion und Metaphysik beizukommen versucht hatten - das ist die antizipative Komponente, mit der er auch tatsächlich Schule machen sollte.
Für Comte zählte nur das "positivistische" Verfahren einer an den Fakten orientierten vergleichenden Wissenschaft, doch da er selbst einer Herleitung seiner Ideale durch die kollektive Inspiration früherer Geistesheroen nicht abgeneigt war, stellte er 1849 einen "positivistischen Kalender" auf, der die christliche Einteilung eines Jahres durch Zuordnung der einzelnen Tage auf die Heiligen genauso obsolet machen sollte wie die auf römische Tradition zurückgehende Monatseinteilung mit ihren für Comte sinnlosen Unterschieden bei den jeweiligen Monatslängen. Comte dekretierte dreizehn Monate à achtundzwanzig Tage, gab pro Jahr einen Zusatztag hinzu, um auf die erforderlichen 365 zu kommen, und alle vier Jahre deren zwei.
So weit, so rational-zweckmäßig. Doch die Monate brauchten noch Namen, und dazu wählte Comte dreizehn für ihn vorbildliche Menschen aus (natürlich alles Männer). Von Moses bis zum französischen Anatomiker Marie François Xavier Bichat reichte die Dreizehner-Liste, und nur Julius Caesar konnte seinen eigenen Monat retten: Aus dem sommerlichen Juli wurde ein frühlingshafter Caesar. Zwei christliche Streiter, der heilige Paulus und Karl der Große, konnten sich von Tages- zu Monatsgrößen steigern, ansonsten ehrte Comte Künstler, Wissenschaftler und Denker, darunter auch Aristoteles, und diesen sogar doppelt, denn perfiderweise widmete Comte den letzten Tag im Aristoteles-Monat dessen Philosophenkollegen Platon, womit eine jahrhundertealte Schlacht der Denkschulen zugunsten der Aristoteliker entschieden werden sollte.
Es sind nach Comte also dreizehn Geistesblitze in die Menschheitsgeschichte eingeschlagen. Thomas Macho sieht in diesem Namensgewitter aber auch einen kulturellen Kanon, der gar nicht durch die Auswahl selbst Schule gemacht habe, sondern mittels seiner Forderung nach einer aktiven Gedenkkultur. Die haben wir heute längst: Jedem Tag ist irgendetwas Weltliches zugeordnet - vom Welttoilettentag bis zum Tag der Menschenrechte -, und vor allem wird jedes Jahr zur Jubelzeitspanne für irgendeinen Jubilar ernannt. Kaum geht nun mit 2011 das - wahlweise - Liszt-, Kleist- oder Tolstoi-Jahr zu Ende, dräuen für 2012 schon Friedrich der Große und Charles Dickens, ehe 2013 Willy Brandt, Wagner und Verdi drankommen. Diese Vorbilder, so meint Macho, seien zum Spektakelanlass verkommen, der nichts anderes bediene als mediale Sehnsüchte.
Gegen die Pflichtübung des Gedenkens aus rein medialen Erwägungen setzt er sein Buch, in dem einerseits real- wie kunsthistorisch verfolgt wird, was für Vorbilder die Menschheit auf ihrem Weg begleitet haben, andererseits eine kritische Analyse der Gegenwart vorgenommen wird, die aufzeigt, was heute überhaupt noch als vorbildlich anerkannt ist.
Das ist immens lehrreich, weil Macho über umfangreiches Material gebietet. Ob es Ausführungen zur handwerklichen Unmöglichkeit des Pygmalion-Mythos (kein Elfenbeinstück wäre groß genug für die lebensgroße Darstellung einer Frau) oder zur Inszenierung des grinsenden Totenkopfs (da der Unterkiefer nicht fest mit dem Schädel verbunden ist, kann es dieses Grinsen gar nicht geben) sind - das Buch ist eine Fundgrube. Bisweilen leidet indes unter der Freude am Detail die Systematik, was seine Ursache auch darin haben dürfte, dass einige Teile des Inhalts frühere Separatveröffentlichungen waren.
Dass die traditionelle Guy-Fawkes-Maske, die in den letzten Monaten zum Kennzeichen der Occupy-Bewegung geworden ist, in dieser Rolle nicht gewürdigt wird, ist angesichts der langen Entstehungszeit des Buches verständlich. Dass die Ausführungen zu Heath Ledger auf seinen Selbstmord verweisen, die zu Alexander McQueen aber nicht auch auf dessen, ist schon weniger begreiflich - werden doch beide als Vorbilder des Todes gewürdigt. Und dass Macho sich vor allem auf drei Stichwortgeber beschränkt - Kittler, Belting, Bredekamp -, treibt die Liebe zu den eigenen Vorbildern etwas zu weit.
Großartig aber, wie der Band rhythmisiert ist. Da merkt man Machos Begeisterung für und Verständnis von Musik. Sehr anschaulich ist dieses Schreiben und zugleich melodisch, was keine Selbstverständlichkeit im akademischen Diskurs darstellt. Und fulminant gesetzt ist ein optischer Treffer: Das einzige ganzseitige Bild des Buchs zeigt ein Pressefoto mit höchst schockierendem Inhalt, das Macho eingehend deutet, und zwar sowohl im Hinblick auf seine Geschichte wie auf seine Wirkung. Während man über Letztere liest, registriert man, dass man selbst dieses Forto nie wieder loswerden wird. Auch das, so wenig man es gesehen haben möchte, ist natürlich eine Vorbildfunktion. Und die Form der Präsentation ist daran entscheidend beteiligt.
In den Zusammenhang dieser Bildinszenierung durch Macho passt ein Wort zum Erfreulichsten, was den Band auszeichnet: Macho nimmt seine anfängliche Mahnung, dass Formen ihre Bedeutung einzubüßen drohen oder gar schon ganz eingebüßt haben, ernst und hat sich von dem Karlsruher Gestalter Sahar Aharoni ein formvollendetes Buch auf den Text schneidern lassen. Wer sich noch daran erinnert, dass der Fink Verlag diesen Band vor Jahresfrist nicht nur mit zweihundert Seiten weniger, sondern vor allem auch mit nur zehn statt der nunmehr 373 Schwarzweiß-Abbildungen angekündigt hatte, der wird ahnen, wie sehr sich Macho unter dem Eindruck seiner Erkenntnisse bemüht hat, dem eigenen Anspruch an Form und Eleganz gerecht zu werden. Seidig violett kommt das Vorsatzpapier daher, anthrazit glänzend der Pappeinband, und eine kühle Schönheit, die Valérie Belin fotografiert hat, ziert den Schutzumschlag. Das ist prächtig anzusehen und anzufühlen, und wie es sich gehört, folgt die Form hier nicht banal dem Inhalt, sondern beide bedingen einander, um zum ununterscheidbaren Kommentar übers jeweils andere zu werden. Vorbildlich.
ANDREAS PLATTHAUS
Thomas Macho: "Vorbilder".
Wilhelm Fink Verlag, München 2011. 477 S., 373 Abb., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von positivistischen Heiligen, inszenierten Schädeln, bösen Helden, kühlen Schönheiten und noch einigem mehr: Thomas Macho widmet sich detailreich und brillant dem Thema "Vorbilder".
Was sagt in einem Buch über Vorbilder der Verweis auf Vorbilder aus? Im Falle von Thomas Machos großer Studie zum Thema eine ganze Menge. Wobei man vorausschicken muss, dass Macho sich gegen das einseitige Verständnis von Vorbildern als Beispielen fürs eigene Handeln wendet; er will ein Vorbild auch im wörtlichen Sinne als Antizipation begriffen sehen, als ein Bild, das vorausweist. Kommt beides zusammen, hat man ein besonders geglücktes Vorbild.
Auguste Comte ist für Macho ein solches. Der Franzose gilt als Begründer der Soziologie, zumindest prägte er vor anderthalb Jahrhunderten den Namen dieser Wissenschaft. Seine Gesellschaftslehre wollte sich abwenden vom kindischen Geist früherer Epochen, die der Welt mit Religion und Metaphysik beizukommen versucht hatten - das ist die antizipative Komponente, mit der er auch tatsächlich Schule machen sollte.
Für Comte zählte nur das "positivistische" Verfahren einer an den Fakten orientierten vergleichenden Wissenschaft, doch da er selbst einer Herleitung seiner Ideale durch die kollektive Inspiration früherer Geistesheroen nicht abgeneigt war, stellte er 1849 einen "positivistischen Kalender" auf, der die christliche Einteilung eines Jahres durch Zuordnung der einzelnen Tage auf die Heiligen genauso obsolet machen sollte wie die auf römische Tradition zurückgehende Monatseinteilung mit ihren für Comte sinnlosen Unterschieden bei den jeweiligen Monatslängen. Comte dekretierte dreizehn Monate à achtundzwanzig Tage, gab pro Jahr einen Zusatztag hinzu, um auf die erforderlichen 365 zu kommen, und alle vier Jahre deren zwei.
So weit, so rational-zweckmäßig. Doch die Monate brauchten noch Namen, und dazu wählte Comte dreizehn für ihn vorbildliche Menschen aus (natürlich alles Männer). Von Moses bis zum französischen Anatomiker Marie François Xavier Bichat reichte die Dreizehner-Liste, und nur Julius Caesar konnte seinen eigenen Monat retten: Aus dem sommerlichen Juli wurde ein frühlingshafter Caesar. Zwei christliche Streiter, der heilige Paulus und Karl der Große, konnten sich von Tages- zu Monatsgrößen steigern, ansonsten ehrte Comte Künstler, Wissenschaftler und Denker, darunter auch Aristoteles, und diesen sogar doppelt, denn perfiderweise widmete Comte den letzten Tag im Aristoteles-Monat dessen Philosophenkollegen Platon, womit eine jahrhundertealte Schlacht der Denkschulen zugunsten der Aristoteliker entschieden werden sollte.
Es sind nach Comte also dreizehn Geistesblitze in die Menschheitsgeschichte eingeschlagen. Thomas Macho sieht in diesem Namensgewitter aber auch einen kulturellen Kanon, der gar nicht durch die Auswahl selbst Schule gemacht habe, sondern mittels seiner Forderung nach einer aktiven Gedenkkultur. Die haben wir heute längst: Jedem Tag ist irgendetwas Weltliches zugeordnet - vom Welttoilettentag bis zum Tag der Menschenrechte -, und vor allem wird jedes Jahr zur Jubelzeitspanne für irgendeinen Jubilar ernannt. Kaum geht nun mit 2011 das - wahlweise - Liszt-, Kleist- oder Tolstoi-Jahr zu Ende, dräuen für 2012 schon Friedrich der Große und Charles Dickens, ehe 2013 Willy Brandt, Wagner und Verdi drankommen. Diese Vorbilder, so meint Macho, seien zum Spektakelanlass verkommen, der nichts anderes bediene als mediale Sehnsüchte.
Gegen die Pflichtübung des Gedenkens aus rein medialen Erwägungen setzt er sein Buch, in dem einerseits real- wie kunsthistorisch verfolgt wird, was für Vorbilder die Menschheit auf ihrem Weg begleitet haben, andererseits eine kritische Analyse der Gegenwart vorgenommen wird, die aufzeigt, was heute überhaupt noch als vorbildlich anerkannt ist.
Das ist immens lehrreich, weil Macho über umfangreiches Material gebietet. Ob es Ausführungen zur handwerklichen Unmöglichkeit des Pygmalion-Mythos (kein Elfenbeinstück wäre groß genug für die lebensgroße Darstellung einer Frau) oder zur Inszenierung des grinsenden Totenkopfs (da der Unterkiefer nicht fest mit dem Schädel verbunden ist, kann es dieses Grinsen gar nicht geben) sind - das Buch ist eine Fundgrube. Bisweilen leidet indes unter der Freude am Detail die Systematik, was seine Ursache auch darin haben dürfte, dass einige Teile des Inhalts frühere Separatveröffentlichungen waren.
Dass die traditionelle Guy-Fawkes-Maske, die in den letzten Monaten zum Kennzeichen der Occupy-Bewegung geworden ist, in dieser Rolle nicht gewürdigt wird, ist angesichts der langen Entstehungszeit des Buches verständlich. Dass die Ausführungen zu Heath Ledger auf seinen Selbstmord verweisen, die zu Alexander McQueen aber nicht auch auf dessen, ist schon weniger begreiflich - werden doch beide als Vorbilder des Todes gewürdigt. Und dass Macho sich vor allem auf drei Stichwortgeber beschränkt - Kittler, Belting, Bredekamp -, treibt die Liebe zu den eigenen Vorbildern etwas zu weit.
Großartig aber, wie der Band rhythmisiert ist. Da merkt man Machos Begeisterung für und Verständnis von Musik. Sehr anschaulich ist dieses Schreiben und zugleich melodisch, was keine Selbstverständlichkeit im akademischen Diskurs darstellt. Und fulminant gesetzt ist ein optischer Treffer: Das einzige ganzseitige Bild des Buchs zeigt ein Pressefoto mit höchst schockierendem Inhalt, das Macho eingehend deutet, und zwar sowohl im Hinblick auf seine Geschichte wie auf seine Wirkung. Während man über Letztere liest, registriert man, dass man selbst dieses Forto nie wieder loswerden wird. Auch das, so wenig man es gesehen haben möchte, ist natürlich eine Vorbildfunktion. Und die Form der Präsentation ist daran entscheidend beteiligt.
In den Zusammenhang dieser Bildinszenierung durch Macho passt ein Wort zum Erfreulichsten, was den Band auszeichnet: Macho nimmt seine anfängliche Mahnung, dass Formen ihre Bedeutung einzubüßen drohen oder gar schon ganz eingebüßt haben, ernst und hat sich von dem Karlsruher Gestalter Sahar Aharoni ein formvollendetes Buch auf den Text schneidern lassen. Wer sich noch daran erinnert, dass der Fink Verlag diesen Band vor Jahresfrist nicht nur mit zweihundert Seiten weniger, sondern vor allem auch mit nur zehn statt der nunmehr 373 Schwarzweiß-Abbildungen angekündigt hatte, der wird ahnen, wie sehr sich Macho unter dem Eindruck seiner Erkenntnisse bemüht hat, dem eigenen Anspruch an Form und Eleganz gerecht zu werden. Seidig violett kommt das Vorsatzpapier daher, anthrazit glänzend der Pappeinband, und eine kühle Schönheit, die Valérie Belin fotografiert hat, ziert den Schutzumschlag. Das ist prächtig anzusehen und anzufühlen, und wie es sich gehört, folgt die Form hier nicht banal dem Inhalt, sondern beide bedingen einander, um zum ununterscheidbaren Kommentar übers jeweils andere zu werden. Vorbildlich.
ANDREAS PLATTHAUS
Thomas Macho: "Vorbilder".
Wilhelm Fink Verlag, München 2011. 477 S., 373 Abb., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Vorbildlich an diesem Buch findet Andreas Platthaus nicht nur seine Aufmachung: Feines Vorsatzpapier, farblich abgestimmt mit dem Einband, das stimmt den Ästheten schon mal froh beziehungsweise den, der die Form wertschätzt wie der Autor Thomas Macho. Vorbildlich laut Rezensent auch, wie Macho sowohl kunsthistorisch, als auch die Realität betreffend mit reichem Material umgehend und dazu noch mit Sinn für sprachlichen Rhythmus und Melodie herausarbeitet, welcher Art die Vorbilder der Menschheit sind und was uns als vorbildlich gilt. Platthaus sieht sich einer wahren Fundgrube gegenüber, die ihm nur manchmal systematisch etwas zu ächzen scheint, wenn die Detailfreude des Autors Überhand nimmt. Und dass Macho seinen Vorbildern Kittler, Bredekamp und Belting so sehr huldigt, ist zwar ehrenhaft, erscheint Platthaus aber auch etwas zu eng.
© Perlentaucher Medien GmbH
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