Fast ein Jahr lang verdingte sich Ted Conover als Wärter im legendären Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing, um die Wirklichkeit des amerikanischen Strafvollzugs zu erkunden - und geriet in eine Art Vorhof der Hölle. Sing Sing, 1826 von Sträflingen vor den Toren New Yorks erbaut, galt einmal als Inbegriff modernen Strafvollzugs; heute wird dort unter teils trostlosen, teils bizarren Verhältnissen der "kriminelle Bodensatz" weggeschlossen. Conover ließ sich in jedem Winkel des riesigen Komplexes einsetzen: auf den berüchtigten Galerien der Blocks A und B, in der Psychiatrie, im Besucherraum, im Speisesaal, auf den Wachtürmen, bei Transporten und in der "Box", dem geschlossenen Bereich. Aus der Sicht des Insiders gibt er Einblicke in die fremde, unzugängliche, schockierende und zugleich faszinierende Welt hinter den Mauern dieser stadtgleichen Festung, in der rund 2 300 Gefangene und 750 Bewacher leben. Er schildert eine rohe Männergesellschaft, in der die Atmosphäre von Gewalt allgegenwärtig ist, und in der nicht nur die Häftlinge, sondern auch ihre Wärter seelisch verwahrlosen. Conover versucht, sich auf dem schmalen Grad zwischen Wegsehen und Eingreifen, Nachsicht und Härte zu halten und merkt, wie auch in ihm selbst die Bereitschaft zur Gewalt immer größer wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2001Neuling in Sing-Sing
STRAFVOLLZUG. In den Vereinigten Staaten hat sich die Zahl der Justizvollzugsbeamten seit 1982 vervierfacht. Im Bundesstaat New York ist der Strafvollzug die einzige Wachstumsindustrie und für Tausende die Hoffnung auf eine Festanstellung. Als man dem Journalisten Ted Conover einen Einblick in die Ausbildung und den Alltag der Justizvollzugsbeamten verwehrt, wird er kurzerhand einer von ihnen: Er besucht sieben Wochen lang die Akademie und tritt - wie die meisten Absolventen im Staat New York - seinen Dienst in einem der berühmtesten Gefängnisse der Welt an: Sing-Sing. Ein Jahr lang ist er dort ein Neuling, ein "Newjack", wie im Häftlingsjargon Berufsanfänger bezeichnet werden. Einstmals ein Beispiel für modernen Strafvollzug, ist das legendäre Hochsicherheitsgefängnis heute eher eine Bankrotterklärung des amerikanischen Justizsystems: Überfüllung, Verfall, schlecht ausgebildete und ständig wechselnde Vollzugsbeamten und eine zähe Bürokratie, die weder den Bedürfnissen der Häftlinge gerecht wird, noch die Beamten in ihrer Arbeit unterstützt. Von dem Versuch einer Resozialisierung der Häftlinge ist nicht einmal mehr die Illusion geblieben, seit man 1994 fast alle College-Programme eingestellt hat. In einer Atmosphäre, die von Haß und Brutalität geprägt ist, wird der Autor mit denselben Problemen konfrontiert wie seine Kollegen: die ständige Angst vor physischer Gewalt, die psychische Belastung einer Rolle als "Zoowärter", emotionale Verrohung und der häufig erfolglose Versuch, den Gefängnisalltag mit Dienstschluß hinter sich zu lassen. Conover beschreibt seine Gefühle und Reaktionen differenziert, ohne in die gängigen, aus vielen Filmen bekannten Klischees über Häftlinge und Vollzugsbeamte zu verfallen, und zeichnet so ein glaubwürdigeres Bild von Sing-Sing als Hollywood. Er zeichnet aber auch das Bild einer Gesellschaft, die ihre Probleme an Orten wie Sing-Sing wegschließt: Viele der Häftlinge kommen aus einem sozialen Umfeld, in dem eine Gefängnisstrafe fünfmal so wahrscheinlich ist wie ein College-Abschluß. Das mag zu einem Teil an einer Drogengesetzgebung liegen, die Afroamerikaner benachteiligt und dafür sorgt, daß in Sing-Sing allein 56 Prozent der Inhaftierten dieser ethnischen Gruppe angehören, die lediglich zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung des Staates New York ausmacht. Ein einzigartiger Blick hinter die Kulissen des amerikanischen Strafvollzugs. (Ted Conover: Vorhof der Hölle. Undercover in Sing Sing. Deutsch von Cornelia Holfelder-von der Tann und Sabine Grebing. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 400 Seiten, 24,90 Euro.)
CONSTANZE KRINGS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
STRAFVOLLZUG. In den Vereinigten Staaten hat sich die Zahl der Justizvollzugsbeamten seit 1982 vervierfacht. Im Bundesstaat New York ist der Strafvollzug die einzige Wachstumsindustrie und für Tausende die Hoffnung auf eine Festanstellung. Als man dem Journalisten Ted Conover einen Einblick in die Ausbildung und den Alltag der Justizvollzugsbeamten verwehrt, wird er kurzerhand einer von ihnen: Er besucht sieben Wochen lang die Akademie und tritt - wie die meisten Absolventen im Staat New York - seinen Dienst in einem der berühmtesten Gefängnisse der Welt an: Sing-Sing. Ein Jahr lang ist er dort ein Neuling, ein "Newjack", wie im Häftlingsjargon Berufsanfänger bezeichnet werden. Einstmals ein Beispiel für modernen Strafvollzug, ist das legendäre Hochsicherheitsgefängnis heute eher eine Bankrotterklärung des amerikanischen Justizsystems: Überfüllung, Verfall, schlecht ausgebildete und ständig wechselnde Vollzugsbeamten und eine zähe Bürokratie, die weder den Bedürfnissen der Häftlinge gerecht wird, noch die Beamten in ihrer Arbeit unterstützt. Von dem Versuch einer Resozialisierung der Häftlinge ist nicht einmal mehr die Illusion geblieben, seit man 1994 fast alle College-Programme eingestellt hat. In einer Atmosphäre, die von Haß und Brutalität geprägt ist, wird der Autor mit denselben Problemen konfrontiert wie seine Kollegen: die ständige Angst vor physischer Gewalt, die psychische Belastung einer Rolle als "Zoowärter", emotionale Verrohung und der häufig erfolglose Versuch, den Gefängnisalltag mit Dienstschluß hinter sich zu lassen. Conover beschreibt seine Gefühle und Reaktionen differenziert, ohne in die gängigen, aus vielen Filmen bekannten Klischees über Häftlinge und Vollzugsbeamte zu verfallen, und zeichnet so ein glaubwürdigeres Bild von Sing-Sing als Hollywood. Er zeichnet aber auch das Bild einer Gesellschaft, die ihre Probleme an Orten wie Sing-Sing wegschließt: Viele der Häftlinge kommen aus einem sozialen Umfeld, in dem eine Gefängnisstrafe fünfmal so wahrscheinlich ist wie ein College-Abschluß. Das mag zu einem Teil an einer Drogengesetzgebung liegen, die Afroamerikaner benachteiligt und dafür sorgt, daß in Sing-Sing allein 56 Prozent der Inhaftierten dieser ethnischen Gruppe angehören, die lediglich zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung des Staates New York ausmacht. Ein einzigartiger Blick hinter die Kulissen des amerikanischen Strafvollzugs. (Ted Conover: Vorhof der Hölle. Undercover in Sing Sing. Deutsch von Cornelia Holfelder-von der Tann und Sabine Grebing. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 400 Seiten, 24,90 Euro.)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Sing Sing ist mit 2369 Insassen das zweitgrößte Gefängnis des Staates New York. Der Journalist Ted Conover hat für seine Recherchen über das berüchtigte Gefängnis eine Ausbildung zum Gefängniswärter gemacht und dort ein Jahr gearbeitet, berichtet der Rezensent mit dem Kürzel "mea". Die vorliegende Langzeitreportage, eine "verdienstvolle Bestandsaufnahme behördlich abgesegneter Verrohung", findet "mea" erschreckender als jede Besorgnis erregende Statistik. Conovers Kritik ist scharf, dabei empirisch belegt und führt dem Leser sämtliche Mängel der berühmten Anstalt vor Augen. Verärgert ist "mea" allerdings über den reißerischen deutschen Titel der Ausgabe, der eher "Trivialschund" als einen fundierten Bericht erwarten lässt. Der englische Titel "Newjack" - ein Slangwort, mit dem Vollzugsbeamte neue Häftlinge bezeichnen - sei da wesentlich seriöser und treffender, denkt "mea".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ted Conover beschreibt den amerikanischen Gefägnisalltag unbestechlich ehrlich und unpathetisch realitätsgenau, so wie bisher nicht nie dargestellt wurde ... Keine wissenschaftliche Untersuchung könnte diesen Erkenntniswert verschaffen, und an Spannung kann es sein Insiderbericht mit manchem Krimi aufnehmen." (Günter Wallraff in seinem Vorwort)
"Seine Erzählung ist von einer schonungslosen Offenheit und seiner Ehrlichkeit gegen sich selbst, die bis an die Granze geht." (Günter Wallraff)
"Ein spannendes, bewegendes Buch." (Stern)
"Seine Erzählung ist von einer schonungslosen Offenheit und seiner Ehrlichkeit gegen sich selbst, die bis an die Granze geht." (Günter Wallraff)
"Ein spannendes, bewegendes Buch." (Stern)