Jospin, Blair, Schröder: 1998 sah es so aus, als stünde die europäische Sozialdemokratie vor einem goldenen Zeitalter. Elf Jahre später hat die SPD 10.192.426 Millionen Stimmen verloren und sechs Parteivorsitzende verschlissen, die niederländische Partij van de Arbeid fuhr 2002 das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein, die schwedischen Sozialdemokraten 2006, die österreichischen 2008. Der "Dritte Weg" erwies sich als Weg ins Abseits, längst ist vom Ende einer Volkspartei die Rede. Es sieht so aus, als hätten die Sozialdemokraten keine überzeugende Antwort auf den radikalen Wandel der Arbeitswelt, auf Individualisierung und Globalisierung. Franz Walter, einer der profiliertesten deutschen Parteienforscher und ausgewiesener SPD-Experte, untersucht die Ursachen für den Niedergang der SPD, der, so Walter, schon 1973 begann. Er wirft einen Blick über die Grenzen Deutschlands und fragt, was Freiheit, Gleichheit und Solidarität in unserer Zeit bedeuten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2010Muskellos
Entwicklung der SPD
Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter drischt munter auf die SPD ein. Er setzt ein mit dem Zäsurjahr 1973, als der Nachkriegsboom "versiegte". Damals sei die Krise über die Westdeutschen an sich und über die Sozialdemokraten im Besonderen gekommen. Symbol der Schockerfahrung war das Fahrverbot an vier Sonntagen: "Tristesse und Verunsicherung lagen über der Republik." Seither habe die berufsstolze, zukunftsoptimistische Arbeiterklasse die Bühne verlassen; der "Malocher" mit starken Muskeln und "gut geschulter sozialistischer Gesinnung" sei abgetreten. Die Arbeiterklasse habe sich aufgespalten: auf der einen Seite "die Verlierer, die zunehmend vereinzelten, resignierten und zur Apathie neigten", auf der anderen Seite "die Gewinner, welche die Aufstiegschancen im öffentlichen Dienst und in den neuen ökonomischen Sektoren ergriffen hatten". Denen ging es besser als ihren "sozial blockierten Eltern und Großeltern. Und sie goutierten in den folgenden Jahren die Möglichkeiten einer nichtmilieugebundenen Individualität und Optionsvielfalt."
Die Aufsteiger, vorn in der Partei als Mandatsträger und Vorstandsmitglieder, hätten sich noch in der Solidarität mit den "kleinen Leuten" gewähnt, aber nicht länger dazugehört. Durch den Aufstiegsakt habe man die Lebenswelten der Arbeitermilieus hinter sich gelassen. Die SPD-Politiker neuen Typs hätten versucht, "sich vom Stigma der Staatsfixierung zu lösen und nun ebenfalls dem Privaten den Vorrang zu geben". Zu Beginn der rot-grünen Koalition sei durch das deutsch-britische Hombach-Mandelson-Papier das "Eigene" der Sozialdemokratie, der zähe Kampf für soziale Gerechtigkeit, an den Pranger gestellt worden. Die Sozialdemokraten hätten 1999 "eine große historische Chance vertan. Denn sie verfügten zu jener Zeit in Europa weitflächig über die Regierungsmacht. Sie hätten die Finanzpolitik konzertieren, hätten harte Regeln für die Finanzmärkte aufstellen können." Stattdessen habe die Regierung Schröder eine Politik verfolgt, die die Mehrheit der Bevölkerung als "sozial unausgewogen" empfunden habe. In dieser Phase sei eine "Neu-SPD" entstanden, die "nicht mehr auf die Vertretung des Souterrains" setze und auch "nicht mehr in erster Linie als politische Arbeiterwohlfahrt, nicht hauptsächlich mehr als sorgender Samariter hilfloser kleiner Leute wahrgenommen werden" möchte. Stattdessen genieße die "Prämierung durch Leistung diesseits von Stand und Klasse" sowie wirtschaftliche Innovation und Dynamik absoluten Vorrang. Dem stehe allerdings "weiterhin eine gemäßigt traditionalistische Gruppe gegenüber, die das klassische Kooperationskonzept von Mitte und Unten im Rahmen einer Volkspartei der ,linken Mitte' nicht aufgeben will". Walters Fazit lautet: "Die Sozialdemokraten hatten in den elf Jahren ihrer Regierungszeit" - also bis zum Ende der Großen Koalition - "das Vertrauen gebrochen, das gerade die unteren Schichten ihnen 1998 noch entgegengebracht hatten". Der Vertrauensverlust sei beschleunigt worden durch die Diskrepanz zwischen "großspurigen Slogans, die Gutes verhießen" (Ein-Euro-Beschäftigungen, Jobcenter et cetera), und "den ernüchternden Lebensbedingungen".
RAINER BLASIUS
Franz Walter: Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 141 S., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Entwicklung der SPD
Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter drischt munter auf die SPD ein. Er setzt ein mit dem Zäsurjahr 1973, als der Nachkriegsboom "versiegte". Damals sei die Krise über die Westdeutschen an sich und über die Sozialdemokraten im Besonderen gekommen. Symbol der Schockerfahrung war das Fahrverbot an vier Sonntagen: "Tristesse und Verunsicherung lagen über der Republik." Seither habe die berufsstolze, zukunftsoptimistische Arbeiterklasse die Bühne verlassen; der "Malocher" mit starken Muskeln und "gut geschulter sozialistischer Gesinnung" sei abgetreten. Die Arbeiterklasse habe sich aufgespalten: auf der einen Seite "die Verlierer, die zunehmend vereinzelten, resignierten und zur Apathie neigten", auf der anderen Seite "die Gewinner, welche die Aufstiegschancen im öffentlichen Dienst und in den neuen ökonomischen Sektoren ergriffen hatten". Denen ging es besser als ihren "sozial blockierten Eltern und Großeltern. Und sie goutierten in den folgenden Jahren die Möglichkeiten einer nichtmilieugebundenen Individualität und Optionsvielfalt."
Die Aufsteiger, vorn in der Partei als Mandatsträger und Vorstandsmitglieder, hätten sich noch in der Solidarität mit den "kleinen Leuten" gewähnt, aber nicht länger dazugehört. Durch den Aufstiegsakt habe man die Lebenswelten der Arbeitermilieus hinter sich gelassen. Die SPD-Politiker neuen Typs hätten versucht, "sich vom Stigma der Staatsfixierung zu lösen und nun ebenfalls dem Privaten den Vorrang zu geben". Zu Beginn der rot-grünen Koalition sei durch das deutsch-britische Hombach-Mandelson-Papier das "Eigene" der Sozialdemokratie, der zähe Kampf für soziale Gerechtigkeit, an den Pranger gestellt worden. Die Sozialdemokraten hätten 1999 "eine große historische Chance vertan. Denn sie verfügten zu jener Zeit in Europa weitflächig über die Regierungsmacht. Sie hätten die Finanzpolitik konzertieren, hätten harte Regeln für die Finanzmärkte aufstellen können." Stattdessen habe die Regierung Schröder eine Politik verfolgt, die die Mehrheit der Bevölkerung als "sozial unausgewogen" empfunden habe. In dieser Phase sei eine "Neu-SPD" entstanden, die "nicht mehr auf die Vertretung des Souterrains" setze und auch "nicht mehr in erster Linie als politische Arbeiterwohlfahrt, nicht hauptsächlich mehr als sorgender Samariter hilfloser kleiner Leute wahrgenommen werden" möchte. Stattdessen genieße die "Prämierung durch Leistung diesseits von Stand und Klasse" sowie wirtschaftliche Innovation und Dynamik absoluten Vorrang. Dem stehe allerdings "weiterhin eine gemäßigt traditionalistische Gruppe gegenüber, die das klassische Kooperationskonzept von Mitte und Unten im Rahmen einer Volkspartei der ,linken Mitte' nicht aufgeben will". Walters Fazit lautet: "Die Sozialdemokraten hatten in den elf Jahren ihrer Regierungszeit" - also bis zum Ende der Großen Koalition - "das Vertrauen gebrochen, das gerade die unteren Schichten ihnen 1998 noch entgegengebracht hatten". Der Vertrauensverlust sei beschleunigt worden durch die Diskrepanz zwischen "großspurigen Slogans, die Gutes verhießen" (Ein-Euro-Beschäftigungen, Jobcenter et cetera), und "den ernüchternden Lebensbedingungen".
RAINER BLASIUS
Franz Walter: Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 141 S., 12,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Der These, dass der Abstieg der großen Volkspartei SPD im Ölkrisenjahr 1973 seinen Anfang nahm, kann Stefan Reinecke einiges abgewinnen. Der Politikwissenschaftler Franz Walter besiegelt mit diesem Datum das Ende des Wirtschaftswunders und den Beginn von Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung, die in der Folge mit wirtschaftspolitischen Instrumenten nicht mehr einzuholen sein werden. Parallel dazu profitiere nur ein Teil der traditionellen Klientel vom erst durch die SPD möglich gemachten Bildungsaufstieg. Walter führt schlüssig aus, meint Reinecke, dass diese innerparteiliche Spaltung auf Seiten der Profiteure, etwa in Gestalt des "klassischen Aufsteigers" Gerhard Schröder auch psychologische Reflexe nach sich zog, "ein für Aufsteiger typischer Akt der Überanpassung", so der Rezensent. Spannend findet Reinecke daher auch Walters Ausblick: Wird es der alten Tante SPD gelingen ihre neuere Geschichte als Partei der "Bildungsaufsteiger" anzuerkennen um daraus verjüngt hervorzugehen und eine gesellschaftspolitische Vision zu entwickeln?
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Nach der Lektüre blickt man mit einer aufgeklärten Skepsis auf all die klugen Ratschläge, dass die SPD bloß dieses oder jenes tun müsse, um erfolgreich zu werden.« Robert Pausch DIE ZEIT 20210805