Rudolf Herrnstadt (1903-1966) war der sprachgewaltige und bekannteste Pressemann der Ostzone und der frühen DDR, bevor er aus der SED ausgestoßen und in die Provinz verbannt wurde. Aus einer bürgerlichen jüdischen Familie im oberschlesischen Industrierevier stammend, hatte er den aufziehenden Faschismus früh erkannt und beschlossen, nicht zu fliehen, sondern gegen ihn zu kämpfen. Er wurde Kommunist, verzichtete auf eine persönliche Karriere und ließ sich stattdessen von seiner Partei dort einsetzen, wo er gebraucht wurde. Der Bogen seines Lebens wie auch seiner Schriften führt von Berlin über Prag und Warschau nach Moskau und wieder zurück nach Berlin, wo er im Mai 1945 mit der Roten Armee eintrifft und die ersten Zeitungen Berlins mit aufbaut, dann die Presse der Ostzone. In der frühen DDR wird er die Parteizeitung leiten, ihre Propaganda offensiv vertreten, aber seine Position auch immer nutzen, um Neues in Gang zu bringen. Er wird der Erste sein, der öffentlich nach mehr Demokratie ruft und einen achtungsvollen Umgang mit den Menschen fordert. 1953 wird er als"Feind der Partei"aus der SED ausgeschlossen und seitdem totgeschwiegen. Das Buch belegt die Spannweite dieses Lebens - vom Warschau der Vorkriegszeit bis zum Trümmerbild von Berlin, von Moskau im Krieg bis zum Aufbau der Stalinallee. Irina Liebmann entdeckt ihren Vater als Akteur der Zeitgeschichte, geprägt von Faschismus und Krieg und der Hingabe für die Sache des Kommunismus, die tragisch endete.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2008Herrnstadt war anders
Die Innenansicht der Macht: Irina Liebmann hat ein großartiges Buch über ihren Vater Rudolf Herrnstadt geschrieben. Sie erzählt die Jahrhundertgeschichte eines leidenschaftlichen Kommunisten, der an dem System, das er mit geschaffen hatte, zugrunde ging.
Von Regina Mönch
Erst in den späten siebziger Jahren, da war der Vater schon lange tot und Irina Liebmann selbst Journalistin und Schriftstellerin, suchte sie in der Berliner Stadtbibliothek in den Zeitungsbänden des "Berliner Tageblatts" nach Artikeln ihres Vaters. Sie war überrascht, wie schnell sie auf seinen Namen stieß und dass es ein Leitartikel war, zudem in einer klaren Sprache, analytisch, brillant geschrieben und gedacht, einer von vielen. Das hatte sie nicht erwartet, auch Rudolf Herrnstadts Zeit bei dieser berühmten Zeitung gehörte zu den vielen Leerstellen im Leben ihres Vaters, der ihr viel erzählt hatte, doch eigentlich nichts. So zu schreiben, glaubte sie damals, würde ihr nie gelingen: "Wo denn auch? In den Zeitungen der DDR?! Aber er hatte sie gegründet! Er war es doch gewesen! Wie passte das zusammen?"
Sie fügt es zusammen in dieser Biographie, die unlängst den Preis auf der Leipziger Buchmesse bekam: "Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt". Sie folgt keiner konventionellen Vorgabe, nur ihren Fragen und der unerbittlichen Zeitgeschichte, die zuweilen zur nüchternen Chronik wird, was sein muss, weil sonst nichts zu verstehen wäre über diese Jahrzehnte der überschießenden Hoffnungen auf eine bessere Welt, die aber den Terror hervorbrachte, der Millionen Menschen das Leben kostete, und die sich eines Krieges erwehren musste, dessen ungeheure Lasten und Opfer vor allem die kommunistische Sowjetunion ertrug.
Irina Liebmann, in Moskau geboren, verlebte ihre Kindheit in Ost-Berlin, bis zum Sturz des Vaters, des Zeitungsgründers Rudolf Herrnstadt, der ins Politbüro der SED aufstieg und nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 als Verräter, als Putschist nach Merseburg, in die Chemiehölle, verbannt wird. Herrnstadt, einer der ungewöhnlichsten Köpfe der Funktionärselite der frühen DDR, stirbt 1966 mit dreiundsechzig Jahren an Krebs, verraten und verachtet von seinen Genossen bis zum Schluss. Nicht einmal enge Jugendfreunde, mit seiner Hilfe aufgestiegen, wagen es, zu seinem Grab zu kommen. Sie hatten ihm die Rehabilitierung verweigert, die unauffällige Wiederaufnahme in die SED lehnte er später ab. Er wird getilgt aus der Parteigeschichte, ja, überhaupt aus der Erinnerung, als hätte es ihn nie gegeben. Nun ist er wieder da, und wie! Und mit ihm die andere Seite der deutschen Geschichte nach dem Krieg, so, wie sie bisher nur selten erzählt worden ist. Irina Liebmann beschönigt nichts, sie weiß alles über die Selbstverleugnung der Kommunisten, über deren Unfähigkeit, das wirkliche Leben zu erkennen, geschweige denn so zu gestalten, dass es für die Mehrheit zu ertragen gewesen wäre; sie weiß alles über die verweigerte Solidarität führender Kommunisten füreinander, wenn wieder einmal einer der Ihren in Ungnade fiel. Und sie erzählt es uns nicht als Geschichte von Schuld und Vergebung - das ist kein Familienroman, in dem die Liebe über alle Widrigkeiten siegt. Und doch ist dieses Buch über einen leidenschaftlichen, kühnen und sehr widersprüchlichen Mann von der ersten bis zur letzten Seite eine Liebeserklärung an den Vater, den sie gut kannte und über den sie doch eigentlich wenig wusste, bis sie sich auf diese Spurensuche begab.
Wir lernen die kommunistische Macht von innen kennen, das blindwütige Morden, das jeden treffen konnte, der gerade zum Feind erklärt worden war, und die deutschen Parteiführer um Ulbricht und Pieck im sowjetischen Exil, wo sie ausschließlich mit den eigenen Ränken und Intrigen befasst waren; zu borniert, um Russisch zu lernen, während draußen, vor den Toren der Stadt, auch die deutsche Arbeiterklasse in Wehrmachtsuniform stand.
Herrnstadt, so nennt sie den fremden Vater im Buch, war anders und doch genau so, wie es die Archive bewahren. Er bleibt verschont von den stalinistischen Repressalien, denen aber fast alle seine Mitstreiter, die Leute, für die er als Geheimagent der Armee gearbeitet hat, zum Opfer fallen. Und doch geht er später, in der DDR, schließlich zugrunde in dem geschlossenen System, das er selbst mit geschaffen hat und das nichts weniger vertrug als die Demokratie, von der Herrnstadt aber träumte. Einer nach ihm hat es versucht, Michail Gorbatschow. Doch als er die Perestrojka verordnete, Transparenz, demokratische Mitsprache zuließ, beschleunigte er nur den Untergang des kommunistischen Imperiums.
Rudolf Herrnstadt stammt aus einer bürgerlichen jüdischen Familie in Oberschlesien. Er verweigert dem Vater den Gehorsam, seine Nachfolge als Jurist anzutreten, wird in die Fabrik geschickt, sein wichtigstes Erlebnis: Krappitz und die geschundene Arbeiterklasse Oberschlesiens. So nahe soll er ihr nie wieder kommen. Irina Liebmann erzählt das alles so, dass nachvollziehbar ist, warum es einmal Gründe gab, Kommunist zu werden. Hinzu kommen Herrnstadts Temperament und enthusiastische Weltsicht; er habe, schreibt die Tochter, die Welt dramatisch gesehen, träumte vom Drama der Kollektive. Wie sie wirklich aussah, diese kollektivierte Welt, in endloser Nachkriegsnot, durch Unterschleif und eine unfähige Funktionärsbürokratie noch einmal ruiniert, das erlebt er erst in der Verbannung, in Merseburg. Als er in den zwanziger Jahren beim "Tageblatt" arbeitet, will er in die Partei eintreten, die Genossen aber überreden ihn dazu, für den Auslandsnachrichtendienst der Roten Armee zu arbeiten, als "bürgerlicher Journalist". Der bleibt er sogar noch als Korrespondent in Warschau, als in Deutschland schon die Rassengesetze zuschlagen. Er schreibt also eine Weile für ein gleichgeschaltetes, nationalsozialistisch eingefärbtes Blatt, baut von Warschau aus sein Agentennetz auf, vergleichbar mit Richard Sorge in Japan und Leopold Trepper in Brüssel. Erst im August 1939 flieht er in die Sowjetunion, wird verhaftet, weil seine Kontaktleute vom Geheimdienst und vom Generalstab der Armee kurz vor Kriegsausbruch - die deutlichen Warnungen davor hat Stalin bekanntlich ignoriert - alle dem roten Terror zum Opfer gefallen sind. Erst sehr viel später wird man sie Ermordete nennen, und erst sehr spät beginnt Herrnstadt, sich damit auseinanderzusetzen. Wie tief diese Selbsterforschung geht, weiß niemand, auch nicht seine Tochter Irina. Sie kommentiert das nicht, stellt es dem Leser anheim, darüber zu urteilen, warum Kommunisten ihren Glauben selbst nach Demütigungen, Verrat und der unübersehbaren Zahl ihrer Opfer nicht aufgeben wollen.
1945 kommt Herrnstadt nach Deutschland zurück, stößt zur Gruppe Ulbricht, für die sowjetische Besatzungsmacht arbeitet er bei der "Täglichen Rundschau". Und dann die ganz große Aufgabe: Er baut das zivile Zeitungswesen der Sowjetzone auf. Für die "Berliner Zeitung" holt er sich jeden, den er für talentiert hält. Der spätere Verleger Helmut Kindler ist darunter und Egon Bahr. Kindler geht schon bald, Bahr hält es auch nicht lange aus. Irina Liebmann erzählt diese Episode, die ein Schlaglicht wirft auf ihren großartigen, von allen damals bewunderten Vater, der langsam die Bodenhaftung verliert. Herrnstadt gibt Bahr den Auftrag, eine "Aufbau-Reportage" zu schreiben. Bahr zieht los, ärgert sich, trägt dick auf und erntet begeistertes Lob. "Ja", ruft Herrnstadt, "so ist das Leben!" Der dreiundzwanzigjährige Egon Bahr aber, der später, schreibt die Tochter, mit den Russen so Politik machen wird wie kein zweiter deutscher Politiker, der weiß es nun besser und geht.
Als Herrnstadt die Chefredaktion des "Neuen Deutschland" übertragen wird, ändert sich viel, vielleicht endgültig alles. Er versucht noch, gegen die tumbe Ulbricht-Linie vorzugehen, wird aber ins Politbüro der SED geholt, den inneren Zirkel der Macht. Auch hier ist er anders als die übrigen Genossen; er wird beargwöhnt wegen seines scharfen Verstandes, seiner überraschenden Ideen, und er heißt doch so ziemlich alles gut, von dem er weiß, es wird nicht gutgehen. Irina Liebmann versucht es mit seiner Liebe, ja, mit seiner Liebe zur Sowjetunion, zu erklären. Schwer zu verstehen, nur mit Mühe in der Zeit und vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte. Aber eben doch nicht ganz, weil es zumindest tragisch ist, wenn einer beginnt, seinen Verstand nicht mehr zu gebrauchen, wenn das Dienenwollen blind macht. Aber so war es wohl.
Irgendwann wird diese unverbrüchliche Liebe gerade von der Sowjetunion nicht mehr erwidert. Irgendwann wird ihn der listige Ulbricht endgültig ausschalten, auch, weil es im inneren Zirkel der SED-Macht keine Freundschaft, kein Vertrauen, keine Solidarität gibt. Der Sturz in den Abgrund, in den Herrnstadt selbst nie schauen wollte, kommt abrupt. Das Leben auf der anderen Seite der neuen Welt, im chemieverschmutzten Merseburg, ist sein Fegefeuer.
Er muss nun sehen, wird überwacht, bedroht, schreibt ein Buch über den Kölner Kommunistenprozess 1850: über Meineide, Spitzel, erzwungene Aussagen. Er schreibt es wieder mit der Begeisterung, die ihn durchs Leben getragen hat, immer. "Aber wir lebten in Merseburg", sagt die Tochter. Beschreibt mitreißend, wie das war, im Haus an der Straße, durch die jeden Tag zweimal die schlechtgenährten Volksmassen zur Schicht radelten, wo man stundenlang anstehen musste für das Nötigste, wo die Leute, "zum Antifaschismus gezwungen", brav am 1. Mai die rote Fahne aus dem Fenster hängten. In der Mitte ein dunkler Fleck, "wo das Hakenkreuz abgetrennt war". Sie lief neben dem Vater her und dachte: "Er weiß nicht." Glaubt, dass er dasselbe von ihr dachte, es aber auch nicht sagte. Sondern zu ihr sagt: "Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten."
- Irina Liebmann: "Wäre es schön? Es wäre schön!" Mein Vater Rudolf Herrnstadt. Berlin Verlag, Berlin 2008. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Innenansicht der Macht: Irina Liebmann hat ein großartiges Buch über ihren Vater Rudolf Herrnstadt geschrieben. Sie erzählt die Jahrhundertgeschichte eines leidenschaftlichen Kommunisten, der an dem System, das er mit geschaffen hatte, zugrunde ging.
Von Regina Mönch
Erst in den späten siebziger Jahren, da war der Vater schon lange tot und Irina Liebmann selbst Journalistin und Schriftstellerin, suchte sie in der Berliner Stadtbibliothek in den Zeitungsbänden des "Berliner Tageblatts" nach Artikeln ihres Vaters. Sie war überrascht, wie schnell sie auf seinen Namen stieß und dass es ein Leitartikel war, zudem in einer klaren Sprache, analytisch, brillant geschrieben und gedacht, einer von vielen. Das hatte sie nicht erwartet, auch Rudolf Herrnstadts Zeit bei dieser berühmten Zeitung gehörte zu den vielen Leerstellen im Leben ihres Vaters, der ihr viel erzählt hatte, doch eigentlich nichts. So zu schreiben, glaubte sie damals, würde ihr nie gelingen: "Wo denn auch? In den Zeitungen der DDR?! Aber er hatte sie gegründet! Er war es doch gewesen! Wie passte das zusammen?"
Sie fügt es zusammen in dieser Biographie, die unlängst den Preis auf der Leipziger Buchmesse bekam: "Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt". Sie folgt keiner konventionellen Vorgabe, nur ihren Fragen und der unerbittlichen Zeitgeschichte, die zuweilen zur nüchternen Chronik wird, was sein muss, weil sonst nichts zu verstehen wäre über diese Jahrzehnte der überschießenden Hoffnungen auf eine bessere Welt, die aber den Terror hervorbrachte, der Millionen Menschen das Leben kostete, und die sich eines Krieges erwehren musste, dessen ungeheure Lasten und Opfer vor allem die kommunistische Sowjetunion ertrug.
Irina Liebmann, in Moskau geboren, verlebte ihre Kindheit in Ost-Berlin, bis zum Sturz des Vaters, des Zeitungsgründers Rudolf Herrnstadt, der ins Politbüro der SED aufstieg und nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 als Verräter, als Putschist nach Merseburg, in die Chemiehölle, verbannt wird. Herrnstadt, einer der ungewöhnlichsten Köpfe der Funktionärselite der frühen DDR, stirbt 1966 mit dreiundsechzig Jahren an Krebs, verraten und verachtet von seinen Genossen bis zum Schluss. Nicht einmal enge Jugendfreunde, mit seiner Hilfe aufgestiegen, wagen es, zu seinem Grab zu kommen. Sie hatten ihm die Rehabilitierung verweigert, die unauffällige Wiederaufnahme in die SED lehnte er später ab. Er wird getilgt aus der Parteigeschichte, ja, überhaupt aus der Erinnerung, als hätte es ihn nie gegeben. Nun ist er wieder da, und wie! Und mit ihm die andere Seite der deutschen Geschichte nach dem Krieg, so, wie sie bisher nur selten erzählt worden ist. Irina Liebmann beschönigt nichts, sie weiß alles über die Selbstverleugnung der Kommunisten, über deren Unfähigkeit, das wirkliche Leben zu erkennen, geschweige denn so zu gestalten, dass es für die Mehrheit zu ertragen gewesen wäre; sie weiß alles über die verweigerte Solidarität führender Kommunisten füreinander, wenn wieder einmal einer der Ihren in Ungnade fiel. Und sie erzählt es uns nicht als Geschichte von Schuld und Vergebung - das ist kein Familienroman, in dem die Liebe über alle Widrigkeiten siegt. Und doch ist dieses Buch über einen leidenschaftlichen, kühnen und sehr widersprüchlichen Mann von der ersten bis zur letzten Seite eine Liebeserklärung an den Vater, den sie gut kannte und über den sie doch eigentlich wenig wusste, bis sie sich auf diese Spurensuche begab.
Wir lernen die kommunistische Macht von innen kennen, das blindwütige Morden, das jeden treffen konnte, der gerade zum Feind erklärt worden war, und die deutschen Parteiführer um Ulbricht und Pieck im sowjetischen Exil, wo sie ausschließlich mit den eigenen Ränken und Intrigen befasst waren; zu borniert, um Russisch zu lernen, während draußen, vor den Toren der Stadt, auch die deutsche Arbeiterklasse in Wehrmachtsuniform stand.
Herrnstadt, so nennt sie den fremden Vater im Buch, war anders und doch genau so, wie es die Archive bewahren. Er bleibt verschont von den stalinistischen Repressalien, denen aber fast alle seine Mitstreiter, die Leute, für die er als Geheimagent der Armee gearbeitet hat, zum Opfer fallen. Und doch geht er später, in der DDR, schließlich zugrunde in dem geschlossenen System, das er selbst mit geschaffen hat und das nichts weniger vertrug als die Demokratie, von der Herrnstadt aber träumte. Einer nach ihm hat es versucht, Michail Gorbatschow. Doch als er die Perestrojka verordnete, Transparenz, demokratische Mitsprache zuließ, beschleunigte er nur den Untergang des kommunistischen Imperiums.
Rudolf Herrnstadt stammt aus einer bürgerlichen jüdischen Familie in Oberschlesien. Er verweigert dem Vater den Gehorsam, seine Nachfolge als Jurist anzutreten, wird in die Fabrik geschickt, sein wichtigstes Erlebnis: Krappitz und die geschundene Arbeiterklasse Oberschlesiens. So nahe soll er ihr nie wieder kommen. Irina Liebmann erzählt das alles so, dass nachvollziehbar ist, warum es einmal Gründe gab, Kommunist zu werden. Hinzu kommen Herrnstadts Temperament und enthusiastische Weltsicht; er habe, schreibt die Tochter, die Welt dramatisch gesehen, träumte vom Drama der Kollektive. Wie sie wirklich aussah, diese kollektivierte Welt, in endloser Nachkriegsnot, durch Unterschleif und eine unfähige Funktionärsbürokratie noch einmal ruiniert, das erlebt er erst in der Verbannung, in Merseburg. Als er in den zwanziger Jahren beim "Tageblatt" arbeitet, will er in die Partei eintreten, die Genossen aber überreden ihn dazu, für den Auslandsnachrichtendienst der Roten Armee zu arbeiten, als "bürgerlicher Journalist". Der bleibt er sogar noch als Korrespondent in Warschau, als in Deutschland schon die Rassengesetze zuschlagen. Er schreibt also eine Weile für ein gleichgeschaltetes, nationalsozialistisch eingefärbtes Blatt, baut von Warschau aus sein Agentennetz auf, vergleichbar mit Richard Sorge in Japan und Leopold Trepper in Brüssel. Erst im August 1939 flieht er in die Sowjetunion, wird verhaftet, weil seine Kontaktleute vom Geheimdienst und vom Generalstab der Armee kurz vor Kriegsausbruch - die deutlichen Warnungen davor hat Stalin bekanntlich ignoriert - alle dem roten Terror zum Opfer gefallen sind. Erst sehr viel später wird man sie Ermordete nennen, und erst sehr spät beginnt Herrnstadt, sich damit auseinanderzusetzen. Wie tief diese Selbsterforschung geht, weiß niemand, auch nicht seine Tochter Irina. Sie kommentiert das nicht, stellt es dem Leser anheim, darüber zu urteilen, warum Kommunisten ihren Glauben selbst nach Demütigungen, Verrat und der unübersehbaren Zahl ihrer Opfer nicht aufgeben wollen.
1945 kommt Herrnstadt nach Deutschland zurück, stößt zur Gruppe Ulbricht, für die sowjetische Besatzungsmacht arbeitet er bei der "Täglichen Rundschau". Und dann die ganz große Aufgabe: Er baut das zivile Zeitungswesen der Sowjetzone auf. Für die "Berliner Zeitung" holt er sich jeden, den er für talentiert hält. Der spätere Verleger Helmut Kindler ist darunter und Egon Bahr. Kindler geht schon bald, Bahr hält es auch nicht lange aus. Irina Liebmann erzählt diese Episode, die ein Schlaglicht wirft auf ihren großartigen, von allen damals bewunderten Vater, der langsam die Bodenhaftung verliert. Herrnstadt gibt Bahr den Auftrag, eine "Aufbau-Reportage" zu schreiben. Bahr zieht los, ärgert sich, trägt dick auf und erntet begeistertes Lob. "Ja", ruft Herrnstadt, "so ist das Leben!" Der dreiundzwanzigjährige Egon Bahr aber, der später, schreibt die Tochter, mit den Russen so Politik machen wird wie kein zweiter deutscher Politiker, der weiß es nun besser und geht.
Als Herrnstadt die Chefredaktion des "Neuen Deutschland" übertragen wird, ändert sich viel, vielleicht endgültig alles. Er versucht noch, gegen die tumbe Ulbricht-Linie vorzugehen, wird aber ins Politbüro der SED geholt, den inneren Zirkel der Macht. Auch hier ist er anders als die übrigen Genossen; er wird beargwöhnt wegen seines scharfen Verstandes, seiner überraschenden Ideen, und er heißt doch so ziemlich alles gut, von dem er weiß, es wird nicht gutgehen. Irina Liebmann versucht es mit seiner Liebe, ja, mit seiner Liebe zur Sowjetunion, zu erklären. Schwer zu verstehen, nur mit Mühe in der Zeit und vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte. Aber eben doch nicht ganz, weil es zumindest tragisch ist, wenn einer beginnt, seinen Verstand nicht mehr zu gebrauchen, wenn das Dienenwollen blind macht. Aber so war es wohl.
Irgendwann wird diese unverbrüchliche Liebe gerade von der Sowjetunion nicht mehr erwidert. Irgendwann wird ihn der listige Ulbricht endgültig ausschalten, auch, weil es im inneren Zirkel der SED-Macht keine Freundschaft, kein Vertrauen, keine Solidarität gibt. Der Sturz in den Abgrund, in den Herrnstadt selbst nie schauen wollte, kommt abrupt. Das Leben auf der anderen Seite der neuen Welt, im chemieverschmutzten Merseburg, ist sein Fegefeuer.
Er muss nun sehen, wird überwacht, bedroht, schreibt ein Buch über den Kölner Kommunistenprozess 1850: über Meineide, Spitzel, erzwungene Aussagen. Er schreibt es wieder mit der Begeisterung, die ihn durchs Leben getragen hat, immer. "Aber wir lebten in Merseburg", sagt die Tochter. Beschreibt mitreißend, wie das war, im Haus an der Straße, durch die jeden Tag zweimal die schlechtgenährten Volksmassen zur Schicht radelten, wo man stundenlang anstehen musste für das Nötigste, wo die Leute, "zum Antifaschismus gezwungen", brav am 1. Mai die rote Fahne aus dem Fenster hängten. In der Mitte ein dunkler Fleck, "wo das Hakenkreuz abgetrennt war". Sie lief neben dem Vater her und dachte: "Er weiß nicht." Glaubt, dass er dasselbe von ihr dachte, es aber auch nicht sagte. Sondern zu ihr sagt: "Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten."
- Irina Liebmann: "Wäre es schön? Es wäre schön!" Mein Vater Rudolf Herrnstadt. Berlin Verlag, Berlin 2008. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr beeindruckt zeigt sich Regina Mönch von dieser Recherche Irina Liebmanns in eigener Familiensache. Das Buch ist eine Biografie ihres Vaters, des Kommunisten Rudolf Herrnstadt, des Gründers von "Berliner Zeitung" und "Neues Deutschland". Liebmann hat ihren Vater gut gekannt - und war doch verblüfft von vielem, das ihr bei ihren Nachforschungen begegnet. "Brillant geschriebene" Leitartikel für das "Berliner Tagblatt" etwa, Texte, die in den von ihm gegründeten Zeitungen später niemals möglich gewesen wären. Herrnstadt war überzeugter Kommunist, aber blieb doch den Führungszirkeln der frühen DDR, denen er angehörte, fremd. Vor den kommunistischen Greueln der Sowjetunion, aber auch den Lebensverhältnissen in der DDR verschloss er lange die Augen. Nach dem Aufstand am 17. Juni aber wird er als "Verräter" in die Provinz geschickt, nach Merseburg, und aus den Geschichtsbüchern des Staates gestrichen. Überaus lehrreich findet Regina Mönch dieses Schicksal, das tief in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts führt. Sehr viel Respekt hat sie auch für diese "Liebeserklärung" einer Tochter, die ihren Vater vier Jahrzehnte nach seinem Tod neu kennengelernt hat
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Irina Liebmann, in der DDR aufgewachsen und 1988 nach West-Berlin übersiedelt, erhielt 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse für das Porträt ihres Vaters.", Der Tagesspiegel, David Ensikat, 23.02.2016
»Die Schrecken und die Hoffnungen eines ganzen Zeitalters lässt Irina Liebmann mit der Lebensgeschichte ihres Vaters vor unseren Augen auferstehen.« Die Jury des Leipziger Buchpreises
»Es sind nicht die Fakten, die ihr Schreiben so besonders machen, es ist die Melodie.« Cornelia Geissler / Berliner Zeitung
»Es sind nicht die Fakten, die ihr Schreiben so besonders machen, es ist die Melodie.« Cornelia Geissler / Berliner Zeitung