Ein Roman zwischen Tag und Traum - vielfarbig, klar und vibrierend vor verborgenen Möglichkeiten.
Er kann nicht mehr schlafen, muss immerzu gehen: abends, nachts, immer länger, immer weiter. August Kreutzer sucht Erlebnisse, sammelt Bilder und die dahinter verborgenen Geschichten - in heruntergekommenen Ladenzeilen, in Eckkneipen, auf Friedhöfen und auf dem Weg zur riesigen Mall, wo er arbeitet. Dort, in einer künstlichen Welt ohne schlechtes Wetter, kreiert er Einkaufserlebnisse. Ruhe findet er nur bei Manja, der Crêpe-Verkäuferin, die ihm Süßes serviert und Geschichten aus ihrem Leben. So vergeht der Sommer zwischen immer längeren Streunereien und der zehrenden Routine des Tags, in bleierner Müdigkeit, die zugleich die Sinne schärft: August sieht sich verfolgt von einem Doppelgänger, der unter seinem Namen obszöne Einträge im Internet verbreitet; und er wird sich selbst verdächtig. Zwischen Tag und Traum, Stadtrand und Hochglanzvierteln entspinnt sich ein heutiges Leben, das vibriert vor vergangenen und verborgenen Möglichkeiten. «Wach» zeichnet ein Bild unserer Zeit, vielfarbig, klar und fein durchzogen von den Fäden viel älterer Geschichten.
«Die neue Entdeckung der Langsamkeit: Der Berliner Schriftsteller Albrecht Selge legt mit 'Wach' ein Romandebüt vor, das die Stadt zur Heldin macht. Ein subtil komponiertes Adagio für kleine Besetzung.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
«Albrecht Selges Debüt 'Wach' ist ein mal scheues, mal wortmutiges Buch über einen eigenwilligen Streuner, der uns verführt, ihn zu begleiten beim Erforschen all der unbegreiflichen Bewegungen im öffentlichen Raum.» STERN
«Unbedingt lesenswert.» DIE ZEIT
«Ein bemerkenswertes Debüt.» NEON
Er kann nicht mehr schlafen, muss immerzu gehen: abends, nachts, immer länger, immer weiter. August Kreutzer sucht Erlebnisse, sammelt Bilder und die dahinter verborgenen Geschichten - in heruntergekommenen Ladenzeilen, in Eckkneipen, auf Friedhöfen und auf dem Weg zur riesigen Mall, wo er arbeitet. Dort, in einer künstlichen Welt ohne schlechtes Wetter, kreiert er Einkaufserlebnisse. Ruhe findet er nur bei Manja, der Crêpe-Verkäuferin, die ihm Süßes serviert und Geschichten aus ihrem Leben. So vergeht der Sommer zwischen immer längeren Streunereien und der zehrenden Routine des Tags, in bleierner Müdigkeit, die zugleich die Sinne schärft: August sieht sich verfolgt von einem Doppelgänger, der unter seinem Namen obszöne Einträge im Internet verbreitet; und er wird sich selbst verdächtig. Zwischen Tag und Traum, Stadtrand und Hochglanzvierteln entspinnt sich ein heutiges Leben, das vibriert vor vergangenen und verborgenen Möglichkeiten. «Wach» zeichnet ein Bild unserer Zeit, vielfarbig, klar und fein durchzogen von den Fäden viel älterer Geschichten.
«Die neue Entdeckung der Langsamkeit: Der Berliner Schriftsteller Albrecht Selge legt mit 'Wach' ein Romandebüt vor, das die Stadt zur Heldin macht. Ein subtil komponiertes Adagio für kleine Besetzung.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
«Albrecht Selges Debüt 'Wach' ist ein mal scheues, mal wortmutiges Buch über einen eigenwilligen Streuner, der uns verführt, ihn zu begleiten beim Erforschen all der unbegreiflichen Bewegungen im öffentlichen Raum.» STERN
«Unbedingt lesenswert.» DIE ZEIT
«Ein bemerkenswertes Debüt.» NEON
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2011Erlösung unter Glas und Plastikpalmen
Die neue Entdeckung der Langsamkeit: Der Berliner Schriftsteller Albrecht Selge legt mit "Wach" ein Romandebüt vor, das die Stadt zur Heldin macht.
Von Sandra Kegel
Albrecht Selge versteht sich aufs Gehen. Der in Berlin lebende Autor hat sich bislang vor allem mit der Entwicklung akustischer Reiseführer befasst und musste dafür selbst viele Stunden lang durch europäische Metropolen marschieren. Diese Audioguides sind speziell für Fußgänger konzipiert, die Paris, London oder Rom Schritt für Schritt erobern wollen, ohne Gruppenzwang, Touristenstaunen und Fremdenführerwitze. Sonore Stimmen im Kopfhörer lotsen den Berlin-Besucher dann vom Potsdamer über den Pariser Platz zu Holocaust-Mahnmal, Museumsinsel und Hackeschem Markt. Es muss einen also nicht wundern, dass Albrecht Selge auch den Protagonisten seines soeben erschienenen ersten Romans auf endlose Fußmärsche durch Berlin schickt. Dabei ist sein Romanheld keinesfalls auf touristische Sehenswürdigkeiten aus. August Kreutzer ist vielmehr ein absichtsloser Flaneur, der scheinbar ziellos, aber durchaus mit dem Blick fürs Detail durch die Straßen Berlins streift und sich dabei dem Zufall von Zeit und Ort überlässt.
Seine Tage verbringt der sechsunddreißigjährige Junior Manager einer Shopping-Mall damit, im künstlich erleuchteten Lustschlösschen-Center Einkaufserlebnisse für Kunden zu erfinden. "Tauchen Sie ein in die Marzipan-Welt", schwärmt er in seinem Kunden-Newsletter, den er Monat für Monat schreiben muss und in dem er von "zuckersüßen Multibeeren aus der Region" bis zum "extra geräumigen Planschbecken" alles anpreist, was sich nur irgendwie verkaufen lässt. "Wir erzählen eine große Story, ein Epos von Ohnmacht und Macht, von Pleitegeiern und himmlischen Heerscharen, von Untergang und Auferstehung", erklärt dies Augusts Chef Xerxes, der in diesem anspielungsreichen Roman nicht zufällig den Namen des bauwütigen Pharaos trägt. Adressaten dieser Legende aus Glas und Plastikpalmen sind Rentnerinnen, die mit großen Eisbechern auf der Galerie im Panorama-Café sitzen, Schulschwänzerinnen, die Rolltreppen hinauf- und hinabfahren, und Kinderwagen schiebende Hausfrauen. "Die Mall am Mittag eines Werktags ist eine Welt in Schieflage", sinniert August, "wie die männerlose Welt nach einem großen Krieg". Der grellen Tagwelt des Lustschlösschen-Centers aus Sportstudio, Erlebnisbad und Multiplex stehen Augusts einsame Nächte gegenüber.
Der junge Mann, der sich erst mit Ritalin aufputscht, um dann zur Beruhigung Baldriantropfen zu nehmen, kann nicht mehr schlafen. Seine Freundin Susanne ist auf unbestimmte Zeit nach London entschwunden, und wenn er nicht gerade zu Hause Musik von Richard Strauss oder Bach auflegt, zieht es ihn hinaus in die Stadt, in der er sich berauscht an fremden Erlebnissen, Bildern und Geschichten. August schleicht durch Treppenhäuser und schaut in Briefkastenschlitze, er streunt über Friedhöfe, Spielplätze und untersucht Klingelschilder, ihn fesseln Orte, an denen sich die Zeiten ineinanderschieben: die Designerboutique, die einmal ein Kramladen war, das leerstehende Geschäft, das noch den Namenszug "Bäckerei" erkennen lässt, der Supermarkt, der einmal ein Kino gewesen sein muss.
Albrecht Selge, Jahrgang 1975, der in West-Berlin aufwuchs und Germanistik und Philosophie studiert hat, war 2004 Finalist des Literaturwettbewerbs Open Mike. Mit seinem Debüt, in dem Berlin den bedeutendsten Part einnimmt, stellt er sich selbstbewusst in eine Reihe mit Alexander Döblin, Alfred Kerr und natürlich dem berühmten Berlin-Flaneur Franz Hessel, der in den zwanziger Jahren Lektor just in jenem Rowohlt Verlag war, der jetzt Selges Wanderungen durch Berlin veröffentlicht. Während Döblin die Beschleunigung einer molochartig wuchernden Metropole aufgriff, drosselt Selge die Geschwindigkeit. Ihm schwebt keine Symphonie der Großstadt vor; vielmehr entdeckt er die Langsamkeit, die fast in Stille übergeht, und so erweist sich "Wach" als subtil komponiertes Adagio für kleine Besetzung.
Neben August und seinem skurrilen Chef Xerxes taucht nur die Crêpes-Verkäuferin Manja noch auf, die einst sowjetische Ingenieurwissenschaften studiert hat, weshalb sie jetzt lauter Geräte bauen, warten und reparieren kann, die es nicht mehr gibt. Mit ihren süßen Speisen und ihrem trockenen Witz vermag die Russin die Verschnürungen in August Herzens wenigstens für gewisse Zeit zu lösen.
August ist ein sympathischer, melancholischer Irrläufer, nicht nur räumlich: Er ist auch wie aus der Zeit gefallen, passt nicht in unser Jahrhundert. Mit der Aufgeschlossenheit eines staunenden Kindes erforscht er die Eigenartigkeiten der Menschen um sich herum: Da gibt es die Aktivisten, die, mit Masken und Höhlenlampen ausgerüstet, den Abfall der Müllhalden aufsammeln, um sich so dem System zu widersetzen. Oder die Manager, denen er beim "Arbeitskreis Seelenführung" begegnet, die für eine höhere Verkaufsstrategie den ganzen Tag auf Socken um Seneca und Buddhafiguren herumlaufen.
Spannung gewinnt diese Spurensuche eines langen Sommers nur ein Mal, und zwar gegen Ende des Romans, als August sich zunehmend verfolgt fühlt. Jemand benutzt im Internet seinen Namen und tummelt sich nun mit üblen Sprüchen auf Hassforen und Sexseiten. Doch vor allem sind es diese sich überblendenden Beobachtungen, Reflexionen und Gedankenfetzen eines Übernächtigten, die den Reiz von Albrecht Selges Prosa ausmachen, dieses Staunen über die Welt und was sie im Innersten zusammenhält. "Dass alle so ruhig bleiben beim Dahinleben, dass nicht alles zusammenbricht, weil alle den Dienst quittieren, dass nicht alle aufhören damit: Aufstehen. Anziehen. Essen. Und Arbeiten." Darüber wundert sich nicht nur August.
Albrecht Selge: "Wach". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die neue Entdeckung der Langsamkeit: Der Berliner Schriftsteller Albrecht Selge legt mit "Wach" ein Romandebüt vor, das die Stadt zur Heldin macht.
Von Sandra Kegel
Albrecht Selge versteht sich aufs Gehen. Der in Berlin lebende Autor hat sich bislang vor allem mit der Entwicklung akustischer Reiseführer befasst und musste dafür selbst viele Stunden lang durch europäische Metropolen marschieren. Diese Audioguides sind speziell für Fußgänger konzipiert, die Paris, London oder Rom Schritt für Schritt erobern wollen, ohne Gruppenzwang, Touristenstaunen und Fremdenführerwitze. Sonore Stimmen im Kopfhörer lotsen den Berlin-Besucher dann vom Potsdamer über den Pariser Platz zu Holocaust-Mahnmal, Museumsinsel und Hackeschem Markt. Es muss einen also nicht wundern, dass Albrecht Selge auch den Protagonisten seines soeben erschienenen ersten Romans auf endlose Fußmärsche durch Berlin schickt. Dabei ist sein Romanheld keinesfalls auf touristische Sehenswürdigkeiten aus. August Kreutzer ist vielmehr ein absichtsloser Flaneur, der scheinbar ziellos, aber durchaus mit dem Blick fürs Detail durch die Straßen Berlins streift und sich dabei dem Zufall von Zeit und Ort überlässt.
Seine Tage verbringt der sechsunddreißigjährige Junior Manager einer Shopping-Mall damit, im künstlich erleuchteten Lustschlösschen-Center Einkaufserlebnisse für Kunden zu erfinden. "Tauchen Sie ein in die Marzipan-Welt", schwärmt er in seinem Kunden-Newsletter, den er Monat für Monat schreiben muss und in dem er von "zuckersüßen Multibeeren aus der Region" bis zum "extra geräumigen Planschbecken" alles anpreist, was sich nur irgendwie verkaufen lässt. "Wir erzählen eine große Story, ein Epos von Ohnmacht und Macht, von Pleitegeiern und himmlischen Heerscharen, von Untergang und Auferstehung", erklärt dies Augusts Chef Xerxes, der in diesem anspielungsreichen Roman nicht zufällig den Namen des bauwütigen Pharaos trägt. Adressaten dieser Legende aus Glas und Plastikpalmen sind Rentnerinnen, die mit großen Eisbechern auf der Galerie im Panorama-Café sitzen, Schulschwänzerinnen, die Rolltreppen hinauf- und hinabfahren, und Kinderwagen schiebende Hausfrauen. "Die Mall am Mittag eines Werktags ist eine Welt in Schieflage", sinniert August, "wie die männerlose Welt nach einem großen Krieg". Der grellen Tagwelt des Lustschlösschen-Centers aus Sportstudio, Erlebnisbad und Multiplex stehen Augusts einsame Nächte gegenüber.
Der junge Mann, der sich erst mit Ritalin aufputscht, um dann zur Beruhigung Baldriantropfen zu nehmen, kann nicht mehr schlafen. Seine Freundin Susanne ist auf unbestimmte Zeit nach London entschwunden, und wenn er nicht gerade zu Hause Musik von Richard Strauss oder Bach auflegt, zieht es ihn hinaus in die Stadt, in der er sich berauscht an fremden Erlebnissen, Bildern und Geschichten. August schleicht durch Treppenhäuser und schaut in Briefkastenschlitze, er streunt über Friedhöfe, Spielplätze und untersucht Klingelschilder, ihn fesseln Orte, an denen sich die Zeiten ineinanderschieben: die Designerboutique, die einmal ein Kramladen war, das leerstehende Geschäft, das noch den Namenszug "Bäckerei" erkennen lässt, der Supermarkt, der einmal ein Kino gewesen sein muss.
Albrecht Selge, Jahrgang 1975, der in West-Berlin aufwuchs und Germanistik und Philosophie studiert hat, war 2004 Finalist des Literaturwettbewerbs Open Mike. Mit seinem Debüt, in dem Berlin den bedeutendsten Part einnimmt, stellt er sich selbstbewusst in eine Reihe mit Alexander Döblin, Alfred Kerr und natürlich dem berühmten Berlin-Flaneur Franz Hessel, der in den zwanziger Jahren Lektor just in jenem Rowohlt Verlag war, der jetzt Selges Wanderungen durch Berlin veröffentlicht. Während Döblin die Beschleunigung einer molochartig wuchernden Metropole aufgriff, drosselt Selge die Geschwindigkeit. Ihm schwebt keine Symphonie der Großstadt vor; vielmehr entdeckt er die Langsamkeit, die fast in Stille übergeht, und so erweist sich "Wach" als subtil komponiertes Adagio für kleine Besetzung.
Neben August und seinem skurrilen Chef Xerxes taucht nur die Crêpes-Verkäuferin Manja noch auf, die einst sowjetische Ingenieurwissenschaften studiert hat, weshalb sie jetzt lauter Geräte bauen, warten und reparieren kann, die es nicht mehr gibt. Mit ihren süßen Speisen und ihrem trockenen Witz vermag die Russin die Verschnürungen in August Herzens wenigstens für gewisse Zeit zu lösen.
August ist ein sympathischer, melancholischer Irrläufer, nicht nur räumlich: Er ist auch wie aus der Zeit gefallen, passt nicht in unser Jahrhundert. Mit der Aufgeschlossenheit eines staunenden Kindes erforscht er die Eigenartigkeiten der Menschen um sich herum: Da gibt es die Aktivisten, die, mit Masken und Höhlenlampen ausgerüstet, den Abfall der Müllhalden aufsammeln, um sich so dem System zu widersetzen. Oder die Manager, denen er beim "Arbeitskreis Seelenführung" begegnet, die für eine höhere Verkaufsstrategie den ganzen Tag auf Socken um Seneca und Buddhafiguren herumlaufen.
Spannung gewinnt diese Spurensuche eines langen Sommers nur ein Mal, und zwar gegen Ende des Romans, als August sich zunehmend verfolgt fühlt. Jemand benutzt im Internet seinen Namen und tummelt sich nun mit üblen Sprüchen auf Hassforen und Sexseiten. Doch vor allem sind es diese sich überblendenden Beobachtungen, Reflexionen und Gedankenfetzen eines Übernächtigten, die den Reiz von Albrecht Selges Prosa ausmachen, dieses Staunen über die Welt und was sie im Innersten zusammenhält. "Dass alle so ruhig bleiben beim Dahinleben, dass nicht alles zusammenbricht, weil alle den Dienst quittieren, dass nicht alle aufhören damit: Aufstehen. Anziehen. Essen. Und Arbeiten." Darüber wundert sich nicht nur August.
Albrecht Selge: "Wach". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2011Schlaflos in der Shopping Mall
Ein tagträumender Submanager im Berlin dieser Jahre: Albrecht Selges rundum gelungenes Romandebüt „Wach“
Ist, wer nie schlafen kann, immer wach? Wer „Wach“, den Debütroman des Berliner Autors Albrecht Selge, liest, wird das bezweifeln. Sein Held August Kreutzer leidet an „Insomnie und Gehzwang“, er ist chronisch schlaflos und wandert vor allem in den Abend- und Nachtstunden ziellos durch die große Stadt, die er teils überscharf, teils traumhaft verschwommen wahrnimmt. Viel mehr Handlung hat dieses schöne, stille, oft auch komische Buch nicht. Natürlich muss August einen bürgerlichen Beruf haben, und so kommt etwas zeitgenössische Wirklichkeit in die sorgsam polierte beschreibende Prosa.
Der 36 Jahre alte Kreutzer ist Betriebswirt und arbeitet als Submanager in einer der seit den neunziger Jahren in Berlin entstandenen großen Shoppingmalls, die als globalisierte Konsumtempel die Welt im Kleinen nachbilden. Sein „Lustschlösschencenter“ gehört zur Kette „Künstliche Paradiese“, die Malls um den ganzen Erdball errichtet. Im Berliner „Lustschlösschen“ heißen die Einkaufsstraßen nach den teuersten Luxus-Boulevards der Welt, also Via Condotti oder Oxford Street; trotzdem werden in den Newsletters vor allem „Preis-Clous des Monats“ empfohlen. Neben einer „Seufzer-Brücke“ wird auch ein „Trevi-Brunnen“ mit barockem, Jeff-Koons-haftem Pop-Pomp eröffnet.
Nichts ist wirklich hier, aber eigentlich alles an dieser urbanistischen Neuerfindung unserer Jahre erkennt man wieder. Augusts Chef heißt Xerxes und zitiert tatsächlich wörtlich Herodot, wenn er bei einer Eröffnungsfeier von der Höhe der Rolltreppe auf die Menge blickt: „Sehen Sie, Herr Kreutzer, da unten stehen Männer ohne Zahl, muskulöse Männer, ihre Arme sind die stärksten, ihre Nacken die dicksten, ihre Fitness die höchste, was sage ich: die allerhöchste . . . und von all diesen Menschen wird in hundert Jahren keiner mehr leben.“
So spukt ohne Unterlass die europäische Kultur unter dieser nicht sozialkritisch, sondern zart romantisiert gezeichneten Oberfläche heutiger Konsumwelt. Dass eine Figur namens Kreutzer ein exzellenter Kenner klassischer Musik ist, versteht sich fast von selbst. Die russische Crêpe-Bäckerin, in die August sich fast verliebt, muss sich „Manon Lescaut“ nennen, um französisches Flair zu erzeugen.
Da „Wach“ aber eben doch in der Gegenwart spielt, wird es einmal auch als Erinnerungsspeicher an das Berlin unserer Jahre dienen können: Die jedem Berliner bekannte Chinesin, die stets vor der Tür nur der besten Konzerte mit dem Schild „Suche Freikarte“ steht und es zuverlässig hineinschafft, wird ebenso liebevoll geschildert wie der außerhalb der künstlichen Shoppingparadiese abrutschende Stadtraum: „Früher war Raum zwischen den Gebäuden, heute ist nur noch Abstand.“ Und so hat es seine Logik, dass der neben der Mall dominierende neue Bautypus das Jobcenter, die Arbeitsagentur ist, wie der Roman klug-altklug bemerkt – hier zahlen die Kunden „mit leeren Stunden“. Die neuen Regierungsbauten, werden knapp und treffend „prachtlose Paläste“ genannt.
All das liest sich wie ein nachdenklicher, von unzähligen feinsten Beobachtungen aus prall gefüllten Notizbüchern genährter Essay, als sei der Walter Benjamin des „Passagen“-Werks sanftmütig wiedergeboren worden. Gekontert wird der Feinsinn durch liebevolle Parodien einer durchgeknallten Werbesprache, die in den monatlichen Rundbriefen von Xerxes am Ende etwas serielle Komik erzeugt: „Jetzt den Sommer sichern!“ befiehlt Xerxes im August, denn: „Die Tage werden kürzer: In die Milde eines lauen Sommerabends mischt sich schon leises Frösteln. Am Horizont unserer Tage scheint golden der Herbst auf, und jenseits der Kimmung wartet die Vorweihnachstszeit.“ „PreisClou des Monats“ (in dieser Schreibung) sind dann griechische Oliven und San-Daniele Schinken vom Bio-Eber. So erlebt man den naturhaften Jahreslauf unter Kunstlicht: „Ceterum censeo“, so schließt jeder Monatsbrief, „nie war Unterhaltungselektronik so günstig wie heute“.
Der versaute Doppelgänger
Damit ein wenig Mulm, fast Spannung, in die eigentlich lyrische Angelegenheit kommt, erhält August Kreutzer einen gleichnamigen, nur kleingeschriebenen Doppelgänger im Internet, der sich in pornographischen Chats mit versauten Beiträgen zu Wort meldet: eine Bedrohung? Das Unbewusste, Andere der Person, entstanden in der Trance der Halbwachheit? Ein Fluch aus Kreutzers Vergangenheit? Am Ende muss Internetfahndung die Causa wenigstens äußerlich klären, ohne sie aufzulösen.
„Wach“ von Albert Selge ist ein tadelloses, handwerklich perfektes Buch. Ob das Talent des Autors zu mehr reicht als zur rundum gelungenen Ausarbeitung eines schönen Einfalls, wird man abwarten müssen.
GUSTAV SEIBT
ALBRECHT SELGE: Wach. Roman. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2011. 253 Seiten, 19,95 Euro.
„Nie war Unterhaltungselektronik so günstig wie heute“ – so enden alle Monatsbriefe des Shopping Mall-Chefs in Albrecht Selges Romandebüt „Wach“. Foto:dpa
Albrecht Selge Foto:Reza Jan Mansouri
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein tagträumender Submanager im Berlin dieser Jahre: Albrecht Selges rundum gelungenes Romandebüt „Wach“
Ist, wer nie schlafen kann, immer wach? Wer „Wach“, den Debütroman des Berliner Autors Albrecht Selge, liest, wird das bezweifeln. Sein Held August Kreutzer leidet an „Insomnie und Gehzwang“, er ist chronisch schlaflos und wandert vor allem in den Abend- und Nachtstunden ziellos durch die große Stadt, die er teils überscharf, teils traumhaft verschwommen wahrnimmt. Viel mehr Handlung hat dieses schöne, stille, oft auch komische Buch nicht. Natürlich muss August einen bürgerlichen Beruf haben, und so kommt etwas zeitgenössische Wirklichkeit in die sorgsam polierte beschreibende Prosa.
Der 36 Jahre alte Kreutzer ist Betriebswirt und arbeitet als Submanager in einer der seit den neunziger Jahren in Berlin entstandenen großen Shoppingmalls, die als globalisierte Konsumtempel die Welt im Kleinen nachbilden. Sein „Lustschlösschencenter“ gehört zur Kette „Künstliche Paradiese“, die Malls um den ganzen Erdball errichtet. Im Berliner „Lustschlösschen“ heißen die Einkaufsstraßen nach den teuersten Luxus-Boulevards der Welt, also Via Condotti oder Oxford Street; trotzdem werden in den Newsletters vor allem „Preis-Clous des Monats“ empfohlen. Neben einer „Seufzer-Brücke“ wird auch ein „Trevi-Brunnen“ mit barockem, Jeff-Koons-haftem Pop-Pomp eröffnet.
Nichts ist wirklich hier, aber eigentlich alles an dieser urbanistischen Neuerfindung unserer Jahre erkennt man wieder. Augusts Chef heißt Xerxes und zitiert tatsächlich wörtlich Herodot, wenn er bei einer Eröffnungsfeier von der Höhe der Rolltreppe auf die Menge blickt: „Sehen Sie, Herr Kreutzer, da unten stehen Männer ohne Zahl, muskulöse Männer, ihre Arme sind die stärksten, ihre Nacken die dicksten, ihre Fitness die höchste, was sage ich: die allerhöchste . . . und von all diesen Menschen wird in hundert Jahren keiner mehr leben.“
So spukt ohne Unterlass die europäische Kultur unter dieser nicht sozialkritisch, sondern zart romantisiert gezeichneten Oberfläche heutiger Konsumwelt. Dass eine Figur namens Kreutzer ein exzellenter Kenner klassischer Musik ist, versteht sich fast von selbst. Die russische Crêpe-Bäckerin, in die August sich fast verliebt, muss sich „Manon Lescaut“ nennen, um französisches Flair zu erzeugen.
Da „Wach“ aber eben doch in der Gegenwart spielt, wird es einmal auch als Erinnerungsspeicher an das Berlin unserer Jahre dienen können: Die jedem Berliner bekannte Chinesin, die stets vor der Tür nur der besten Konzerte mit dem Schild „Suche Freikarte“ steht und es zuverlässig hineinschafft, wird ebenso liebevoll geschildert wie der außerhalb der künstlichen Shoppingparadiese abrutschende Stadtraum: „Früher war Raum zwischen den Gebäuden, heute ist nur noch Abstand.“ Und so hat es seine Logik, dass der neben der Mall dominierende neue Bautypus das Jobcenter, die Arbeitsagentur ist, wie der Roman klug-altklug bemerkt – hier zahlen die Kunden „mit leeren Stunden“. Die neuen Regierungsbauten, werden knapp und treffend „prachtlose Paläste“ genannt.
All das liest sich wie ein nachdenklicher, von unzähligen feinsten Beobachtungen aus prall gefüllten Notizbüchern genährter Essay, als sei der Walter Benjamin des „Passagen“-Werks sanftmütig wiedergeboren worden. Gekontert wird der Feinsinn durch liebevolle Parodien einer durchgeknallten Werbesprache, die in den monatlichen Rundbriefen von Xerxes am Ende etwas serielle Komik erzeugt: „Jetzt den Sommer sichern!“ befiehlt Xerxes im August, denn: „Die Tage werden kürzer: In die Milde eines lauen Sommerabends mischt sich schon leises Frösteln. Am Horizont unserer Tage scheint golden der Herbst auf, und jenseits der Kimmung wartet die Vorweihnachstszeit.“ „PreisClou des Monats“ (in dieser Schreibung) sind dann griechische Oliven und San-Daniele Schinken vom Bio-Eber. So erlebt man den naturhaften Jahreslauf unter Kunstlicht: „Ceterum censeo“, so schließt jeder Monatsbrief, „nie war Unterhaltungselektronik so günstig wie heute“.
Der versaute Doppelgänger
Damit ein wenig Mulm, fast Spannung, in die eigentlich lyrische Angelegenheit kommt, erhält August Kreutzer einen gleichnamigen, nur kleingeschriebenen Doppelgänger im Internet, der sich in pornographischen Chats mit versauten Beiträgen zu Wort meldet: eine Bedrohung? Das Unbewusste, Andere der Person, entstanden in der Trance der Halbwachheit? Ein Fluch aus Kreutzers Vergangenheit? Am Ende muss Internetfahndung die Causa wenigstens äußerlich klären, ohne sie aufzulösen.
„Wach“ von Albert Selge ist ein tadelloses, handwerklich perfektes Buch. Ob das Talent des Autors zu mehr reicht als zur rundum gelungenen Ausarbeitung eines schönen Einfalls, wird man abwarten müssen.
GUSTAV SEIBT
ALBRECHT SELGE: Wach. Roman. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2011. 253 Seiten, 19,95 Euro.
„Nie war Unterhaltungselektronik so günstig wie heute“ – so enden alle Monatsbriefe des Shopping Mall-Chefs in Albrecht Selges Romandebüt „Wach“. Foto:dpa
Albrecht Selge Foto:Reza Jan Mansouri
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Einem durch die nächtliche Großstadt flanierenden Helden mit zunehmend gestörtem Realitätsbewusstsein widmet sich dieses Romandebüt Albrecht Selges, wie Rezensent Rainer Moritz berichtet. Für besonders originell hält der von Benjamin und Döblin verwöhnte Kritiker die Idee nicht, aber für überraschend gut umgesetzt. "Stilsicher" und mit "fein dosierter Komik" schildere Selge die Eindrücke und Widerfahrnisse seines Protagonisten, so dass Moritz meint, die besten Passagen könnten ohne weiteres neben Wilhelm Genazinos Großstadtgeschichten bestehen. Allerdings weist der Rezensent auch auf gewisse Längen hin, die letztlich der Handlungsarmut des Romans geschuldet seien. Das "turbulente Finale" empfindet Moritz wiederum als verspätete Bemühung des Autors, hier einen Ausgleich zu schaffen. Es wirke jedoch unausgegoren und lasse den "eleganten, gut formulierten Duktus" des Hauptteils missen, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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