Er habe beim Brand der Stadt einen alten Mann, der ihm aus den Flammen entgegenkam, in seinen Keller aufgenommen, dann aber selbst das Haus durch den Hintereingang verlassen und das Weite gesucht. So erzählt, das Gewissen belastet vom Erstickungstod jenes Alten, ein Priester eine traumatische Begebenheit seines Lebens. Arnold Esch hat aus Schreiben an den Papst ganze Lebenswelten mittelalterlicher Menschen freigelegt: ob erste Liebe oder der nicht ganz freiwillige Eintritt ins Kloster, Geldschwierigkeiten oder eine Schlägerei im Wirtshaus, das Scheitern einer Ehe oder die unerfreuliche Begegnung mit Räubern auf der Landstraße. In seinen elegant erzählten Stücken wird das Mittelalter einmal aus allernächster Nähe betrachtet und gerade dadurch ungewöhnlich anschaulich.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Ärger im Mittelalter
Arnold Esch erzählt von kleinen Leuten
„Als einst in den Königreichen Kastilien und León Krieg war zwischen dem erlauchten Fürsten und König Heinrich, der damals mit seinem Hof in der Stadt Toro bei Zamora residierte, und einigen Vasallen andererseits – da wurde mir mein Maultier gestohlen.“ Selten hat man eine so majestätische Welt und ein so klägliches Missgeschick in einem Moment gesehen. Der Vorgang ist festgehalten 1470 in den Akten der päpstlichen Pönitentiarie; dieser Notiz und tausenden ähnlicher Art verdanken wir einen Eindruck, wie einfache Leute die große Geschichte erleben. Im Zweifelsfall ist das gestohlene Maultier wichtiger als der Krieg eines erlauchten Fürsten und Königs.
Vor vier Jahren hat der Historiker Arnold Esch Begebenheiten dieser Art aus dem Archiv der Pönitentiarie herausgesucht und nacherzählt: „Wahre Geschichten aus dem Mittelalter“. Es waren Fälle aus dem Gebiet des römisch-deutschen Reiches, nun hat er einen zweiten Band folgen lassen, wieder mit Fällen aus dem 15. Jahrhundert, diesmal aber aus den anderen europäischen Ländern: „Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters“. Es sind kleine Schicksale, wie Esch schreibt, aber mehr noch sind es Schicksale kleiner Leute.
Wie kam es dazu, dass sie aufgeschrieben wurden und es bis in unsere Zeit gebracht haben? Kirchliche Archive bieten die besten Überlieferungschancen. Die katholische Kirche versteht sich historisch, sie bewahrt ihr Schriftgut mit Sorgfalt und so auch das der päpstlichen Buß- und Gnadenbehörde, der Pönitentiarie. An sie wendete sich, wer schuldig wurde oder glaubt, schuldig geworden zu sein. Schuld „ist eine große Überlieferungschance. Für viele gewöhnliche Menschen ist sie sogar die einzige. Nun erst wird nach ihnen gefragt, müssen sie reden, dürfen sie reden.“ Wer keinen Ärger hat und keinen Ärger macht, der wird es nicht in die Archive bringen.
Ganz gewöhnliche Menschen und Fälle sind es allerdings nicht immer. Denn die Fälle gehen erst nach Rom, wenn sie die Zuständigkeit des Ortsbischofs übersteigen. Und doch steckt etwas Egalitäres in der Praxis der Pönitentiarie: Diese soll sich nicht für die politische oder historische Geltung der Antragsteller interessieren. Sie hat auf deren Seelen und ihre Gefährdung zu sehen, hier achtet sie die Menschen gleich. Ein Stand allerdings meldet sich besonders oft, der geistliche. Ein häufiges Problem: Kleriker durften nichts mit der Verstümmelung und dem Tod eines Menschen zu tun haben, nicht mit Folter oder Todesurteil in einem ordentlichen Verfahren, auch nicht vor Empfang der Weihen. In der gewaltgeneigten Welt des Mittelalters ist solche Friedfertigkeit nicht leicht zu wahren.
In erstaunlicher Häufigkeit wechseln Mönche in den Kriegsdienst und wieder zurück. Regelmäßig behaupten sie in ihren Suppliken (Bittschriften), niemanden getötet oder schwer verletzt zu haben, nicht einmal bei der blutigen Eroberung Roms 1527, dem Sacco di Roma. Doch ist die Pönitentiarie nicht weltfremd, der Bearbeiter schreibt knapp „Absolution von Mord“. Die vermeintlich feste Aufteilung der mittelalterlichen Gesellschaft in Stände zeigt sich hier in neuem Licht – auch wenn man bedenken muss, dass die Mönche, die pflichtgemäß in ihrem Kloster verharren, damit auch nicht in die Archive vorrücken.
Aber natürlich gibt es auch ganz andere Situationen. Ein Kleriker spielt mit seiner kleinen Nichte und zeigt ihr eine Haselmaus. „Aber da geriet sie ganz durcheinander. Sie wollte weglaufen und stürzte in ein Gefäß mit heißem Wasser.“ In Lemberg kommen Kinder zur Karnevalszeit in den Dominikaner-Konvent. Die Mönche bauen eine Schaukel für die kleinen Gäste, und dann fällt ein Kind herunter und ist tot. Beide Male bitten die Kleriker in Rom um Absolution. Spricht aus solchen Bitten ein besonders feines moralisches Empfinden? Oder eher umgekehrt ein einfaches Erfolgsprinzip bei der Bewertung des Geschehens – ohne innere Sachverhalte wie Vorsatz oder Fahrlässigkeit zu bedenken?
Ein Priester rettet in Bologna seinen Onkel vor der Hinrichtung, zu der ihn die Inquisition verurteilt hatte. Aber einer der Fluchthelfer wird erwischt und gehängt. Letzteres ist für die Pönitentiarie das Problem. Die Fluchthilfe ist gleich beiseitegeschoben, aber der Schuldanteil am Tod des Mitverschworenen muss noch mal untersucht werden.
Alle Fälle, von denen wir wissen, sind positiv beschieden worden. Bittschriften, die abgelehnt wurden, gelangten nicht ins Repertorium. Warum, das ist unklar. Für Esch ist das auch nicht entscheidend. Ihn beschäftigen die Verwicklungen, wie die Gläubigen sie in ihren Suppliken schildern, weniger deren Auflösung nach Kirchenrecht; er will den Bittstellern in ihren Nöten nicht gleich kanonistisch ins Wort fallen. Das ist gelegentlich auch schade. Ein Priester hat einem Amtsbruder Gift in Hostie und Messwein gemischt und dazu vorgetragen, er habe aus Naivität und Rechtsunkenntnis so gehandelt. Auch er zieht wohl den Kopf aus der Schlinge – aber mit welchen Argumenten mag das die Pönitentiarie begründet haben? Historisch interessant, weil in der Zeit so beweglich, ist doch gerade das Urteil über abweichendes Verhalten.
Esch aber hat sich anders entschieden, und auf seinem Weg hat er allerdings viel zu bieten. Wir erfahren von großen Dingen wie der Piraterie und den Schwierigkeiten im Umgang mit Muslimen. Und von kleinen: Der Erzbischof von Venedig hat Vorschriften gegen den Kleiderluxus erlassen, nun bitten vornehme Venezianerinnen um eine Ausnahmegenehmigung für Schuhe mit hohen Absätzen, denn sie seien im Heiratsalter und kleinwüchsig. Immer wieder geht es um Ehegelöbnisse. Ein Mann hat einer Prostituierten die Ehe versprochen, die Pönitentiarie löst sein Gelübde, aber sie nimmt es doch ernst, auch gegenüber einer Prostituierten – hier wird der Rechtsstandpunkt kurz referiert, und wie interessant ist das! Auch das Geschäftsleben wird Thema. Zahlungsgelübde sollen gelöst werden, dass der Preis kein gerechter sei, scheint ein zureichender Grund. Und dann die Exkommunikationen. Bankiers, die der Kurie nahestehen, erwirken schnell Exkommunikationen gegen säumige Zahler. Man sieht die Probleme, die sich die Kirche am Vorabend der Reformation aufhalste.
Zum Vergnügen an der Geschichte gehört die Farbigkeit der Bilder. Historisch ist, was anders ist als wir. Dafür hat Esch Auge und Sprache. Er schreibt lebhaft und gelöst, im Gesprächston, doch ohne Kumpelei mit Sache oder Publikum, frei, aber fein, ohne Ironie, die gegenüber der Vergangenheit etwas Billiges hat; der überlegene Standpunkt ist ja schon durch den Ort in der Zeit gewährleistet. Und Esch will die Ereignisse eben nicht von oben betrachten. Er hat sich für die Akten der Pönitentiarie entzündet, weil sie einen Blick von unten ermöglichen. Und „unten“ meint nicht so sehr die soziale Position im Gegensatz zur Obrigkeit. Unten ist die Sicht derer, die in ihrer Zeit sich zurechtfinden müssen, im „gelebten Menschenalter“ gegenüber dem „gedachten Zeitalter“, wie der Historiker es sich zurechtgeforscht hat. Die Menschen, die Esch noch einmal zu Wort kommen lässt, tasten sich durch ihre Zeit, wie wir durch unsere.
STEPHAN SPEICHER
Unten heißt die Sicht derer,
die in ihrer Zeit sich
zurechtfinden müssen
Arnold Esch:
Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. Verlag C.H. Beck,
München 2014. 544 Seiten,
29,95 Euro.
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Arnold Esch erzählt von kleinen Leuten
„Als einst in den Königreichen Kastilien und León Krieg war zwischen dem erlauchten Fürsten und König Heinrich, der damals mit seinem Hof in der Stadt Toro bei Zamora residierte, und einigen Vasallen andererseits – da wurde mir mein Maultier gestohlen.“ Selten hat man eine so majestätische Welt und ein so klägliches Missgeschick in einem Moment gesehen. Der Vorgang ist festgehalten 1470 in den Akten der päpstlichen Pönitentiarie; dieser Notiz und tausenden ähnlicher Art verdanken wir einen Eindruck, wie einfache Leute die große Geschichte erleben. Im Zweifelsfall ist das gestohlene Maultier wichtiger als der Krieg eines erlauchten Fürsten und Königs.
Vor vier Jahren hat der Historiker Arnold Esch Begebenheiten dieser Art aus dem Archiv der Pönitentiarie herausgesucht und nacherzählt: „Wahre Geschichten aus dem Mittelalter“. Es waren Fälle aus dem Gebiet des römisch-deutschen Reiches, nun hat er einen zweiten Band folgen lassen, wieder mit Fällen aus dem 15. Jahrhundert, diesmal aber aus den anderen europäischen Ländern: „Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters“. Es sind kleine Schicksale, wie Esch schreibt, aber mehr noch sind es Schicksale kleiner Leute.
Wie kam es dazu, dass sie aufgeschrieben wurden und es bis in unsere Zeit gebracht haben? Kirchliche Archive bieten die besten Überlieferungschancen. Die katholische Kirche versteht sich historisch, sie bewahrt ihr Schriftgut mit Sorgfalt und so auch das der päpstlichen Buß- und Gnadenbehörde, der Pönitentiarie. An sie wendete sich, wer schuldig wurde oder glaubt, schuldig geworden zu sein. Schuld „ist eine große Überlieferungschance. Für viele gewöhnliche Menschen ist sie sogar die einzige. Nun erst wird nach ihnen gefragt, müssen sie reden, dürfen sie reden.“ Wer keinen Ärger hat und keinen Ärger macht, der wird es nicht in die Archive bringen.
Ganz gewöhnliche Menschen und Fälle sind es allerdings nicht immer. Denn die Fälle gehen erst nach Rom, wenn sie die Zuständigkeit des Ortsbischofs übersteigen. Und doch steckt etwas Egalitäres in der Praxis der Pönitentiarie: Diese soll sich nicht für die politische oder historische Geltung der Antragsteller interessieren. Sie hat auf deren Seelen und ihre Gefährdung zu sehen, hier achtet sie die Menschen gleich. Ein Stand allerdings meldet sich besonders oft, der geistliche. Ein häufiges Problem: Kleriker durften nichts mit der Verstümmelung und dem Tod eines Menschen zu tun haben, nicht mit Folter oder Todesurteil in einem ordentlichen Verfahren, auch nicht vor Empfang der Weihen. In der gewaltgeneigten Welt des Mittelalters ist solche Friedfertigkeit nicht leicht zu wahren.
In erstaunlicher Häufigkeit wechseln Mönche in den Kriegsdienst und wieder zurück. Regelmäßig behaupten sie in ihren Suppliken (Bittschriften), niemanden getötet oder schwer verletzt zu haben, nicht einmal bei der blutigen Eroberung Roms 1527, dem Sacco di Roma. Doch ist die Pönitentiarie nicht weltfremd, der Bearbeiter schreibt knapp „Absolution von Mord“. Die vermeintlich feste Aufteilung der mittelalterlichen Gesellschaft in Stände zeigt sich hier in neuem Licht – auch wenn man bedenken muss, dass die Mönche, die pflichtgemäß in ihrem Kloster verharren, damit auch nicht in die Archive vorrücken.
Aber natürlich gibt es auch ganz andere Situationen. Ein Kleriker spielt mit seiner kleinen Nichte und zeigt ihr eine Haselmaus. „Aber da geriet sie ganz durcheinander. Sie wollte weglaufen und stürzte in ein Gefäß mit heißem Wasser.“ In Lemberg kommen Kinder zur Karnevalszeit in den Dominikaner-Konvent. Die Mönche bauen eine Schaukel für die kleinen Gäste, und dann fällt ein Kind herunter und ist tot. Beide Male bitten die Kleriker in Rom um Absolution. Spricht aus solchen Bitten ein besonders feines moralisches Empfinden? Oder eher umgekehrt ein einfaches Erfolgsprinzip bei der Bewertung des Geschehens – ohne innere Sachverhalte wie Vorsatz oder Fahrlässigkeit zu bedenken?
Ein Priester rettet in Bologna seinen Onkel vor der Hinrichtung, zu der ihn die Inquisition verurteilt hatte. Aber einer der Fluchthelfer wird erwischt und gehängt. Letzteres ist für die Pönitentiarie das Problem. Die Fluchthilfe ist gleich beiseitegeschoben, aber der Schuldanteil am Tod des Mitverschworenen muss noch mal untersucht werden.
Alle Fälle, von denen wir wissen, sind positiv beschieden worden. Bittschriften, die abgelehnt wurden, gelangten nicht ins Repertorium. Warum, das ist unklar. Für Esch ist das auch nicht entscheidend. Ihn beschäftigen die Verwicklungen, wie die Gläubigen sie in ihren Suppliken schildern, weniger deren Auflösung nach Kirchenrecht; er will den Bittstellern in ihren Nöten nicht gleich kanonistisch ins Wort fallen. Das ist gelegentlich auch schade. Ein Priester hat einem Amtsbruder Gift in Hostie und Messwein gemischt und dazu vorgetragen, er habe aus Naivität und Rechtsunkenntnis so gehandelt. Auch er zieht wohl den Kopf aus der Schlinge – aber mit welchen Argumenten mag das die Pönitentiarie begründet haben? Historisch interessant, weil in der Zeit so beweglich, ist doch gerade das Urteil über abweichendes Verhalten.
Esch aber hat sich anders entschieden, und auf seinem Weg hat er allerdings viel zu bieten. Wir erfahren von großen Dingen wie der Piraterie und den Schwierigkeiten im Umgang mit Muslimen. Und von kleinen: Der Erzbischof von Venedig hat Vorschriften gegen den Kleiderluxus erlassen, nun bitten vornehme Venezianerinnen um eine Ausnahmegenehmigung für Schuhe mit hohen Absätzen, denn sie seien im Heiratsalter und kleinwüchsig. Immer wieder geht es um Ehegelöbnisse. Ein Mann hat einer Prostituierten die Ehe versprochen, die Pönitentiarie löst sein Gelübde, aber sie nimmt es doch ernst, auch gegenüber einer Prostituierten – hier wird der Rechtsstandpunkt kurz referiert, und wie interessant ist das! Auch das Geschäftsleben wird Thema. Zahlungsgelübde sollen gelöst werden, dass der Preis kein gerechter sei, scheint ein zureichender Grund. Und dann die Exkommunikationen. Bankiers, die der Kurie nahestehen, erwirken schnell Exkommunikationen gegen säumige Zahler. Man sieht die Probleme, die sich die Kirche am Vorabend der Reformation aufhalste.
Zum Vergnügen an der Geschichte gehört die Farbigkeit der Bilder. Historisch ist, was anders ist als wir. Dafür hat Esch Auge und Sprache. Er schreibt lebhaft und gelöst, im Gesprächston, doch ohne Kumpelei mit Sache oder Publikum, frei, aber fein, ohne Ironie, die gegenüber der Vergangenheit etwas Billiges hat; der überlegene Standpunkt ist ja schon durch den Ort in der Zeit gewährleistet. Und Esch will die Ereignisse eben nicht von oben betrachten. Er hat sich für die Akten der Pönitentiarie entzündet, weil sie einen Blick von unten ermöglichen. Und „unten“ meint nicht so sehr die soziale Position im Gegensatz zur Obrigkeit. Unten ist die Sicht derer, die in ihrer Zeit sich zurechtfinden müssen, im „gelebten Menschenalter“ gegenüber dem „gedachten Zeitalter“, wie der Historiker es sich zurechtgeforscht hat. Die Menschen, die Esch noch einmal zu Wort kommen lässt, tasten sich durch ihre Zeit, wie wir durch unsere.
STEPHAN SPEICHER
Unten heißt die Sicht derer,
die in ihrer Zeit sich
zurechtfinden müssen
Arnold Esch:
Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. Verlag C.H. Beck,
München 2014. 544 Seiten,
29,95 Euro.
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