Wer weiß schon von Nietzsches Versuchen auf der Schreibmaschine, oder dass seine Schwester Elisabeth einige Jahre im südamerikanischen Dschungel zubrachte?! Vielfältig sind die Spuren, die Nietzsche in der Literatur hinterlassen hat: natürlich zunächst mit seinen eigenen Werken, aber auch mittelbar - etwa durch die Verwandlungdes Übermenschen zu Superman in Amerika, in den Detektivgeschichten des Arthur Conan Doyle oder den Akten der Staatssicherheit, aus denen »Sarah Tustra« sprach. Die Rede geht außerdem von Musikern, Himmelskörpern, Wallfahrten, Pferden.Und so zeigen sich die Facetten eines Menschen, bei dem Leben und Geist oft ineinandergreifen - auf tragikomische und erhellende Weise.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Amüsiert liest sich Rezensent Matthias Steinbach durch Elmar Schenkels Nietzsche-Buch, dem weniger an der Wahrheit, als an blühendem und - natürlich - fröhlichem Blödsinn im Zwischenbereich von Fakt und Fiktion gelegen ist. Der bis zu seiner Emeritierung 2019 in Leipzig lehrende Anglist Schenkel ist offensichtlich ein großer Nietzsche-Enthusiast, so Steinbach. Keine Spur sei ihm zu obskur, alles verstehe er mit allem zu kombinieren und auch Nietzsches vermeintliche und / oder tatsächlichen, teils möglicherweise gar inzestuösen Bettgeschichten komme nicht zu kurz. Ein kurzweiliger Ausflug in den "Nietzsche-Bastelkasten", in dem es gehörig "postmodernelt", lautet das Fazit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2023Sehr fröhliche Wissenschaft
Elmar Schenkels Nietzsche-Anekdoten
Wahrheiten? Mit Nietzsche, 1844 in Röcken nahe bei Leipzig geboren, ein "bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und nach langem Gebrauch [...] kanonisch und verbindlich dünken", wie der Anglist und Kulturwissenschaftler Elmar Schenkel schreibt. Der fernab, nämlich 1953 im westfälischen Hovestadt geborene Kenner Röckener Realien und globaler Nietzsche-Szenarien hat in seinen passend zum siebzigsten Geburtstag (den Schenkel am kommenden Montag feiern wird) erschienenen witzig-launigen "Wahren Geschichten um Friedrich Nietzsche" gemäß dieser Losung Dinge rund um den Philosophen festgehalten, die eigentlich nicht festzuhalten sind. Kanonisch oder verbindlich ist da gar nichts. Das passt zu Schenkels breiten Interessen.
Aber Nietzsche bedeutet ihm seit der Annahme seines Leipziger Lehrstuhls vor dreißig Jahren besonders viel, und das über die Emeritierung hinaus, etwa als gelegentlicher "Museumswärter und Grabwächter" in der Nietzsche-Gedenkstätte Röcken. Schenkel verweist auf Entlegenes im Bekannten, kombiniert Reales mit Fiktivem, führt uns an Orte und Abgründe eines gefährlichen und gefährdeten Denkens. Es geht um Zettelwirtschaften und Zarathustras, um Sternenfreundschaften und Stilkunde im Tautenburger Forst, um Antisemiten und Asteroiden (1989 wurde einer nach Nietzsche benannt), um Doppelgänger und detektivisches Lesen, Schreibkugeleien und Schnupftabak, umarmte Pferde und natürlich um "die Peitsche", im neunzehnten Jahrhundert übrigens ein Codewort für Syphilis.
Alles ist möglich, und alles führt irgendwie zu allem. Dass Christian Morgenstern den Prediger des Tanzes, des Wortspiels und der Kindlichkeit las und mochte, überrascht wenig. Dass aber Arthur Conan Doyle seinen Bösewicht Professor Moriarty aus "Sherlock Holmes" bewusst als Nachbild Nietzsches erfunden haben oder der gute amerikanische Superman ein Kämpfer gegen den bösen deutschen Übermenschen gewesen sein soll - wer weiß das schon? Und ob der Philosoph nicht doch mit seiner Schwester Elisabeth - mit Lou Andreas-Salomé ja nicht - geschlafen hat? Zumindest behauptet das eine leider nur auf Englisch und in diversen nichtdeutschen Übersetzungen vorliegende Autobiographie, die der schon irre Nietzsche unter dem Titel "My Sister and I" in der Jenaer Psychiatrie verbrochen haben soll. Das Ganze findet sich bei Schenkel unter dem Stichwort "unsittlich". Immerhin war es ja Elisabeth, die dem Bruder zum anstößigen Postkartendreier mit Lou und Paul Rée - Schenkel nennt dieses berühmte Foto "Macht der Frau über das Duo, vor romantischem Hintergrund" (hier die Berner Jungfrau) - das letzte Wort in den Mund legte: "Sieh einmal", soll er gesagt haben, "diese junge Dame bildet sich ein, klüger zu sein als ich und Rée zusammengenommen." Im Tautenburger Forst bei Jena belauerte Elisabeth die beiden als Anstandswauwau.
Eine Tautenburger Nebenaktion war der Abschluss der "Fröhlichen Wissenschaft". Das dem Buch vorangestellte "Vorspiel in Reimen" hatte Nietzsche zumeist auf der berühmten, aber oft defekten Igelschreibmaschine getippt. Elisabeth musste hellwach sein, um den Bruder angesichts der "Aufschriften / auf Tisch und Wand / fuer Narrn / von Narrenhand" vor sich selbst zu schützen. Allzufröhliches strich sie ihm. "Nicht zu freigebig! Nur Hunde scheißen zu jeder Stunde" - das ging für sie gar nicht.
So postmodernelt sich Elmar Schenkel in atemraubender Kombinatorik durch den Nietzsche-Bastelkasten. Urkomisch das verwertete Röckener Material, mit dem Schenkel gut vertraut ist: Gegenüber der "Führerhecke" von 1944, gepflanzt zum hundertsten Geburtstag Nietzsches, hängt an der Kirchenmauer die zu DDR-Zeiten vor möglicher Abbaggerung oder Sprengung (auf Wolfgang Harichs Geheiß) rettende Denkmalschutztafel von 1986. An einem Neujahrsmorgen legte sich einmal ein glücklicher Japaner einfach lang hin auf die Grabplatte seines Helden. Über den Gebeinen soll es sogar einmal zum Äußersten gekommen sein. Das schreibt Elmar Schenkel aber nicht. Er hatte da, wie zu hören ist, als Grabwächter Dienst und sah darüber hinweg. Ansonsten aber sieht Elmar Schenkel ganz genau hin. MATTHIAS STEINBACH
Elmar Schenkel: "Wahre Geschichten um Friedrich
Nietzsche".
Tauchaer Verlag,
Leipzig 2023. 160 S., geb., 15,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elmar Schenkels Nietzsche-Anekdoten
Wahrheiten? Mit Nietzsche, 1844 in Röcken nahe bei Leipzig geboren, ein "bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und nach langem Gebrauch [...] kanonisch und verbindlich dünken", wie der Anglist und Kulturwissenschaftler Elmar Schenkel schreibt. Der fernab, nämlich 1953 im westfälischen Hovestadt geborene Kenner Röckener Realien und globaler Nietzsche-Szenarien hat in seinen passend zum siebzigsten Geburtstag (den Schenkel am kommenden Montag feiern wird) erschienenen witzig-launigen "Wahren Geschichten um Friedrich Nietzsche" gemäß dieser Losung Dinge rund um den Philosophen festgehalten, die eigentlich nicht festzuhalten sind. Kanonisch oder verbindlich ist da gar nichts. Das passt zu Schenkels breiten Interessen.
Aber Nietzsche bedeutet ihm seit der Annahme seines Leipziger Lehrstuhls vor dreißig Jahren besonders viel, und das über die Emeritierung hinaus, etwa als gelegentlicher "Museumswärter und Grabwächter" in der Nietzsche-Gedenkstätte Röcken. Schenkel verweist auf Entlegenes im Bekannten, kombiniert Reales mit Fiktivem, führt uns an Orte und Abgründe eines gefährlichen und gefährdeten Denkens. Es geht um Zettelwirtschaften und Zarathustras, um Sternenfreundschaften und Stilkunde im Tautenburger Forst, um Antisemiten und Asteroiden (1989 wurde einer nach Nietzsche benannt), um Doppelgänger und detektivisches Lesen, Schreibkugeleien und Schnupftabak, umarmte Pferde und natürlich um "die Peitsche", im neunzehnten Jahrhundert übrigens ein Codewort für Syphilis.
Alles ist möglich, und alles führt irgendwie zu allem. Dass Christian Morgenstern den Prediger des Tanzes, des Wortspiels und der Kindlichkeit las und mochte, überrascht wenig. Dass aber Arthur Conan Doyle seinen Bösewicht Professor Moriarty aus "Sherlock Holmes" bewusst als Nachbild Nietzsches erfunden haben oder der gute amerikanische Superman ein Kämpfer gegen den bösen deutschen Übermenschen gewesen sein soll - wer weiß das schon? Und ob der Philosoph nicht doch mit seiner Schwester Elisabeth - mit Lou Andreas-Salomé ja nicht - geschlafen hat? Zumindest behauptet das eine leider nur auf Englisch und in diversen nichtdeutschen Übersetzungen vorliegende Autobiographie, die der schon irre Nietzsche unter dem Titel "My Sister and I" in der Jenaer Psychiatrie verbrochen haben soll. Das Ganze findet sich bei Schenkel unter dem Stichwort "unsittlich". Immerhin war es ja Elisabeth, die dem Bruder zum anstößigen Postkartendreier mit Lou und Paul Rée - Schenkel nennt dieses berühmte Foto "Macht der Frau über das Duo, vor romantischem Hintergrund" (hier die Berner Jungfrau) - das letzte Wort in den Mund legte: "Sieh einmal", soll er gesagt haben, "diese junge Dame bildet sich ein, klüger zu sein als ich und Rée zusammengenommen." Im Tautenburger Forst bei Jena belauerte Elisabeth die beiden als Anstandswauwau.
Eine Tautenburger Nebenaktion war der Abschluss der "Fröhlichen Wissenschaft". Das dem Buch vorangestellte "Vorspiel in Reimen" hatte Nietzsche zumeist auf der berühmten, aber oft defekten Igelschreibmaschine getippt. Elisabeth musste hellwach sein, um den Bruder angesichts der "Aufschriften / auf Tisch und Wand / fuer Narrn / von Narrenhand" vor sich selbst zu schützen. Allzufröhliches strich sie ihm. "Nicht zu freigebig! Nur Hunde scheißen zu jeder Stunde" - das ging für sie gar nicht.
So postmodernelt sich Elmar Schenkel in atemraubender Kombinatorik durch den Nietzsche-Bastelkasten. Urkomisch das verwertete Röckener Material, mit dem Schenkel gut vertraut ist: Gegenüber der "Führerhecke" von 1944, gepflanzt zum hundertsten Geburtstag Nietzsches, hängt an der Kirchenmauer die zu DDR-Zeiten vor möglicher Abbaggerung oder Sprengung (auf Wolfgang Harichs Geheiß) rettende Denkmalschutztafel von 1986. An einem Neujahrsmorgen legte sich einmal ein glücklicher Japaner einfach lang hin auf die Grabplatte seines Helden. Über den Gebeinen soll es sogar einmal zum Äußersten gekommen sein. Das schreibt Elmar Schenkel aber nicht. Er hatte da, wie zu hören ist, als Grabwächter Dienst und sah darüber hinweg. Ansonsten aber sieht Elmar Schenkel ganz genau hin. MATTHIAS STEINBACH
Elmar Schenkel: "Wahre Geschichten um Friedrich
Nietzsche".
Tauchaer Verlag,
Leipzig 2023. 160 S., geb., 15,- Euro.
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