Nike Wagner, Urenkelin des Komponisten Richard Wagner, hat die Geschichte ihrer Familie geschrieben, mit großer Authentizität und dem Wissen um Hintergründe und Zusammenhänge, das nur ein Familienmitglied haben kann. Aus kritischer Perspektive untersucht sie die besondere Familiendynamik sowie die politischen und kulturhistorischen Verflechtungen des Festspielortes Bayreuth und der Villa »Wahnfried«, Inbegriff des Wagnerkults. Besonderes Augenmerk gilt der dunklen Zeit mit Winfried bis 1944, der »politischen Götterdämmerung des Familiendramas«. Die Zeit nach dem Krieg wird bestimmt von den Enkeln Wieland, Nike Wagners Vater, und Wolfgang, der seit Wielands Tod 1966 alleiniger Herrscher über die Festspiele blieb und die Frage nach dem Fortgang bislang unbeantwortet läßt.»Nike Wagner demonstriert in einer Serie von Werkanalysen ihre intellektuelle Kompetenz in Sachen Wagner, aber auch emotionale Souveränität in ihrer Darstellung der Familiengeschichte.« »Reinhard Baumgart, Die Zeit«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.12.1998Hier der Ring, dort der Gral
Ziemlich verschlungene Geschichte: Nike Wagners "Wagner Theater"
Ein alter Witz, der vor allem unter Anhängern des Materialismus verbreitet gewesen sein soll, geht so: "Was ist der Unterschied zwischen Vererbung und Umwelteinfluß?" Und die Antwort lautet: "Vererbung ist, wenn das Kind aussieht wie der Vater, Umwelt, wenn es aussieht wie der Nachbar." Die Frage nach dem Ursprung des Individuellen hat die Menschheit lange beschäftigt und wird sie ganz gewiß noch lange weiter beschäftigen; wobei sich die ins Auge gefaßten Lösungen mehr dieser oder jener Seite zuneigen werden.
Es scheint indessen keine Familie zu geben, bei der genetische und soziale Komponenten so ineinander verschlungen sind wie das Haus Wagner. Seit bald anderthalb Jahrhunderten faszinieren diese Verbindungen und Verwerfungen, wirken fatal unauflöslich auf Geschichte und Gesellschaft fort. Und erst recht ist es kein Geheimnis, daß die Geschichte dieses Clans bereits in Denken und Werk des Bayreuth-Gründers angelegt ist, gleichsam als gentischer Code, der aus dem Werk seinen Weg ins Leben gefunden hat - ob in der Grals-Sage oder im inzestuösen Wirrwarr des "Ring"-Personals.
Als Patrice Chéreau seinen ersten Film vorlegte, "Das Fleisch der Orchidee", da war manchem schon klar, daß dieser Regisseur einen fulminanten "Ring" inszenieren würde. Beim Bayreuth-Zentenar-Jubiläum 1976 folgte die Bestätigung. Doch auch sein jüngster Film "Wer mich liebt, nimmt den Zug" entfaltet ein analoges Modell: Beim Begräbnis eines Patriarchen kommen all die Fixierungen, Aggressionen, Haß-Liebe-Beziehungen an die Oberfläche, die sich jahrzehntelang gebildet haben: Der (keineswegs immer ganz) diskrete Charme der Bourgeoisie als Atriden-Verstrickung. Wobei auch hier evident wird, daß sich Karl Kraus' Bonmot "Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit" eben auch auf das undurchdringlich dialektische Dickicht der Wirkungen von Anlage und Erziehung bezieht.
Wer also in die Familie Wagner hineingeboren wird, erbt in der Regel die markante Nase - übrigens die Cosimas, nicht die Richards - und wird hineingeworfen in eine Familiengeschichte, in die quasi osmotisch die allgemeine Geschichte hineinwirkt. Jedes Mitglied des Clans wird - ob es nun will oder nicht - zu einer Art Puppe in der Puppe in der Puppe. Und niemand entrinnt einer fundamentalen Ambivalenz: der keineswegs unbegründeten narzißtischen Identifikation mit der Abstammung wie der ganz genau so verständlichen Abwehr der politischen Verstrickungen, von denen es in der Familien-Saga mehr als eine gibt. Denn wer schließlich kann von sich sagen, so erlauchte Vorfahren zu haben: Franz Liszt und Richard Wagner.
Man stelle sie sich vor: Nachfahren gleichermaßen Schillers wie Goethes. Wieland Wagners Tochter Nike und Wolfgangs Sohn Gottfried tragen schwer an dieser doppelten Last: am Charisma, Ur-Urenkelin und Ur-Urenkel Liszts und Urenkelin und Urenkel Wagners zu sein - und zugleich an der Bayreuther Sozialisation, die von der ganzen Malaise deutscher Geschichte durchdrungen ist.
Gottfried Wagner hat in wildem ödipalen Aufbegehren mit seinem Vater abzurechnen versucht ("Wer nicht mit dem Wolf tanzt"). Doch auch Nike Wagner hielt sich nicht zurück mit Attacken gegen ihren Onkel, der nach dem Tode seines Bruders Wieland die Festspiele in den Griff bekam - ähnlich wie ein König Claudius, der nach dem, wie auch immer (mit-) verschuldeten Tod von Hamlets Vater die Königin Gertrud in Besitz nahm. Und Nike konstatiert fast analog die Lähmung und Erstarrung der Festspielidee. Und sie hatte nicht unbeträchtliche Ambitionen, selbst in die Leitung des Festivals einzutreten.
Davon scheint sie ein wenig abgerückt zu sein; wie sie denn überhaupt weit mehr als Gottfried in der Lage ist, Distanz zu gewinnen, familiäre Konflikte und Geschichtskontaminationen zu objektivieren. Ebendies macht eine alles andere als geringe Qualität ihres Buches "Wagner Theater" aus, dessen größtes Kapitel mit der Überschrift "WAHN / FRIED /HOF" diese Zeitung in Fortsetzungen gedruckt hat.
Doch auch Nike Wagner, genuine Essayistin und pointensichere Polemikerin, kann sich nicht ganz aus der Verstrickung lösen: So wie Wagner seine familientraumatischen Visionen im Werk "objektiviert" hat, so haben dessen Strukturen wieder die Clan-Sage konditioniert - diese gegenseitigen Abhängigkeiten zu dechriffrieren, zu analysieren und zu kommentieren, ist Nike Wagners Ziel. Für das Gelingen bedarf sie der Ferne, doch der Antrieb hierfür kommt aus der Nähe. Die Ambivalenz der Perspektiven macht Reiz und Niveau dieser Essays aus; zumal der Tonfall mancher Auseinandersetzungen sowohl mit der vertrackt-fatalen Bayreuth-Story wie mit dem ungeliebten Onkel mittlerweile weitaus ruhiger und gelassener ist als in manch früherer Attacke.
Dabei hat sie für ihre Deutung von Wagners Werk, Festspiel-Institution und Verhängnis ein plausibel polares Modell: Ring kontra Gral - signalisiert der eine als permanent zu raubender unaufhörliche Jagd-Dynamik, so der andere nicht minder perennierende Erstarrung, auch im anbetenden Verharren. Das Kriminelle und das Kultische gehören zusammen.
Solche Janusköpfigkeit all der Wagnerschen Phänomene und Phantome fördert sie mehrfach zutage. Und virtuos vermag sie die Motiv-Kreise mitunter kurzzuschließen: Als Hitler 1923 erstmals in Wahnfried auftrat, da erschien er Winifred als der kommende "Erlöser"; doch der womöglich abgerissene "Wolf", gar ein anderer "Fliegender Holländer" weckte in ihr den Senta-haften Selbstaufopferungswahn, sie habe ihn zu "erlösen" - zumindest eine Siegmund-Sieglinde-Assoziation. Also auch hier hätte die rätselhafte "Parsifal"-Schlußformel gegolten: "Erlösung dem Erlöser".
Wagners Protagonisten-Botschaften, Winifreds von diesen abgeleitete Privat-Mythologie und die politische Realität werden ineinander verschlungen. Werk-Exegesen, psychoanalytische Deutungsmuster, politisch-soziale Aufklärungsarbeit und Kommentare zur aktuellen Bayreuther Situation durchdringen sich in diesem Buch, an dessen Ende das Kapitel steht: "Winifred feiern?" Auch wenn Nike Wagners Ausführungen nicht unbedingt nur unversöhnlich klingen, so nennt sie doch die Charaktere und Ereignisse beim Namen - so etwa ihre Mutter als "eiserne Lady des Nazismus".
Wer sich für Wagner und die Folgen interessiert, für die Werke vom "Holländer" bis zum "Parsifal", die geistesgeschichtlichen Vernetzungen, die oft sinistre Rolle der Festspiele und die Verdrängungen und Verkarstungen durch die jüngsten Jahrzehnte, der wird dem Buch viele, oft sogar neue Informationen abgewinnen können. Trotzdem würde man von der fabelhaften Essayistin gerne auch einmal etwas über trans-Wagnersche Themen lesen. Zumal es immerhin denkbar ist, daß die Attraktion zumindest Bayreuths im nächsten Jahrtausend nicht mehr ganz so ungebrochen ist, wie sie derzeit noch erscheint. GERHARD R. KOCH
Nike Wagner: "Wagner Theater". Insel Verlag, Frankfurt am Main 1998. 432 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ziemlich verschlungene Geschichte: Nike Wagners "Wagner Theater"
Ein alter Witz, der vor allem unter Anhängern des Materialismus verbreitet gewesen sein soll, geht so: "Was ist der Unterschied zwischen Vererbung und Umwelteinfluß?" Und die Antwort lautet: "Vererbung ist, wenn das Kind aussieht wie der Vater, Umwelt, wenn es aussieht wie der Nachbar." Die Frage nach dem Ursprung des Individuellen hat die Menschheit lange beschäftigt und wird sie ganz gewiß noch lange weiter beschäftigen; wobei sich die ins Auge gefaßten Lösungen mehr dieser oder jener Seite zuneigen werden.
Es scheint indessen keine Familie zu geben, bei der genetische und soziale Komponenten so ineinander verschlungen sind wie das Haus Wagner. Seit bald anderthalb Jahrhunderten faszinieren diese Verbindungen und Verwerfungen, wirken fatal unauflöslich auf Geschichte und Gesellschaft fort. Und erst recht ist es kein Geheimnis, daß die Geschichte dieses Clans bereits in Denken und Werk des Bayreuth-Gründers angelegt ist, gleichsam als gentischer Code, der aus dem Werk seinen Weg ins Leben gefunden hat - ob in der Grals-Sage oder im inzestuösen Wirrwarr des "Ring"-Personals.
Als Patrice Chéreau seinen ersten Film vorlegte, "Das Fleisch der Orchidee", da war manchem schon klar, daß dieser Regisseur einen fulminanten "Ring" inszenieren würde. Beim Bayreuth-Zentenar-Jubiläum 1976 folgte die Bestätigung. Doch auch sein jüngster Film "Wer mich liebt, nimmt den Zug" entfaltet ein analoges Modell: Beim Begräbnis eines Patriarchen kommen all die Fixierungen, Aggressionen, Haß-Liebe-Beziehungen an die Oberfläche, die sich jahrzehntelang gebildet haben: Der (keineswegs immer ganz) diskrete Charme der Bourgeoisie als Atriden-Verstrickung. Wobei auch hier evident wird, daß sich Karl Kraus' Bonmot "Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit" eben auch auf das undurchdringlich dialektische Dickicht der Wirkungen von Anlage und Erziehung bezieht.
Wer also in die Familie Wagner hineingeboren wird, erbt in der Regel die markante Nase - übrigens die Cosimas, nicht die Richards - und wird hineingeworfen in eine Familiengeschichte, in die quasi osmotisch die allgemeine Geschichte hineinwirkt. Jedes Mitglied des Clans wird - ob es nun will oder nicht - zu einer Art Puppe in der Puppe in der Puppe. Und niemand entrinnt einer fundamentalen Ambivalenz: der keineswegs unbegründeten narzißtischen Identifikation mit der Abstammung wie der ganz genau so verständlichen Abwehr der politischen Verstrickungen, von denen es in der Familien-Saga mehr als eine gibt. Denn wer schließlich kann von sich sagen, so erlauchte Vorfahren zu haben: Franz Liszt und Richard Wagner.
Man stelle sie sich vor: Nachfahren gleichermaßen Schillers wie Goethes. Wieland Wagners Tochter Nike und Wolfgangs Sohn Gottfried tragen schwer an dieser doppelten Last: am Charisma, Ur-Urenkelin und Ur-Urenkel Liszts und Urenkelin und Urenkel Wagners zu sein - und zugleich an der Bayreuther Sozialisation, die von der ganzen Malaise deutscher Geschichte durchdrungen ist.
Gottfried Wagner hat in wildem ödipalen Aufbegehren mit seinem Vater abzurechnen versucht ("Wer nicht mit dem Wolf tanzt"). Doch auch Nike Wagner hielt sich nicht zurück mit Attacken gegen ihren Onkel, der nach dem Tode seines Bruders Wieland die Festspiele in den Griff bekam - ähnlich wie ein König Claudius, der nach dem, wie auch immer (mit-) verschuldeten Tod von Hamlets Vater die Königin Gertrud in Besitz nahm. Und Nike konstatiert fast analog die Lähmung und Erstarrung der Festspielidee. Und sie hatte nicht unbeträchtliche Ambitionen, selbst in die Leitung des Festivals einzutreten.
Davon scheint sie ein wenig abgerückt zu sein; wie sie denn überhaupt weit mehr als Gottfried in der Lage ist, Distanz zu gewinnen, familiäre Konflikte und Geschichtskontaminationen zu objektivieren. Ebendies macht eine alles andere als geringe Qualität ihres Buches "Wagner Theater" aus, dessen größtes Kapitel mit der Überschrift "WAHN / FRIED /HOF" diese Zeitung in Fortsetzungen gedruckt hat.
Doch auch Nike Wagner, genuine Essayistin und pointensichere Polemikerin, kann sich nicht ganz aus der Verstrickung lösen: So wie Wagner seine familientraumatischen Visionen im Werk "objektiviert" hat, so haben dessen Strukturen wieder die Clan-Sage konditioniert - diese gegenseitigen Abhängigkeiten zu dechriffrieren, zu analysieren und zu kommentieren, ist Nike Wagners Ziel. Für das Gelingen bedarf sie der Ferne, doch der Antrieb hierfür kommt aus der Nähe. Die Ambivalenz der Perspektiven macht Reiz und Niveau dieser Essays aus; zumal der Tonfall mancher Auseinandersetzungen sowohl mit der vertrackt-fatalen Bayreuth-Story wie mit dem ungeliebten Onkel mittlerweile weitaus ruhiger und gelassener ist als in manch früherer Attacke.
Dabei hat sie für ihre Deutung von Wagners Werk, Festspiel-Institution und Verhängnis ein plausibel polares Modell: Ring kontra Gral - signalisiert der eine als permanent zu raubender unaufhörliche Jagd-Dynamik, so der andere nicht minder perennierende Erstarrung, auch im anbetenden Verharren. Das Kriminelle und das Kultische gehören zusammen.
Solche Janusköpfigkeit all der Wagnerschen Phänomene und Phantome fördert sie mehrfach zutage. Und virtuos vermag sie die Motiv-Kreise mitunter kurzzuschließen: Als Hitler 1923 erstmals in Wahnfried auftrat, da erschien er Winifred als der kommende "Erlöser"; doch der womöglich abgerissene "Wolf", gar ein anderer "Fliegender Holländer" weckte in ihr den Senta-haften Selbstaufopferungswahn, sie habe ihn zu "erlösen" - zumindest eine Siegmund-Sieglinde-Assoziation. Also auch hier hätte die rätselhafte "Parsifal"-Schlußformel gegolten: "Erlösung dem Erlöser".
Wagners Protagonisten-Botschaften, Winifreds von diesen abgeleitete Privat-Mythologie und die politische Realität werden ineinander verschlungen. Werk-Exegesen, psychoanalytische Deutungsmuster, politisch-soziale Aufklärungsarbeit und Kommentare zur aktuellen Bayreuther Situation durchdringen sich in diesem Buch, an dessen Ende das Kapitel steht: "Winifred feiern?" Auch wenn Nike Wagners Ausführungen nicht unbedingt nur unversöhnlich klingen, so nennt sie doch die Charaktere und Ereignisse beim Namen - so etwa ihre Mutter als "eiserne Lady des Nazismus".
Wer sich für Wagner und die Folgen interessiert, für die Werke vom "Holländer" bis zum "Parsifal", die geistesgeschichtlichen Vernetzungen, die oft sinistre Rolle der Festspiele und die Verdrängungen und Verkarstungen durch die jüngsten Jahrzehnte, der wird dem Buch viele, oft sogar neue Informationen abgewinnen können. Trotzdem würde man von der fabelhaften Essayistin gerne auch einmal etwas über trans-Wagnersche Themen lesen. Zumal es immerhin denkbar ist, daß die Attraktion zumindest Bayreuths im nächsten Jahrtausend nicht mehr ganz so ungebrochen ist, wie sie derzeit noch erscheint. GERHARD R. KOCH
Nike Wagner: "Wagner Theater". Insel Verlag, Frankfurt am Main 1998. 432 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Einfach großartig, wie die Urenkelin des Komponisten die Sippengeschichte durchleuchtet - von den ersten Bayreuther Festspielen 1874 bis heute.«