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Hitler, Psychiatriepatient:innen und die moderne Kunst: Ein unerzähltes Kapitel deutscher Geschichte
An einem klaren Wintertag des Jahres 1898 springt Franz Karl Bühler in einen Hamburger Kanal, um seinen inneren Dämonen zu entfliehen. Doch er wird gerettet und geht in die Geschichte ein: Als mit Schizophrenie diagnostizierter Maler der Sammlung Prinzhorn, einer Sammlung von Werken, die in Psychiatrien entstehen und eine neue Generation von Künstlern, darunter Paul Klee, Max Ernst und Salvador Dalí, zu ihren größten Werken inspirieren. Bald nach seiner Machtergreifung jedoch erklärt Hitler…mehr

Produktbeschreibung
Hitler, Psychiatriepatient:innen und die moderne Kunst: Ein unerzähltes Kapitel deutscher Geschichte

An einem klaren Wintertag des Jahres 1898 springt Franz Karl Bühler in einen Hamburger Kanal, um seinen inneren Dämonen zu entfliehen. Doch er wird gerettet und geht in die Geschichte ein: Als mit Schizophrenie diagnostizierter Maler der Sammlung Prinzhorn, einer Sammlung von Werken, die in Psychiatrien entstehen und eine neue Generation von Künstlern, darunter Paul Klee, Max Ernst und Salvador Dalí, zu ihren größten Werken inspirieren. Bald nach seiner Machtergreifung jedoch erklärt Hitler - der sich selbst für einen verkannten Künstler hält- der modernen Kunst den Krieg. Die Nazis veranstalten riesige Ausstellungen "Entarteter Kunst" und beschlagnahmen und zerstören die besten Sammlungen in Deutschland. Für Hitler zeigen sowohl psychisch Kranke wie Bühler als auch die moderne Kunst die »Entartung« der Gesellschaft - und er beginnt mit ihrer beider systematischen Vernichtung, die zu seinem ersten Massenmordprogramm führt, der Aktion T4. Charlie English erzählt an erstaunlichen Lebensgeschichten entlang packend vom Wahnsinn der Zeit, der außerhalb der Klinikmauern um einiges größer ist als innerhalb und schreibt gleichzeitig ein Kapitel Kunstgeschichte neu.

»Eine großartig erzählte Geschichte, in der Welten aufeinanderprallen ... Es gibt so viel Wunderbares an diesem Buch, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, es zu loben. Es ist abwechselnd fesselnd, tragisch, erschreckend und lustig.« The Times

»English hat ein großartiges Buch geschrieben, spannend und thematisch mitreißend ... Es ist ebenso schön wie düster.« The Guardian
Autorenporträt
Charlie English war Redakteur beim Guardian, zuletzt arbeitete er als Chefredakteur des Auslandressorts. Als Journalist und Autor bereiste er die ganze Welt und auf Deutsch erschienen bisher »Das Buch vom Schnee« (2009) und das vielgelobte »Der Bücherschmuggler von Timbuktu« (2018) mit über 10.000 verkauften Exemplaren. Er lebt mit seiner Familie in London.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.06.2023

Die Besessenen
In „Wahn und Wunder“ erzählt Charlie English von der Obsession der Nazis für die Kunst Geisteskranker
Der erfolglose Aquarellmaler Adolf Hitler war besessen von der Kunst, das ist bekannt. Und jeder weiß, wie effektiv er sie als Propagandawerkzeug der NS-Ideologie benutzte. In seinem Buch „Wahn und Wunder. Hitlers Krieg gegen die Kunst“ erzählt der britische Journalist und Autor Charlie English nun eine andere Geschichte der NS-Kunstpolitik: Wie die Kunst von Geisteskranken zur Folie wurde, vor der die Nationalsozialisten ihr antimodernes Ressentiment entwickelten. Und was das mit dem Holocaust zu tun hat.
1919 begann der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn seine Arbeit an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg. Er kümmerte sich dort um eine Sammlung von Kunstwerken der Patienten, die zu therapeutischen Zwecken angelegt worden war. Doch Prinzhorn erschienen diese Bilder so einzigartig wie Werke großer Künstler. Er bat Kollegen in anderen psychiatrischen Anstalten, ihm ähnliche Bilder zu schicken, besuchte in ganz Deutschland malende und zeichnende Kranke – und brachte 1922 das Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ heraus. Die moderne Kunst war danach nicht mehr dieselbe. Schon zuvor, vor allem seit van Gogh, war der Wahnsinn in den Augen vieler zeitgenössische Künstler zu einer Art natürlichem Begleiter von Genie geworden. Künstler wie Paul Klee und die Maler der Brücke, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Auswegen aus dem Realismus suchten, entdeckten neben der Kunst von Kindern und „Primitiven“ auch die Kunst von Geisteskranken als Vorbild für sich.
Prinzhorns Buch nahm diese Faszination auf und befeuerte sie. Vor allem die Surrealisten waren begeistert. Jean Dubuffet rief aus: „Wahnsinn ist die große Kunst.“ Er nannte die Kunst der Kranken und Sonderlinge später „Art Brut“. Heute spricht man auch von „Outsider Art“, sie ist ein etabliertes Subgenre der Kunst. Viele der kranken Künstler, die Prinzhorn in seinem Buch zeigte, so der schizophrene Kunstschmied Franz Karl Bühler oder der unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen leidende Elektriker August Natterer, sind bekannte Figuren der Kunstgeschichte geworden.
Auch Hitler war ein Außenseiter, als er aus Braunau nach Wien kam, um Künstler zu werden. Die Akademie lehnte ihn ab. Aber er war eben nicht wahnsinnig, sondern nur beschränkt, seine Aquarelle vom Stephansdom bestenfalls als Postkarten brauchbar. Einige Jahre später wurde aus Hitler dann doch noch etwas. Nicht nur der „Bildhauer Deutschlands“, sondern der „größte lebende Künstler“, so Adolf Wagner, Gauleiter von Oberbayern, zumindest nach dem Verständnis von Goebbels: „Masse ist für uns ungeformter Stoff. Erst in der Hand des Staatskünstlers wird aus der Masse Volk und aus dem Volk Nation.“
Charlie English, man ahnt es spätestens hier, verflicht disparate Stränge, spielt mit den Kategorien, wechselt von Metaphorik zu Eigentlichkeit und zurück, spekuliert und assoziiert. Heraus kommt eine spannende, originelle Geschichtserzählung, für die anderen, zumal deutschen Autoren die Unbefangenheit fehlen würde. Erst am Ende, als English versucht, Hitler als den eigentlichen Irren in seiner Geschichte darzustellen, überspannt er den Bogen.
Schade ist nur, dass der Verlag der Übersetzung nicht etwas mehr Aufmerksamkeit schenkte. Für britische Leser sind SA-Leute mit „stormtroopers“ korrekt bezeichnet. Aber warum werden sie in der deutschen Fassung „Sturmtruppler“ genannt? Seltsam auch, wenn Goebbels’ berüchtigte Sportpalastrede hier als „eine Rede“ auftaucht, statt unter ihrem gängigen Namen. Dasselbe gilt für den Hitlerputsch, der hier immer als „Brauhausputsch“ erscheint, weil er auf Englisch „Beer Hall Putsch“ heißt.
Die Nazis eröffneten nun, inspiriert von Rassentheorie und sozialdarwinistischen Lehren, die Hitler sich in den Zehnerjahren angelesen hatte, einen doppelten Kampf: Zum einen galt es, die unheilbar Kranken, die Schwachsinnigen und Verrückten zugunsten der „Reinheit“ aus dem Volkskörper auszuscheiden. Zum anderen bekämpften sie die moderne Kunst, dieses schädliche Zeugnis von Degeneration. Sie drehten dazu die Begeisterung der Modernen für die Prinzhorn-Künstler in diffamierender Absicht um: Die Bewunderung der Künstler für die malenden und zeichnenden „Irren“ und Kranken münzten die Nazis zum Beleg dafür um, dass die von diesen inspirierten Künstler ebenfalls verrückt seien. Die Behinderten und die Avantgarde: gleichermaßen „entartet“. Während in Deutschlands psychiatrischen Anstalten Tausende zwangssterilisiert wurden, ließ Hitler in den Museen Bilder von Beckmann oder Kokoschka beschlagnahmen und verbot es deutschen Künstlern, andere Farben als die „natürlichen“ zu verwenden, also blaue Pferde zu malen.
Ein Teil der 16 500 Werke aus 101 Museen wurde für Devisen im Ausland verscherbelt, ein anderer, 5000 Werke, die heute Milliarden wert wären, wurden 1939 verbrannt. Doch einige der prominentesten Bilder und Skulpturen wurden für die Feme-Ausstellung „Entartete Kunst“ nach München gebracht. Die Schau war bekanntlich Teil einer groß angelegten didaktischen Veranstaltung: Auf der einen Seite der Münchner Prinzregentenstraße wurde das gerade fertiggestellte Haus der Deutschen Kunst mit der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ und aufwendigen Feierlichkeiten in der ganzen Stadt eröffnet, es war eine Parade von Bildnissen blonder Maiden, sonnengebräunter Bauern bei der Heuernte und Soldaten mit steinernen Kiefern. Schräg gegenüber, am Hofgarten, fand die Gegenschau statt, „Entartete Kunst“, lieblos gehängt und mit hämischen Parolen versehen.
Dass die Schandausstellung viel populärer war als die Musterschau arischer Idealkörper, schien die NS-Propagandisten nicht zu stören. Sie ließen sie in den folgenden Jahren durch zwölf Städte touren. Und weil sie fanden, die Ausstellung brauche mehr Schockanteile, ergänzten sie sie um einige der von Prinzhorn gesammelten Werke der Psychiatriepatienten. Noch der Letzte sollte sehen, dass die Werke der Avantgardisten noch irrer waren als die der Verrückten. Am Ende hatten drei Millionen Menschen die Feme-Ausstellung gesehen. Keine Kunstausstellung, so English, hatte je so viele Besucher.
Die Zwangssterilisierung der Psychiatriepatienten und die Schmähung ihrer Kunst war der Vorlauf zu einem ungeheuerlichen sozialdarwinistischen Euthanasieprojekt. Ab 1939 begann das Regime, behinderte oder schwer kranke Säuglinge zu töten. 1940 wurden im Rahmen der „Aktion T4“ dann auch Erwachsene – Schizophrene, Epileptiker, geistig Behinderte – in Bussen aus ihren Anstalten geholt, an entlegenen Orten in Gaskammern getötet und ihre Leichen anschließend verbrannt. Die Definition von „lebensunwertem Leben“ war so weit gefasst, dass in eineinhalb Jahren 70 000 Menschen ermordet wurden, darunter auch Franz Karl Bühler, den Prinzhorn entdeckt hatte, und viele andere Künstler aus seinem Buch.
Die systematischen Tötungen wurden gestoppt, als die Fragen nach den grauen Bussen und dem schwarzen Rauch zu drängend wurden. Von nun an ließen die Ärzte ihre Patienten verhungern oder vergifteten sie. Dennoch war die Aktion T4 ein Erfolg: Sie bewies, dass „einfache Männer und Frauen gewillt waren, unschuldige Menschen in großer Zahl zu töten“. Viele dieser einfachen Leute wurden dann gleich anschließend mit dem Aufbau und Betrieb der Vernichtungslager beauftragt, wo dasselbe bewährte Gift und dieselben Öfen verwendet wurden.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Der Autor überspannt
den Bogen, als er Hitler
als Irren darstellt
„Wahnsinn ist die große Kunst“: August Natterers „Vexierbild Hexenkopf/Landschaft“ (1913 - 1917).
Foto: Sammlung Prinzhorn/Universität Heidelberg
Charlie English: Wahn und Wunder. Hitlers Krieg
gegen die Kunst.
Aus dem Englischen von Helmut Ettinger.
Aufbau Verlag, Berlin 2023.
400 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Nicht überzeugt ist Rezensent Florian Keisinger von Charlie Englishs Versuch, die Agitation der Nationalsozialisten wider "entartete Kunst" und ihr Euthanasieprogramm unter einen Hut zu bringen. Der in England breit rezipierte Band setzt, zeichnet Keisinger nach, bei einer Sammlung von Bildern psychisch Erkrankter an, die Hans Prinzhorn, seines Zeichens Arzt und Kunsthistoriker, ab 1919 anzulegen begann. Prinzhorn wollte aufzeigen, so der Rezensent, dass Kunst nicht nach medizinischen Kategorien beurteilt werden kann, ein Ansinnen, das von den Nationalsozialisten in sein Gegenteil verdreht wurde. Wie English die Kulturkämpfe der 1920er und auch die bereits 1925 in Thüringen einsetzenden nationalsozialistischen "Säuberungen" darstellt, gefällt Keisinger durchaus. Die Probleme beginnen für ihn, wenn der ehemalige Guardian-Journalist die Tatsache, dass einige der von Prinzhorn gesammelten Künstler von den Nazis ermordet wurden, zu einer Parallele zwischen der Agitation gegen moderne Kunst und dem NS-Euthanasieprogramm verallgemeinert. Für Keisinger ist das eine ethisch bedenkliche Verwechslung zweier Ebenen, nämlich von Symbolpolitik und Massenmord.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Charlie English (...) verflicht disparate Stränge, spielt mit den Kategorien, wechselt von Metaphorik zu Eigentlichkeit und zurück, spekuliert und assoziiert. Heraus kommt eine spannende, originelle Geschichtserzählung, für die anderen, zumal deutschen Autoren die Unbefangenheit fehlen würde.« Süddeutsche Zeitung 20230530