WELTFREUDIG UND IRONISCH, VERGNÜGLICH UND MELANCHOLISCHEin Mann ist im Zug eingeschlafen. Als er aufwacht, lehnt vertrauensvoll EIN FREMDES MÄDCHEN an ihm: Jara. Sie ist ohne Geld, ohne Papiere, nahezu ohne Sprache. Der Mann, ein ERFOLGREICHER MOTIVATIONSCOACH, hatte sich von der Welt schon abgewendet, besiegt von seinen eigenen Allerweltsweisheiten. Doch jetzt denkt er pathetisch: Das Mädchen kann seine Rettung sein. Ihr ein Zuhause zu geben, wird seinem Dasein DEN ERSEHNTEN SINN VERLEIHEN. Also nimmt er Jara bei sich in München auf - womit sein Leben eine entscheidende Wendung nimmt ... EIN ERFOLGREICHER MANN VOR DEM RUHESTAND AUF DER SUCHE NACH DEM SINN EINES ERSCHRECKEND GELUNGENEN LEBENS Hier trifft EINER, DER ALLES HAT UND DOCH NUR LEERE KENNT, auf EINE, DIE GAR NICHTS HAT, UND DENNOCH AN LEBEN UNGLEICH REICHER IST. Diese Konstellation schildert Michael Krüger mit der größten Lust, davon abzuschweifen. Denn wenn sein Erzähler seine Gedankenfahrt aufnimmt, bleibt keiner geschont: nicht die Menschen um ihn herum, nicht die deutschen Landsgenossen, am wenigsten er selbst. BESTECHEND PRÄZISE BEOBACHTUNGEN DER GEGENWART UND IHRER BEWOHNERMichael Krüger erzählt von verschiedenen Arten von Flucht in seinem neuen Roman: der Flucht aus dem Leben, der Flucht in ein Leben, der Flucht voreinander, der Flucht zueinander. Und zeichnet wie nebenbei das WUNDERLICHE GESICHT DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT - MELANCHOLISCH UND HOCHKOMISCH, RESIGNATIV UND UNVERBESSERLICH HOFFEND.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2018Ein seltsam ätherisches Mädchen
Von der Muse aus dem Takt gebracht: Michael Krüger betrachtet "Vorübergehende"
Roman steht drauf, Kolumnen sind drin. Und die klingen so: "Als ich vor fast fünfzig Jahren mit meiner Tätigkeit anfing, mussten wir uns noch der deutschen Sprache bedienen, heute sind wir als Consulter-Experten für Work-Life-Balance und Personal Branding unterwegs." Michael Krügers Ich-Erzähler ist Motivationscoach, beschäftigt sich aber lieber mit Kulturkritik. Nichts entgeht seinem sezierenden Blick, das goldlaminierte Smartphone kommentiert er genauso in Grund und Boden wie zu Fußgängerzonen umgemodelte Bahnhöfe. Manager, die keine Bücher lesen, sondern lieber deren Verfilmungen anschauen, werden mit derselben Hingabe heruntergeputzt wie Flachbildschirme, selbstfahrende Autos und die "digitalen Metastasen", von denen ständig in den Zeitungen zu lesen sei.
Die Suada gegen die Geistlosigkeit der Gegenwart gerät dem Erzähler so gepfeffert und allumfassend, dass man sie kaum ernst nehmen mag. Das ist schade, denn viele gute Beobachtungen gehen in der Hitze der Dauererregung leider unter. Mode: "Mittlerweile sehen ja fast alle Kinder ähnlich aus und unterscheiden sich nur noch durch die Aufschriften auf ihren T-Shirts." Architektur: "Der Potsdamer Platz war nichts anderes als ein Mahnmal der exklusiven Hässlichkeit." Deutsche Bahn (aus Platzgründen in Stichworten): Personen im Gleis, nicht zu öffnende Fenster, dummdreister Schaffner, dummdreistere Fahrgäste, Verspätung, verpasste Anschlusszüge. Auch wer Krügers Buch nicht gelesen hat, ist über all dies im Bilde, weil es sich um Offensichtliches, allenthalben Beklagtes oder am Stammtisch längst Besprochenes handelt.
Als Antidot zu solchen Missständen taugen, das lernen wir direkt auf der zweiten Seite, Cioran und Canetti, Lichtenberg und Nietzsche. Der Erzähler selbst klingt zuweilen eher wie eine etwas aus dem Takt geratene Figur Thomas Bernhards ("Ein einziges Möbelstück ist dieser totalen Lebensvernichtung entgangen"). Er trägt auf seinen Reisen stets ein Buch mit Aphorismen bei sich, das ordentlich auf ihn abgefärbt hat: "Alle wollten gut sein und das Gute wollen, aber das Gute war ein seltenes Gut." Auch in der Literatur ist das Gute höchst selten, und Krügers Roman stellt nur passagenweise eine Ausnahme dieser Regel dar. Er trägt den Titel "Vorübergehende" und handelt von einem Erzähler, der in andauernder Selbst- und Fremdbespiegelung vor sich hin assoziiert. Als er während einer Zugfahrt aus dem Schlaf erwacht, bemerkt er, dass sich ein Mädchen an ihn geschmiegt hat. Es heißt Jara, spricht kein Deutsch, sieht aus wie eine Mischung aus "Kobold und Fee" und lebt fortan mit ihm zusammen.
Die meiste Zeit befasst sich Jara nur mit einer Sache, dem Zeichnen. Gemeinsam mit einem naseweisen Nachbarsburschen bildet sie ein verschworenes Zweiergespann. Er plant, ihre Bilder in einem Buch namens "Atlas der verborgenen Erinnerungen" herauszubringen, sie - schweigt. Im Gegensatz zum scharf konturierten Erzähler, der gut bezahlte Initiativreferate bei Events wie der Jahrestagung des Deutschen Molkereiverbands hält, wird Jara mit fortschreitender Lektüre immer enigmatischer. Hier zeigt Krüger, dass er Literatur auch als Verschleierungskunst beherrscht. Dieses ätherische Mädchen ist nämlich vor allem eine unter Genieverdacht stehende, sich ständig wandelnde Leerstelle: "Was sie machte, war von Bedeutung, ihre seltsamen Zeichnungen entsprangen eben nicht einem artifiziellen Drang zum Fantastischen, wie wir es in den Museen und Kunstbüchern gesehen hatten, sondern einer inneren Notwendigkeit."
Schweigen, sinnieren, zeichnen - jeden Tag dasselbe. Man denkt unwillkürlich an Ludwig Tiecks Waldeinsamkeit im "Blonden Eckbert", wo Zeit in Unendlichkeit aufgehoben ist und die Frau des Protagonisten über Jahre unaufhörlich dieselben Dinge verrichtet. Diese Chimäre verpufft bei Krüger allerdings in den Momenten, da das Jugendamt vorbeischaut und anfragt, was es mit der seltsamen Wohngemeinschaft eigentlich auf sich hat. Dann erinnern wir uns daran, dass der Roman, dessen Handlung hauptsächlich aus Exkursen und Reflexionen besteht, in der Realität spielt und kein Märchen ist. Der größte Bestseller des Erzählers trägt übrigens den Titel "Zuerst die Stärken stärken, dann die Schwächen schwächen". Michael Krüger hat in "Vorübergehende" zu oft die Schwächen gestärkt und dann die Stärken geschwächt.
KAI SPANKE
Michael Krüger:
"Vorübergehende". Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2018. 200 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Muse aus dem Takt gebracht: Michael Krüger betrachtet "Vorübergehende"
Roman steht drauf, Kolumnen sind drin. Und die klingen so: "Als ich vor fast fünfzig Jahren mit meiner Tätigkeit anfing, mussten wir uns noch der deutschen Sprache bedienen, heute sind wir als Consulter-Experten für Work-Life-Balance und Personal Branding unterwegs." Michael Krügers Ich-Erzähler ist Motivationscoach, beschäftigt sich aber lieber mit Kulturkritik. Nichts entgeht seinem sezierenden Blick, das goldlaminierte Smartphone kommentiert er genauso in Grund und Boden wie zu Fußgängerzonen umgemodelte Bahnhöfe. Manager, die keine Bücher lesen, sondern lieber deren Verfilmungen anschauen, werden mit derselben Hingabe heruntergeputzt wie Flachbildschirme, selbstfahrende Autos und die "digitalen Metastasen", von denen ständig in den Zeitungen zu lesen sei.
Die Suada gegen die Geistlosigkeit der Gegenwart gerät dem Erzähler so gepfeffert und allumfassend, dass man sie kaum ernst nehmen mag. Das ist schade, denn viele gute Beobachtungen gehen in der Hitze der Dauererregung leider unter. Mode: "Mittlerweile sehen ja fast alle Kinder ähnlich aus und unterscheiden sich nur noch durch die Aufschriften auf ihren T-Shirts." Architektur: "Der Potsdamer Platz war nichts anderes als ein Mahnmal der exklusiven Hässlichkeit." Deutsche Bahn (aus Platzgründen in Stichworten): Personen im Gleis, nicht zu öffnende Fenster, dummdreister Schaffner, dummdreistere Fahrgäste, Verspätung, verpasste Anschlusszüge. Auch wer Krügers Buch nicht gelesen hat, ist über all dies im Bilde, weil es sich um Offensichtliches, allenthalben Beklagtes oder am Stammtisch längst Besprochenes handelt.
Als Antidot zu solchen Missständen taugen, das lernen wir direkt auf der zweiten Seite, Cioran und Canetti, Lichtenberg und Nietzsche. Der Erzähler selbst klingt zuweilen eher wie eine etwas aus dem Takt geratene Figur Thomas Bernhards ("Ein einziges Möbelstück ist dieser totalen Lebensvernichtung entgangen"). Er trägt auf seinen Reisen stets ein Buch mit Aphorismen bei sich, das ordentlich auf ihn abgefärbt hat: "Alle wollten gut sein und das Gute wollen, aber das Gute war ein seltenes Gut." Auch in der Literatur ist das Gute höchst selten, und Krügers Roman stellt nur passagenweise eine Ausnahme dieser Regel dar. Er trägt den Titel "Vorübergehende" und handelt von einem Erzähler, der in andauernder Selbst- und Fremdbespiegelung vor sich hin assoziiert. Als er während einer Zugfahrt aus dem Schlaf erwacht, bemerkt er, dass sich ein Mädchen an ihn geschmiegt hat. Es heißt Jara, spricht kein Deutsch, sieht aus wie eine Mischung aus "Kobold und Fee" und lebt fortan mit ihm zusammen.
Die meiste Zeit befasst sich Jara nur mit einer Sache, dem Zeichnen. Gemeinsam mit einem naseweisen Nachbarsburschen bildet sie ein verschworenes Zweiergespann. Er plant, ihre Bilder in einem Buch namens "Atlas der verborgenen Erinnerungen" herauszubringen, sie - schweigt. Im Gegensatz zum scharf konturierten Erzähler, der gut bezahlte Initiativreferate bei Events wie der Jahrestagung des Deutschen Molkereiverbands hält, wird Jara mit fortschreitender Lektüre immer enigmatischer. Hier zeigt Krüger, dass er Literatur auch als Verschleierungskunst beherrscht. Dieses ätherische Mädchen ist nämlich vor allem eine unter Genieverdacht stehende, sich ständig wandelnde Leerstelle: "Was sie machte, war von Bedeutung, ihre seltsamen Zeichnungen entsprangen eben nicht einem artifiziellen Drang zum Fantastischen, wie wir es in den Museen und Kunstbüchern gesehen hatten, sondern einer inneren Notwendigkeit."
Schweigen, sinnieren, zeichnen - jeden Tag dasselbe. Man denkt unwillkürlich an Ludwig Tiecks Waldeinsamkeit im "Blonden Eckbert", wo Zeit in Unendlichkeit aufgehoben ist und die Frau des Protagonisten über Jahre unaufhörlich dieselben Dinge verrichtet. Diese Chimäre verpufft bei Krüger allerdings in den Momenten, da das Jugendamt vorbeischaut und anfragt, was es mit der seltsamen Wohngemeinschaft eigentlich auf sich hat. Dann erinnern wir uns daran, dass der Roman, dessen Handlung hauptsächlich aus Exkursen und Reflexionen besteht, in der Realität spielt und kein Märchen ist. Der größte Bestseller des Erzählers trägt übrigens den Titel "Zuerst die Stärken stärken, dann die Schwächen schwächen". Michael Krüger hat in "Vorübergehende" zu oft die Schwächen gestärkt und dann die Stärken geschwächt.
KAI SPANKE
Michael Krüger:
"Vorübergehende". Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2018. 200 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Michael Krüger ist mir als Leserin ein immer anregender Autor verblüffender Romane und berührender Gedichte gewesen und ist das noch. Er ist gescheit, witzig, melancholisch, weltläufig." "Krüger klinkt sich aus, wie viele sich ausklinken, und schreibt einfach nur stille, kluge, schöne Geschichten von Flucht." FOCUS, Elke Heidenreich "Als Leserin - oder Leser - hat man längst begonnen, diesen Erzähler beziehungsweise seine Figur gegen sich selbst zu verteidigen. Einen Platz im Himmel hat er sich auf jeden Fall verdient für die Zeit, in der das Mädchen Jara bei ihm in Ruhe, Frieden und Wohlstand leben darf. Einen Ehrenplatz bekommt der Autor für diesen humorvollen, selbstironischen, lebensklugen Text. Das Buch eröffnet auf seine Weise ein behutsames Gespräch mit dem Ich-Erzähler. Wer dieses Buch liest, ist nicht allein." NDR, Annemarie Stoltenberg "Es liegt etwas Märchenhaftes über dieser Begegnung, ganz so, als hätte sie der Erzähler kurz vor oder hinter Göttingen nur geträumt." Süddeutsche Zeitung, Christoph Bartmann "Michael Krügers erfahrungssatter neuer Roman 'Vorübergehende' beschwört den flüchtigen Sinn des Lebens. " DIE ZEIT, Julia Schröder, 29. November 2018 "Hier zeigt Krüger, dass er Literatur auch als Verschleierungskunst beherrscht." Frankfurter Allgemeine Zeitung, Kai Spanke "Die Selbstverständlichkeit, mit der Michael Krüger von unerhörten Begebenheiten, von eigenwilliger Moral und seelischer Zartheit erzählt, macht sein Buch faszinierend. Das ist mit Leichtigkeit und Eleganz entwickelt, mit Humor, der durchaus wütend, doch nie zynisch ist. Und mit einer Spur Wehmut, die der Lebensklugheit des Autors entspringt." Deutschlandfunk Kultur, Carsten Hueck "Ironie und Melancholie, Wehmut und Humor gehören zu Krügers literarischen Ingredienzen. Mit großem Vergnügen also liest sich dieses Buch ... es ist immer mit treffsicherer Leichtigkeit formuliert." Münchner Merkur, Sabine Dultz "eine kurze, spannende Geschichte, die dem 74-jährigen Autor viel Raum lässt, lustvoll-weise abzuschweifen in Komisches und Tragisches unserer Gegenwart" Weilheimer Tagblatt, Magnus Reitinger "ein reflektierter, verspielt komponierter Roman" literaturkritik.de, Thorsten Paprotny "Eine Kostbarkeit, die gegen Einsamkeit hilft." KURIER, Peter Pisa "Der lineare Handlungsbogen um ein berührendes Migrantenschicksal dient als Klammer scharfsinniger Gedanken zur desolaten Gegenwartssituation Europas ... Für Freunde vielschichtiger Literatur." ekz-bibliotheksservice, Lutz Hillingmeier