Christian Geulen rekonstruiert die Dynamik rassentheoretisch begründeter Formen nationaler Identifikation, die in der fatalen Behauptung mündete, die Nation sei biopolitisch herstellbar.
Der Rassendiskurs beruhte nie allein auf dem schlichten Glauben an ewige Unterschiede, sondern vor allem auf einem instrumentellen Wissen vom Leben und Überleben der Körper und Bevölkerungen. Im Horizont dieses Wissens erschienen politische Gemeinschaften ebenso natürlich gegeben wie künstlich herstellbar. Aus Partikularität und Differenz wurde ein manipulierbares Objekt biopolitischer Kontrolle. Das Erbe dieser Verschränkung von Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert wirkt bis heute nach.
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Der Rassendiskurs beruhte nie allein auf dem schlichten Glauben an ewige Unterschiede, sondern vor allem auf einem instrumentellen Wissen vom Leben und Überleben der Körper und Bevölkerungen. Im Horizont dieses Wissens erschienen politische Gemeinschaften ebenso natürlich gegeben wie künstlich herstellbar. Aus Partikularität und Differenz wurde ein manipulierbares Objekt biopolitischer Kontrolle. Das Erbe dieser Verschränkung von Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert wirkt bis heute nach.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2005Neue deutsche Qualität
Die Verbindung von Nationalismus und Rassismus um 1900
Christian Geulen: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2004. 411 Seiten, 35,- [Euro].
Am Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein tiefgreifender Wandel des Nationalismus, der sich nicht nur radikalisierte, sondern mit der Umdeutung der Nation zu einem biopolitischen Programm eine vollkommen neue Form entwickelte. Ausgehend von den Klassikern der rassistischen Theorien - Joseph Arthur Gobineau und Charles Darwin -, weist Christian Geulen in den Schriften völkischer und antisemitischer Denker, der Reform- und Frauenbewegung sowie der Kolonialbewegung diese Neuformierung des Rassengedankens nach. Ein vergleichender Blick auf die Vereinigten Staaten stellt die Besonderheit der Entwicklung im Deutschen Reich heraus. Die rassentheoretische Debatte in den Vereinigten Staaten war jedoch nicht auf die Aufhebung der ethnischen und sozialen Vielfalt ausgerichtet, sondern "lediglich" auf die Verbesserung der Leistungsfähigkeit der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen. Ihr fehlte damit die neue Dimension des deutschen Diskurses.
Zweifellos hat Geulen mit seinem Befund recht, in der Zeit der Jahrhundertwende aufgrund der Verbindung von Nation und Rassismus eine neue Qualität des deutschen Nationalismus auszumachen. Die exemplarisch herangezogenen Textquellen von den mehr oder minder bekannten Rassentheoretikern Houston Steward Chamberlain, Ludwig Gumplowicz, Ludwig Woltmann oder Theodor Fritsch belegen dies deutlich. In ihrer Vorstellung war die Nation nur mehr eine biopolitische Organisation, die im alltäglichen Leben der Bevölkerung im Rassenkampf bestehen mußte. "Im privaten Ehebett ebenso . . . wie bei der Besiedelung der afrikanischen Steppe", wie Geulen süffisant formuliert.
Einer zentralen Frage weicht der Autor geschickt aus, die sich früher oder später jede ideengeschichtliche Arbeit stellen sollte: Welche Relevanz hatten diese radikalen Rassentheorien überhaupt innerhalb der öffentlichen Meinung oder auch nur innerhalb der Imperialismus- und Kolonialbewegung? Es ist immer ein leichtes Unterfangen, eine umfangreiche Theorie aufzubauen und sich dann die passenden Belege aus dem Quellenmaterial herauszusuchen. So lassen sich praktisch für jede noch so abseitige Idee die entsprechenden Nachweise finden. Natürlich kann man schwerlich erwarten, daß im Rahmen einer Studie die gesamte öffentliche Meinung empirisch untersucht wird. Einige kritische Aussagen etwa über das Verhältnis von Mehrheitsmeinung zur Minderheitsmeinung hätte man sich freilich schon gewünscht. Zugleich fragt sich der Leser immer wieder, ob sich die von Geulen herausgearbeitete Radikalisierung wohl auch in der Politik oder bei den Militärs in irgendeiner Form niedergeschlagen hat. Immerhin ist es sehr löblich, daß Geulen der Versuchung widersteht, vom Rassendiskurs im Wilhelminischen Deutschland einen direkten Weg zur "Machtergreifung" der Nationalsozialisten und weiter nach Auschwitz zu ziehen. Er setzt sich damit wohltuend von all jenen ab, die etwa von den Herero-Kriegen in Deutsch-Südwestafrika eine direkte Linie zum Krieg von Wehrmacht und der SS in der Sowjetunion und den Vernichtungslagern ziehen. Freilich ist unverkennbar, daß der biopolitische Rassismus der Kaiserzeit eine Vorform dessen war, was "1933 in Deutschland Staatsdoktrin wurde". Hierin ist Geulen voll zuzustimmen. Dies noch einmal klar herausgestellt zu haben, ist ein großes Verdienst seiner Arbeit.
Ob man dann für die Jahre 1933 bis 1945 von einer "biopolitischen Aushöhlung der Deutschen Nation" sprechen kann, erscheint indes sehr fraglich. Wenn der Verfasser eine derartige These aufstellt, hätte man sich als Grundlage zumindest einen ausführlicheren Exkurs hierzu gewünscht, der leider nicht geliefert wird. So hängt diese Aussage vollkommen frei im Raum. Es ist in diesem Zusammenhang auf die neuere Literatur etwa zum Vernichtungskrieg im Osten hinzuweisen, die verdeutlicht, daß ein biopolitischer Rassismus bei den Tätern wohl eher die Ausnahme gewesen sein dürfte.
Und weiter: Daß Geulen als Schüler Hans-Ulrich Wehlers die Sozialimperialismusthese als Kern des deutschen Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg begreift, vermag kaum zu verwundern. Ärgerlicher ist da schon die Tatsache, daß die Quellengrundlage der Arbeit insgesamt doch etwas schmal erscheint. Selbst wenn man den Anspruch verfolgt, die Forschung "gegen den Strich zu bürsten", bleibt es enttäuschend, daß praktisch keine Texte zutage gefördert wurden, die bislang noch nicht bekannt waren. Wirklich neu dürfte im Zusammenhang mit der Rassenideologie lediglich der Nachweis sein, daß diese radikale Interpretation auch in der Frauenbewegung der Kaiserzeit eine zentrale Rolle spielte.
Geulen hat mit seiner Arbeit die Verbindung von Nationalismus und Rassismus in Deutschland um 1900 noch einmal schärfer gefaßt, als dies bislang in der Forschung geschehen ist. Trotz aller Kritikpunkte hat er ein interessantes Buch zu diesem Thema vorgelegt. Die theorieverliebte Diktion des Autors - das Wort "Diskurs" scheint es ihm angetan zu haben - wird die Lektüre für Nichtfachleute allerdings zur Mühsal werden lassen. Geulens Werk ist ein Beispiel dafür, daß Historiker zuweilen daran scheitern, ihr Fachwissen nicht nur den interessierten Kollegen zu vermitteln, sondern dies auch einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen. Vielleicht wäre auch darüber einmal ein Diskurs zu führen.
SÖNKE NEITZEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Verbindung von Nationalismus und Rassismus um 1900
Christian Geulen: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2004. 411 Seiten, 35,- [Euro].
Am Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein tiefgreifender Wandel des Nationalismus, der sich nicht nur radikalisierte, sondern mit der Umdeutung der Nation zu einem biopolitischen Programm eine vollkommen neue Form entwickelte. Ausgehend von den Klassikern der rassistischen Theorien - Joseph Arthur Gobineau und Charles Darwin -, weist Christian Geulen in den Schriften völkischer und antisemitischer Denker, der Reform- und Frauenbewegung sowie der Kolonialbewegung diese Neuformierung des Rassengedankens nach. Ein vergleichender Blick auf die Vereinigten Staaten stellt die Besonderheit der Entwicklung im Deutschen Reich heraus. Die rassentheoretische Debatte in den Vereinigten Staaten war jedoch nicht auf die Aufhebung der ethnischen und sozialen Vielfalt ausgerichtet, sondern "lediglich" auf die Verbesserung der Leistungsfähigkeit der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen. Ihr fehlte damit die neue Dimension des deutschen Diskurses.
Zweifellos hat Geulen mit seinem Befund recht, in der Zeit der Jahrhundertwende aufgrund der Verbindung von Nation und Rassismus eine neue Qualität des deutschen Nationalismus auszumachen. Die exemplarisch herangezogenen Textquellen von den mehr oder minder bekannten Rassentheoretikern Houston Steward Chamberlain, Ludwig Gumplowicz, Ludwig Woltmann oder Theodor Fritsch belegen dies deutlich. In ihrer Vorstellung war die Nation nur mehr eine biopolitische Organisation, die im alltäglichen Leben der Bevölkerung im Rassenkampf bestehen mußte. "Im privaten Ehebett ebenso . . . wie bei der Besiedelung der afrikanischen Steppe", wie Geulen süffisant formuliert.
Einer zentralen Frage weicht der Autor geschickt aus, die sich früher oder später jede ideengeschichtliche Arbeit stellen sollte: Welche Relevanz hatten diese radikalen Rassentheorien überhaupt innerhalb der öffentlichen Meinung oder auch nur innerhalb der Imperialismus- und Kolonialbewegung? Es ist immer ein leichtes Unterfangen, eine umfangreiche Theorie aufzubauen und sich dann die passenden Belege aus dem Quellenmaterial herauszusuchen. So lassen sich praktisch für jede noch so abseitige Idee die entsprechenden Nachweise finden. Natürlich kann man schwerlich erwarten, daß im Rahmen einer Studie die gesamte öffentliche Meinung empirisch untersucht wird. Einige kritische Aussagen etwa über das Verhältnis von Mehrheitsmeinung zur Minderheitsmeinung hätte man sich freilich schon gewünscht. Zugleich fragt sich der Leser immer wieder, ob sich die von Geulen herausgearbeitete Radikalisierung wohl auch in der Politik oder bei den Militärs in irgendeiner Form niedergeschlagen hat. Immerhin ist es sehr löblich, daß Geulen der Versuchung widersteht, vom Rassendiskurs im Wilhelminischen Deutschland einen direkten Weg zur "Machtergreifung" der Nationalsozialisten und weiter nach Auschwitz zu ziehen. Er setzt sich damit wohltuend von all jenen ab, die etwa von den Herero-Kriegen in Deutsch-Südwestafrika eine direkte Linie zum Krieg von Wehrmacht und der SS in der Sowjetunion und den Vernichtungslagern ziehen. Freilich ist unverkennbar, daß der biopolitische Rassismus der Kaiserzeit eine Vorform dessen war, was "1933 in Deutschland Staatsdoktrin wurde". Hierin ist Geulen voll zuzustimmen. Dies noch einmal klar herausgestellt zu haben, ist ein großes Verdienst seiner Arbeit.
Ob man dann für die Jahre 1933 bis 1945 von einer "biopolitischen Aushöhlung der Deutschen Nation" sprechen kann, erscheint indes sehr fraglich. Wenn der Verfasser eine derartige These aufstellt, hätte man sich als Grundlage zumindest einen ausführlicheren Exkurs hierzu gewünscht, der leider nicht geliefert wird. So hängt diese Aussage vollkommen frei im Raum. Es ist in diesem Zusammenhang auf die neuere Literatur etwa zum Vernichtungskrieg im Osten hinzuweisen, die verdeutlicht, daß ein biopolitischer Rassismus bei den Tätern wohl eher die Ausnahme gewesen sein dürfte.
Und weiter: Daß Geulen als Schüler Hans-Ulrich Wehlers die Sozialimperialismusthese als Kern des deutschen Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg begreift, vermag kaum zu verwundern. Ärgerlicher ist da schon die Tatsache, daß die Quellengrundlage der Arbeit insgesamt doch etwas schmal erscheint. Selbst wenn man den Anspruch verfolgt, die Forschung "gegen den Strich zu bürsten", bleibt es enttäuschend, daß praktisch keine Texte zutage gefördert wurden, die bislang noch nicht bekannt waren. Wirklich neu dürfte im Zusammenhang mit der Rassenideologie lediglich der Nachweis sein, daß diese radikale Interpretation auch in der Frauenbewegung der Kaiserzeit eine zentrale Rolle spielte.
Geulen hat mit seiner Arbeit die Verbindung von Nationalismus und Rassismus in Deutschland um 1900 noch einmal schärfer gefaßt, als dies bislang in der Forschung geschehen ist. Trotz aller Kritikpunkte hat er ein interessantes Buch zu diesem Thema vorgelegt. Die theorieverliebte Diktion des Autors - das Wort "Diskurs" scheint es ihm angetan zu haben - wird die Lektüre für Nichtfachleute allerdings zur Mühsal werden lassen. Geulens Werk ist ein Beispiel dafür, daß Historiker zuweilen daran scheitern, ihr Fachwissen nicht nur den interessierten Kollegen zu vermitteln, sondern dies auch einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen. Vielleicht wäre auch darüber einmal ein Diskurs zu führen.
SÖNKE NEITZEL
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ziemlich unwirsch behandelt Franziska Augstein Christian Geulens Buch über Nationalismus und Rassismus, in dem der Historiker zu zeigen versucht, dass der Rassendiskurs im 19. Jahrhundert "keine Radikalisierung des Nationalismus im Sinne einer Intensivierung nationalen Bewusstseins" mit sich brachte, wie Augstein zitiert, sondern seine Radikalität "in der radikalen Umdeutung der Nation zu einem biopolitischen Programm" bestand. Das findet Augstein nicht ganz falsch, aber in der Sache auch nicht wirklich neu. Neu ist für sie allenfalls Geulens Ansatz, die Dinge als Diskurs zu behandeln, was ihr aber nicht reicht. Auszusetzen hat Augstein außerdem manche Ungenauigkeit, eine Reihe von "anachronistischen Fehlinterpretationen sowie fehlende "Systematik und Stringenz".
© Perlentaucher Medien GmbH
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