Band 19 der Gesammelten Werke: Vladimir Nabokov bürstet Cervantes gegen den Strich und findet Schätze!
Neben seinen Vorlesungen über westeuropäische und russische Literatur nimmt die über Cervantes' "Don Quijote" eine Sonderstellung ein. Er hielt sie nur ein einziges Mal, 1952 als Gastdozent an der Harvard-Universität, und er wusste, dass er seinen Hörern eine ketzerische Ansicht des Weltklassikers zumuten würde. Denn er mochte den Roman nicht. Nicht nur seine oft bemerkte erzählerische Schludrigkeit missfiel ihm, vor allem stieß ihn die Brutalität ab, mit der die Mitmenschen den zwar verrückten, aber edelmütigen und tapferen Pseudoritter traktieren, zur Schadenfreude des Lesers und wohl auch des Autors. Doch siehe da, unter all den Rohheiten entdeckte Nabokov dann nicht nur eine Menge künstlerisch hervorragender Stellen, sondern auch, dass der malträtierte Held längst aus dem zweifelhaften Buch herausgewachsen war und schließlich für alles stand, "was sanftmütig,hilflos, rein, selbstlos und ritterlich ist. Das Spottbild ist zum Leitbild geworden."
Überaus lesenswert und unterhaltsam sind Nabokovs Vorlesungen deshalb, weil er eben kein Literaturwissenschaftler war, sondern in erster Linie ein Literaturliebhaber, passionierter Leser und Fan. Und zwar einer mit ebenso starken wie streitbaren Ansichten und einer, der anders als die meisten Akademiker, keine Sekunde davor zurückscheute, diese streitbaren Ansichten so laut und so unversöhnlich wie möglich zu äußern. Mithin kann man hier einem der größten und prägenden Romane der Weltliteratur und zugleich einem ihrer herrlichsten Snobs und Pedanten wiederbegegnen.
Neben seinen Vorlesungen über westeuropäische und russische Literatur nimmt die über Cervantes' "Don Quijote" eine Sonderstellung ein. Er hielt sie nur ein einziges Mal, 1952 als Gastdozent an der Harvard-Universität, und er wusste, dass er seinen Hörern eine ketzerische Ansicht des Weltklassikers zumuten würde. Denn er mochte den Roman nicht. Nicht nur seine oft bemerkte erzählerische Schludrigkeit missfiel ihm, vor allem stieß ihn die Brutalität ab, mit der die Mitmenschen den zwar verrückten, aber edelmütigen und tapferen Pseudoritter traktieren, zur Schadenfreude des Lesers und wohl auch des Autors. Doch siehe da, unter all den Rohheiten entdeckte Nabokov dann nicht nur eine Menge künstlerisch hervorragender Stellen, sondern auch, dass der malträtierte Held längst aus dem zweifelhaften Buch herausgewachsen war und schließlich für alles stand, "was sanftmütig,hilflos, rein, selbstlos und ritterlich ist. Das Spottbild ist zum Leitbild geworden."
Überaus lesenswert und unterhaltsam sind Nabokovs Vorlesungen deshalb, weil er eben kein Literaturwissenschaftler war, sondern in erster Linie ein Literaturliebhaber, passionierter Leser und Fan. Und zwar einer mit ebenso starken wie streitbaren Ansichten und einer, der anders als die meisten Akademiker, keine Sekunde davor zurückscheute, diese streitbaren Ansichten so laut und so unversöhnlich wie möglich zu äußern. Mithin kann man hier einem der größten und prägenden Romane der Weltliteratur und zugleich einem ihrer herrlichsten Snobs und Pedanten wiederbegegnen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2016Im Kampf mit den eigenen Windmühlen
Die schönste aller Werkausgaben trumpft noch einmal auf: Vladimir Nabokov fand 1952 am "Don Quijote" mehr Freude, als er selbst wahrhaben wollte.
Von Andreas Platthaus
Mit "Don Quijote" verband Vladimir Nabokov eine seltsame Faszination. Seltsam deshalb, weil der russische Schriftsteller, der seit 1940 in den Vereinigten Staaten lebte und wenig später damit begonnen hatte, an dortigen Universitäten Literatur zu lehren, den Roman gar nicht mochte, ihm aber trotzdem eine ganze Vorlesungsreihe widmete. Damit tat er dem Buch von Cervantes, das als erster europäischer Roman gilt, mehr Ehre an als anderen berühmten literarischen Werken, die er ebenfalls für missglückt hielt (etwa das gesamte Schaffen von Thomas Mann, von Heinrich Mann ganz zu schweigen) und dementsprechend vom Katheder aus kurz abfertigte. "Don Quijote" aber war ihm sechs Sitzungen wert, mehr sogar, als er an akademischer Lehrzeit auf die Bücher verwendete, die er liebte - "Bleakhouse" von Dickens etwa, Jane Austens "Mansfield Park", Kafkas "Verwandlung" oder ganz besonders Flauberts "Madame Bovary". Sie alle waren Gegenstand in Nabokovs berühmter Überblicksvorlesung zur europäischen Literatur, die er von 1950 bis 1958 an der Cornell Universität hielt. In der kam auch "Don Quijote" wiederholt zur Sprache. Dass er dem Roman jedoch einen ganzen Zyklus widmete, lag daran, dass er im Winter 1952 eine gutdotierte Gastdozentur in Harvard erhielt, wo man von ihm etwas anderes erwartete als noch einmal das, was er in Cornell vorgetragen hatte.
Seine Vorlesungen über "Don Quijote" stilisierte Nabokov zur Abrechnung mit dem Buch. An den eng befreundeten Literaturwissenschaftler Edmund Wilson schrieb er am 21. Februar 1952 aus Harvard: "Hier geht es uns großartig. Zweimal die Woche donnere ich von der Kanzel gegen Cervantes, und das vor einem Abgrund von über 500 Studenten." Und anderthalb Jahrzehnte später war in Nabokovs Erinnerung nicht nur die Zahl der Zeugen bei diesem literarischen Inquisitionsprozess gegen Cervantes größer geworden, sondern auch das damalige Urteil vernichtender: "Ich entsinne mich noch mit Wonne, wie ich in der Memorial Hall vor sechshundert Studenten den Don Quijote, eine von Rüd- und Rohheit strotzende Scharteke, zerpflückte - zum fassungslosen Entsetzen manches konservativeren Kollegen."
Nun ist Nabokov nicht gerade bekannt für diplomatische Formulierungen und schon gar nicht für die Bereitschaft, einmal getroffene Einschätzungen zu revidieren. Da man in Amerika um seine Reserve gegenüber Cervantes wusste - bereits 1941 war ein Theaterprojekt von Mikhail Chekhov daran gescheitert, dass er sich mit dem als literarischem Berater engagierten Nabokov überwarf -, erhielt der stolze Exil-Russe nach außen hin seine Aversion aufrecht. Aber die Vorlesungen zum "Don Quijote" sprechen eine andere Sprache. Als er in der ersten Veranstaltung das Buch als "vogelscheuchenhaftestes aller Meisterwerke" charakterisierte, folgte noch im selben Satz die literarische Adelung mittels eines Nabokov'schen Neologismus: "Vor dem Hintergrund der Zeit bildet es eine wunderbare photopia (Vision in strahlender Helle bei lichtadaptierten Augen)." Mit etwas weniger naturwissenschaftlicher Terminologie: eine Offenbarung.
Nabokov arbeitete sich am eigenen Vorurteil über Cervantes ab. Er konnte ihm nicht entkommen und entlarvte es doch auch selbst. Gleich nach der photopischen Epiphanie schränkt er wieder ein: "Man hat den Don Quijote den größten aller je geschriebenen Romane genannt. Das ist natürlich Unsinn. Er ist nicht einmal einer der größten Romane der Welt." Aber gleich schließt sich an: "Doch sein Held, dessen Persönlichkeit ein Geniestreich von Cervantes ist, ragt so wunderbar über die Silhouette der Literatur empor, ein hagerer Riese auf einem dürren Gaul, dass das Buch noch immer lebt und immer leben wird." Ehe dann noch im selben Absatz der Roman als eine "aufs Geratewohl zusammengestückte Geschichte" bezeichnet wird, die jedoch "wunderbare künstlerische Intuition ihres Verfassers" beweise. Schon das doppelte "wunderbar" auf so engem Raum belegt, dass dem sonst so wortvariationsverliebten Nabokov hier die rechten Kategorien fehlen, weil er gegen die eigene Überzeugung vom "Don Quijote" überzeugt worden ist.
Diese auf dem Katheder ausgetragene Schlacht mit sich selbst, ein, wie sich zeigen sollte, veritabler Kampf gegen Windmühlen, ist nun endlich auf Deutsch nachzulesen, nachdem die "Vorlesungen über Don Quijote" schon 1983 im englischen Original erschienen waren, sechs Jahre nach Nabokovs Tod, der den Zugang zu seinen Vorlesungsmanuskripten, in denen er jedes Wort, das er vortragen wollte, akribisch festgehalten hatte, erst ermöglicht hatte. Damals entwickelte Dieter E. Zimmer, einer der deutschen Nabokov-Übersetzer, die Idee einer Werkausgabe; 1989 erschien deren erster Band. Angekündigt schon damals als Band XIX: die Vorlesungen über "Don Quijote". Aber nicht nur, dass Zimmer und der Rowohlt Verlag erst einmal die Prosa herausbringen wollten, teilweise in Erst-, sonst in Neuübersetzungen, nein die Wartezeit wuchs auch deshalb ins Gigantische, weil Zimmer sich bei seiner Edition nicht mit den Kommentaren der amerikanischen Ausgaben begnügte und zu jedem Band umfangreiche Begleittexte beisteuerte. Dadurch wurde diese Nabokov-Werkausgabe zur sicherlich weltweit schönsten, aber auch zu einer der langwierigsten. Die drei avisierten Vorlesungsbände wurden immer weiter hinausgezögert, und von ihnen erscheint der einzelne zum "Don Quijote" nun als letzter.
Darin findet sich erstmals kein eigener Text des mittlerweile zweiundachtzigjährigen Herausgebers - ein Verlust, denn noch beim 2014 publizierten Band mit den Vorlesungen zur westeuropäischen Literatur hatte Zimmer wieder einmal den neuesten Stand der Nabokov-Forschung nachgetragen, denn auch diese Sammlung war auf Englisch schon mehr als dreißig Jahre früher erschienen, und seitdem war zuvor unbekanntes Material aufgetaucht. Unwahrscheinlich, dass es im Falle der "Don Quijote"-Vorlesungen nicht auch so sein sollte, obwohl deren sechs Teile nur einmal gehalten wurden, während die Ausführungen aus dem Vorgängerband von Nabokov mehrfach vorgetragen und deshalb bisweilen auch revidiert worden waren. Aber Zimmers nie erlahmendes Interesse an diesem Schriftsteller hat stets reiche Früchte getragen; diesmal stammt leider "nur" die Übersetzung von ihm.
Die stellt wie in den beiden Vorgängern zur russischen und westeuropäischen Literatur besondere Herausforderungen, denn mangels Fremdsprachenkenntnissen seiner amerikanischen Studenten zitierte Nabokov aus den von ihm vorgestellten Büchern stets auf Englisch. Und zwar nicht zu knapp: Im Falle des "Don Quijote" ist der Zitatanteil in den minutiösen Manuskripten mit 27 Prozent ausgezählt worden. Nabokov benutzte dazu eine kurz vorher publizierte englische Neuübersetzung, während Zimmer aus rechtlichen Gründen eine bereits 1883 erschienene deutsche Fassung herangezogen hat. Nur in Zweifelsfällen - Zimmer spricht in seinen Anmerkungen sogar von Widersprüchen zwischen englischer und deutscher Übertragung - wurde für die deutsche Ausgabe das spanische Original konsultiert. Nicht alles, was Nabokov in seinen Vorlesungen zitiert hatte, ist im nun publizierten Vorlesungstext belassen worden, aber das, was der besseren Lesbarkeit wegen ausgesondert wurde, wird im Anhang nachgereicht. Die erhaltenen Cervantes-Passagen sind durch Kursivierung kenntlich gemacht.
Nabokov hatte selbst noch kurz vor seinem Tod eine Publikation der eigenen Literaturvorlesungen geplant, allerdings die zu "Don Quijote" nicht als Einzelausgabe - dafür war seine Abwehr gegen das Buch zu groß. Die davon abweichende Entscheidung des amerikanischen Herausgebers Fredson Bowers, auf dessen Edition Zimmers Übersetzung beruht, ist dennoch nachvollziehbar, denn was Nabokov hier 1952 ausführte, ist wie ein Schlüssel zu seinem damaligen Literaturverständnis. An "Lolita", dem Roman, der ihn später weltberühmt und vor allem so reich machen sollte, dass er die Lehrtätigkeit einstellen konnte, arbeitete Nabokov zwar damals schon, aber er war sich noch im Zweifel, ob der Stoff das richtige wäre; seine Frau Véra soll ihn angeblich vom Verbrennen des Manuskripts abgehalten haben. Bezeichnend deshalb eine Bemerkung zur Drastik des "Don Quijote" in seinen Vorlesungen: "In unseren brutalen Tagen ist eines der wenigen Dinge, die die Welt retten können, die vollständige und dauerhafte Ächtung jeder Art von Grausamkeit . . . Ich habe auf den Umstand hingewiesen, dass es Unsinn ist, unser bitteres und barbarisches Buch als Inbegriff des Humanen und Humorvollen auszugeben." Im Jahr nach den "Don Quijote"-Vorlesungen begann Nabokov, statt den seinerseits grausamen "Lolita"-Roman fertigzustellen, mit der Abfassung von "Pnin", seinem Schelmenstück über einen russischen Professor in Amerika, in das vom eigenen Erleben viel eingeflossen ist. Aber auch einiges von der ebenso sarkastischen wie sympathischen Weltsicht von Cervantes über seinen Träumer Don Quijote.
Denn Nabokovs letzte Vorlesung zu dem spanischen Roman mündete in eine Apotheose: "Wir lachen nicht mehr über ihn. Sein Wappen ist das Erbarmen, sein Banner die Schönheit. Er steht für alles, was sanftmütig, hilfreich, rein, selbstlos und ritterlich ist. Das Spottbild ist zum Leitbild geworden." Für ein paar Jahre galt ihm das auch beim eigenen Schreiben, und parallel zu "Pnin", dem Porträt eines solchen reinen Toren, konnte er dann auch "Lolita" fertigstellen, diesen so wenig sanftmütigen, hilfreichen, reinen, selbstlosen und ritterlichen Roman.
Doch Nabokov dankte es "Don Quijote" nicht. Als 1964 seine Übersetzung von Puschkins "Eugen Onegin" erschien, war Cervantes wieder Teil eines Kabinetts der Nabokov'schen literarischen Schreckensmänner. Eine der vielen im Kommentar enthaltenen Bosheiten lautet: "Der Publizist Dostojewski ist eines jener Megaphone plumper (heute noch zu hörender) Platitüden, die mit ihrem Dröhnen Shakespeare und Puschkin lächerlicherweise auf die vage Ebene all jener Gips-Idole der akademischen Tradition von Cervantes bis George Eliot degradieren (von den bröckeligen Manns und Faulkners unserer Zeit gar nicht zu reden)." 1952 aber hatte er Cervantes kurzzeitig selbst auf den Sockel gehoben.
Vladimir Nabokov: "Vorlesungen über Don Quijote". Gesammelte Werke, Band XIX.
Aus dem Englischen und hrsg. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 464 S., 8 Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die schönste aller Werkausgaben trumpft noch einmal auf: Vladimir Nabokov fand 1952 am "Don Quijote" mehr Freude, als er selbst wahrhaben wollte.
Von Andreas Platthaus
Mit "Don Quijote" verband Vladimir Nabokov eine seltsame Faszination. Seltsam deshalb, weil der russische Schriftsteller, der seit 1940 in den Vereinigten Staaten lebte und wenig später damit begonnen hatte, an dortigen Universitäten Literatur zu lehren, den Roman gar nicht mochte, ihm aber trotzdem eine ganze Vorlesungsreihe widmete. Damit tat er dem Buch von Cervantes, das als erster europäischer Roman gilt, mehr Ehre an als anderen berühmten literarischen Werken, die er ebenfalls für missglückt hielt (etwa das gesamte Schaffen von Thomas Mann, von Heinrich Mann ganz zu schweigen) und dementsprechend vom Katheder aus kurz abfertigte. "Don Quijote" aber war ihm sechs Sitzungen wert, mehr sogar, als er an akademischer Lehrzeit auf die Bücher verwendete, die er liebte - "Bleakhouse" von Dickens etwa, Jane Austens "Mansfield Park", Kafkas "Verwandlung" oder ganz besonders Flauberts "Madame Bovary". Sie alle waren Gegenstand in Nabokovs berühmter Überblicksvorlesung zur europäischen Literatur, die er von 1950 bis 1958 an der Cornell Universität hielt. In der kam auch "Don Quijote" wiederholt zur Sprache. Dass er dem Roman jedoch einen ganzen Zyklus widmete, lag daran, dass er im Winter 1952 eine gutdotierte Gastdozentur in Harvard erhielt, wo man von ihm etwas anderes erwartete als noch einmal das, was er in Cornell vorgetragen hatte.
Seine Vorlesungen über "Don Quijote" stilisierte Nabokov zur Abrechnung mit dem Buch. An den eng befreundeten Literaturwissenschaftler Edmund Wilson schrieb er am 21. Februar 1952 aus Harvard: "Hier geht es uns großartig. Zweimal die Woche donnere ich von der Kanzel gegen Cervantes, und das vor einem Abgrund von über 500 Studenten." Und anderthalb Jahrzehnte später war in Nabokovs Erinnerung nicht nur die Zahl der Zeugen bei diesem literarischen Inquisitionsprozess gegen Cervantes größer geworden, sondern auch das damalige Urteil vernichtender: "Ich entsinne mich noch mit Wonne, wie ich in der Memorial Hall vor sechshundert Studenten den Don Quijote, eine von Rüd- und Rohheit strotzende Scharteke, zerpflückte - zum fassungslosen Entsetzen manches konservativeren Kollegen."
Nun ist Nabokov nicht gerade bekannt für diplomatische Formulierungen und schon gar nicht für die Bereitschaft, einmal getroffene Einschätzungen zu revidieren. Da man in Amerika um seine Reserve gegenüber Cervantes wusste - bereits 1941 war ein Theaterprojekt von Mikhail Chekhov daran gescheitert, dass er sich mit dem als literarischem Berater engagierten Nabokov überwarf -, erhielt der stolze Exil-Russe nach außen hin seine Aversion aufrecht. Aber die Vorlesungen zum "Don Quijote" sprechen eine andere Sprache. Als er in der ersten Veranstaltung das Buch als "vogelscheuchenhaftestes aller Meisterwerke" charakterisierte, folgte noch im selben Satz die literarische Adelung mittels eines Nabokov'schen Neologismus: "Vor dem Hintergrund der Zeit bildet es eine wunderbare photopia (Vision in strahlender Helle bei lichtadaptierten Augen)." Mit etwas weniger naturwissenschaftlicher Terminologie: eine Offenbarung.
Nabokov arbeitete sich am eigenen Vorurteil über Cervantes ab. Er konnte ihm nicht entkommen und entlarvte es doch auch selbst. Gleich nach der photopischen Epiphanie schränkt er wieder ein: "Man hat den Don Quijote den größten aller je geschriebenen Romane genannt. Das ist natürlich Unsinn. Er ist nicht einmal einer der größten Romane der Welt." Aber gleich schließt sich an: "Doch sein Held, dessen Persönlichkeit ein Geniestreich von Cervantes ist, ragt so wunderbar über die Silhouette der Literatur empor, ein hagerer Riese auf einem dürren Gaul, dass das Buch noch immer lebt und immer leben wird." Ehe dann noch im selben Absatz der Roman als eine "aufs Geratewohl zusammengestückte Geschichte" bezeichnet wird, die jedoch "wunderbare künstlerische Intuition ihres Verfassers" beweise. Schon das doppelte "wunderbar" auf so engem Raum belegt, dass dem sonst so wortvariationsverliebten Nabokov hier die rechten Kategorien fehlen, weil er gegen die eigene Überzeugung vom "Don Quijote" überzeugt worden ist.
Diese auf dem Katheder ausgetragene Schlacht mit sich selbst, ein, wie sich zeigen sollte, veritabler Kampf gegen Windmühlen, ist nun endlich auf Deutsch nachzulesen, nachdem die "Vorlesungen über Don Quijote" schon 1983 im englischen Original erschienen waren, sechs Jahre nach Nabokovs Tod, der den Zugang zu seinen Vorlesungsmanuskripten, in denen er jedes Wort, das er vortragen wollte, akribisch festgehalten hatte, erst ermöglicht hatte. Damals entwickelte Dieter E. Zimmer, einer der deutschen Nabokov-Übersetzer, die Idee einer Werkausgabe; 1989 erschien deren erster Band. Angekündigt schon damals als Band XIX: die Vorlesungen über "Don Quijote". Aber nicht nur, dass Zimmer und der Rowohlt Verlag erst einmal die Prosa herausbringen wollten, teilweise in Erst-, sonst in Neuübersetzungen, nein die Wartezeit wuchs auch deshalb ins Gigantische, weil Zimmer sich bei seiner Edition nicht mit den Kommentaren der amerikanischen Ausgaben begnügte und zu jedem Band umfangreiche Begleittexte beisteuerte. Dadurch wurde diese Nabokov-Werkausgabe zur sicherlich weltweit schönsten, aber auch zu einer der langwierigsten. Die drei avisierten Vorlesungsbände wurden immer weiter hinausgezögert, und von ihnen erscheint der einzelne zum "Don Quijote" nun als letzter.
Darin findet sich erstmals kein eigener Text des mittlerweile zweiundachtzigjährigen Herausgebers - ein Verlust, denn noch beim 2014 publizierten Band mit den Vorlesungen zur westeuropäischen Literatur hatte Zimmer wieder einmal den neuesten Stand der Nabokov-Forschung nachgetragen, denn auch diese Sammlung war auf Englisch schon mehr als dreißig Jahre früher erschienen, und seitdem war zuvor unbekanntes Material aufgetaucht. Unwahrscheinlich, dass es im Falle der "Don Quijote"-Vorlesungen nicht auch so sein sollte, obwohl deren sechs Teile nur einmal gehalten wurden, während die Ausführungen aus dem Vorgängerband von Nabokov mehrfach vorgetragen und deshalb bisweilen auch revidiert worden waren. Aber Zimmers nie erlahmendes Interesse an diesem Schriftsteller hat stets reiche Früchte getragen; diesmal stammt leider "nur" die Übersetzung von ihm.
Die stellt wie in den beiden Vorgängern zur russischen und westeuropäischen Literatur besondere Herausforderungen, denn mangels Fremdsprachenkenntnissen seiner amerikanischen Studenten zitierte Nabokov aus den von ihm vorgestellten Büchern stets auf Englisch. Und zwar nicht zu knapp: Im Falle des "Don Quijote" ist der Zitatanteil in den minutiösen Manuskripten mit 27 Prozent ausgezählt worden. Nabokov benutzte dazu eine kurz vorher publizierte englische Neuübersetzung, während Zimmer aus rechtlichen Gründen eine bereits 1883 erschienene deutsche Fassung herangezogen hat. Nur in Zweifelsfällen - Zimmer spricht in seinen Anmerkungen sogar von Widersprüchen zwischen englischer und deutscher Übertragung - wurde für die deutsche Ausgabe das spanische Original konsultiert. Nicht alles, was Nabokov in seinen Vorlesungen zitiert hatte, ist im nun publizierten Vorlesungstext belassen worden, aber das, was der besseren Lesbarkeit wegen ausgesondert wurde, wird im Anhang nachgereicht. Die erhaltenen Cervantes-Passagen sind durch Kursivierung kenntlich gemacht.
Nabokov hatte selbst noch kurz vor seinem Tod eine Publikation der eigenen Literaturvorlesungen geplant, allerdings die zu "Don Quijote" nicht als Einzelausgabe - dafür war seine Abwehr gegen das Buch zu groß. Die davon abweichende Entscheidung des amerikanischen Herausgebers Fredson Bowers, auf dessen Edition Zimmers Übersetzung beruht, ist dennoch nachvollziehbar, denn was Nabokov hier 1952 ausführte, ist wie ein Schlüssel zu seinem damaligen Literaturverständnis. An "Lolita", dem Roman, der ihn später weltberühmt und vor allem so reich machen sollte, dass er die Lehrtätigkeit einstellen konnte, arbeitete Nabokov zwar damals schon, aber er war sich noch im Zweifel, ob der Stoff das richtige wäre; seine Frau Véra soll ihn angeblich vom Verbrennen des Manuskripts abgehalten haben. Bezeichnend deshalb eine Bemerkung zur Drastik des "Don Quijote" in seinen Vorlesungen: "In unseren brutalen Tagen ist eines der wenigen Dinge, die die Welt retten können, die vollständige und dauerhafte Ächtung jeder Art von Grausamkeit . . . Ich habe auf den Umstand hingewiesen, dass es Unsinn ist, unser bitteres und barbarisches Buch als Inbegriff des Humanen und Humorvollen auszugeben." Im Jahr nach den "Don Quijote"-Vorlesungen begann Nabokov, statt den seinerseits grausamen "Lolita"-Roman fertigzustellen, mit der Abfassung von "Pnin", seinem Schelmenstück über einen russischen Professor in Amerika, in das vom eigenen Erleben viel eingeflossen ist. Aber auch einiges von der ebenso sarkastischen wie sympathischen Weltsicht von Cervantes über seinen Träumer Don Quijote.
Denn Nabokovs letzte Vorlesung zu dem spanischen Roman mündete in eine Apotheose: "Wir lachen nicht mehr über ihn. Sein Wappen ist das Erbarmen, sein Banner die Schönheit. Er steht für alles, was sanftmütig, hilfreich, rein, selbstlos und ritterlich ist. Das Spottbild ist zum Leitbild geworden." Für ein paar Jahre galt ihm das auch beim eigenen Schreiben, und parallel zu "Pnin", dem Porträt eines solchen reinen Toren, konnte er dann auch "Lolita" fertigstellen, diesen so wenig sanftmütigen, hilfreichen, reinen, selbstlosen und ritterlichen Roman.
Doch Nabokov dankte es "Don Quijote" nicht. Als 1964 seine Übersetzung von Puschkins "Eugen Onegin" erschien, war Cervantes wieder Teil eines Kabinetts der Nabokov'schen literarischen Schreckensmänner. Eine der vielen im Kommentar enthaltenen Bosheiten lautet: "Der Publizist Dostojewski ist eines jener Megaphone plumper (heute noch zu hörender) Platitüden, die mit ihrem Dröhnen Shakespeare und Puschkin lächerlicherweise auf die vage Ebene all jener Gips-Idole der akademischen Tradition von Cervantes bis George Eliot degradieren (von den bröckeligen Manns und Faulkners unserer Zeit gar nicht zu reden)." 1952 aber hatte er Cervantes kurzzeitig selbst auf den Sockel gehoben.
Vladimir Nabokov: "Vorlesungen über Don Quijote". Gesammelte Werke, Band XIX.
Aus dem Englischen und hrsg. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 464 S., 8 Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Noch jeden Band der von Dieter E. Zimmer international unerreicht edierten 'Gesammelten Werke' haben Nabokov-Süchtige mit der trocken brennenden Kehle von Weinliebhabern erwartet. FAZ.NET