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Die 36 Geschichten, welche die international bekannte Künstlerin über sich als kleines Mädchen, als jung Verheiratete oder bald wieder Geschiedene erzählt, sind stets persönlich und intim, erheiternd bis komisch. Sophie Calle lüftet freizügig den Schleier über ihr 'vie sentimental' und gibt Schlüsselerlebnisse ihres unkonventionellen Lebens preis: als Verliebte, als Pubertierende, die sich ihrer Makel bewusst wird, als Striptease-Tänzerin, als Tierfreundin, deren Katzen ums Leben kommen, und als sich nach dem Glück sehnende Frau. Selten war eine Künstlerin so ehrlich mit sich und ihrem Publikum.…mehr

Produktbeschreibung
Die 36 Geschichten, welche die international bekannte Künstlerin über sich als kleines Mädchen, als jung Verheiratete oder bald wieder Geschiedene erzählt, sind stets persönlich und intim, erheiternd bis komisch. Sophie Calle lüftet freizügig den Schleier über ihr 'vie sentimental' und gibt Schlüsselerlebnisse ihres unkonventionellen Lebens preis: als Verliebte, als Pubertierende, die sich ihrer Makel bewusst wird, als Striptease-Tänzerin, als Tierfreundin, deren Katzen ums Leben kommen, und als sich nach dem Glück sehnende Frau. Selten war eine Künstlerin so ehrlich mit sich und ihrem Publikum.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.2021

Was heißt schon wahr?

Die französische Künstlerin Sophie Calle erzählt noch mehr Geschichten zum Staunen. Einige sind boshaft, manche liebevoll.

Es stimmt nicht ganz, dass "Des histoires vraies" von Sophie Calle jetzt zum ersten Mal überhaupt auf Deutsch erscheinen. Im Jahr 2004 publizierte der Prestel Verlag sechsunddreißig von ihnen, übersetzt von Elke Bahr und Sebastian Viebahn. Denn diese "Wahren Geschichten" sind ein work in progress, das die Künstlerin seit 1994 auf Französisch publiziert, jedes Mal durch neue Storys ergänzt. Die aktuelle Ausgabe ist in Frankreich 2020 als "Des histoires vraies - 63 récits" erschienen. Nun sind es bei Suhrkamp "65 Erzählungen", ins Deutsche übersetzt von Sabine Erbrich, zwei weitere sind also hinzugekommen; welche das sind, wird nicht mitgeteilt.

Was heißt aber schon - wahr? Und überhaupt bei Sophie Calle, dieser groß- und einzigartigen Verwirrspielerin unter den zeitgenössischen Künstlerinnen? Es heißt jedenfalls nicht - wirklich so passiert. Jede dieser Kürzestgeschichten besteht aus einem Foto und einem Text, immer auf nur zwei Buchseiten nebeneinander oder das Bild über den Text gestellt. Sie haben auch ganz brav alle eine Überschrift, nichts ist in formaler Hinsicht an ihnen - falsch.

Die erste Geschichte heißt "Das Porträt"; sie beginnt mit dem Satz: "Ich war neun Jahre alt." Man hätte erwarten können, dass sich Sophie Calle dazu selbst in irgendeinem ihrer diversen Aggregatzustände abbildet, was sie in einigen der Geschichten ja durchaus tut. Zu sehen ist aber in Schwarz-Weiß, gehängt vor einer kahlen Wand, an deren unterem Rand eine banale Steckdose auftaucht, das Brustporträt einer jungen Frau im Halbprofil auf "einer altniederländischen Malerei, datiert auf das ausgehende fünfzehnte Jahrhundert, mit dem Titel ,Luce de Montfort'". Wo immer Sophie Calle diesen Namen hernimmt, er ist hübsch. In Wahrheit oder Wirklichkeit handelt es sich um eine übrigens ausschnitthafte, vermutlich fotografische Reproduktion von Rogier van der Weydens berühmtem "Bildnis einer jungen Frau", deren Wams im Original außerdem auch nicht "rosafarben" ist, wie die Blütenträume junger Frauen es sein mögen und wie Sophie Calle es behauptet. Und der récit daneben berichtet von der Skepsis der Erzählerin, ihren "leiblichen Vater" betreffend. Was freilich stimmt: Die junge Frau auf dem alten Porträt hat "den Blick auf den Betrachter gerichtet".

Auf diese bemerkenswerte Weise gewarnt, wird klar, dass genauso der Blick der Künstlerin auf den Betrachter oder die Betrachterin, auf den Leser oder die Leserin in allen Geschichten entscheidend ist; sollen sie sich doch ihren Reim darauf machen. Es sind (fast) sämtlich "Ich"-Geschichten; viele ließen sich unerhörte Begebenheiten nennen, komprimiert auf ein paar Zeilen. In "Die Nase" wollen die Großeltern "ein paar Makel" der Enkelin korrigieren lassen; der Schönheitschirurg bringt sich zwei Tage vor der Operation um, womit sich das Problem erledigt hat. In "Die Wunderbrüste", sicher eine der früheren Erzählungen (das dazugehörige Brust-Foto fand sich schon auf dem Cover der "Wahren Geschichten" von 2004), diagnostiziert Sophie Calle, dass ihr Busen sich 1992 plötzlich verwandelt habe: "Ganz allein, ohne Eingriff oder äußere Einflussnahme, auf wundersame Weise. Ich schwöre es. Siegreich, aber nicht sonderlich überrascht, schrieb ich diese Leistung zwanzig Jahren Frustration, Begehren, Träumereien und Seufzern zu." Im Jahr 1992 war Sophie Calle neununddreißig Jahre alt. Wie immer das ein Geständnis sein mag, die Formel "Ich schwöre es" darf man, so verstört wie amüsiert, vergessen.

Wie vielleicht auch die aberwitzige Begegnung mit "Mose", dem verwaisten Jungstier auf der Wiese vor ihrem Fenster, von dem sie sich ihre Brüste lecken lässt. Oder vielleicht doch - wahr? Schließlich gibt es auch dazu ein Farbfoto, wer immer es wie auch immer gemacht haben mag; zu den Urhebern der Fotografien im Buch gibt es sowieso keine Angaben. Die Irritationen, die von den Bildern ausgehen, sind unabdingbare Bestandteile der Geschichten, als wunderbar trügerische Belege.

Es geht aber auch um die phantasmatische Konstruktion des idealen Mannes, wie in "Die Krawatte": "Ich sah ihn an einem Dezembertag im Jahr 1985. Er hielt einen Vortrag. Ich fand ihn anziehend. Eine Sache aber missfiel mir: seine Krawatte in schreienden Farben." Fortan will ihm Sophie Calle zu Weihnachten immer neue Kleidungsstücke geschickt haben: "Wenn er eines Tages komplett von mir eingekleidet ist, möchte ich ihn kennenlernen." Und es gibt einige Unterabteilungen für die Geschichten: "Der Ehemann" wird, bis in intime Details, in römischen Zahlen von I bis X durchgenommen, bis zur Scheidung. Die Episoden zu "Monique" gelten der 2006 verstorbenen Mutter; sie sind von berührend trotziger Melancholie durchtränkt. Ähnlich ist das bei "Bob", dem Vater, der 2015 starb. Der Kater "Souris" bekommt in vier Kapiteln sein Epitaph: "Weil das einzige Wesen, das zur Welt zu bringen ich mir hätte vorstellen können, ein Kater war." Über die Texte und Fotografien dazu darf man mindestens staunen.

Sophie Calle ist eine Stalkerin par excellence; das hat sie immer wieder getan, es ist ihr Konzept als Künstlerin. Diese Übung exerzierte sie zuerst 1983, in den Folgen ihrer Text-Bild-Collage "L'homme au carnet", auf Deutsch "Das Adressbuch". Sie schnüffelte darin hinter einem Unbekannten her, indem sie die Personen zu ihm befragte, die in seinem carnet, das sie angeblich auf der Straße gefunden hatte, eingetragen waren (F.A.Z. vom 24. Januar 2020). Es mag sogar sein, dass die heftigen Reaktionen auf diese Aktion sie veranlassten, nicht nur eine Verfolgerin anderer Menschen zu sein, sondern auch sich selbst nachzustellen. Sollte "wahr" also als "autobiographisch" im strengen Sinn verstanden werden? Wohl kaum; Sophie Calle hat vielmehr einen ausgeprägten Möglichkeitssinn.

Man könnte an Arthur Rimbauds berühmten Satz "Je est un autre" denken, im denkbar einfachen Sinn: Denn "je" ist das "ich" der Schrift, des geschriebenen Texts eben. Dagegen steht, im Französischen, "moi" als jenes "Ich", das sich seiner selbst als Subjekt vergewissern will. Was, man weiß es, ständig schiefgehen kann. Sophie Calle, die nicht wenige ihrer "Wahren Geschichten" mit dem "je" beginnt, ist kühn genug, es mit den Fotografien für diese wackelige Beglaubigung eines "moi" - das hier bin ich - zu versuchen. Nicht zuletzt darin demonstriert sie ihren Witz von surrealer Klasse.

Bloß nicht beleidigt sein! Sophie Calle verkauft niemanden für dumm. Im Gegenteil: Der elegante schmale Band ist eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die schon immer Freude an der Anstiftung zu unsinnig schweifenden Gedanken hatten. Ironisch, narzisstisch, aufsässig, traurig, boshaft und ja: liebevoll; alles ist da. Nur die Künstlerin mit dem Namen Sophie Calle ist nicht zu fassen - "den Blick auf den Betrachter gerichtet" eben. So funktioniert ihr Zauber der Abwesenheit. ROSE-MARIA GROPP.

Sophie Calle: "Wahre Geschichten".

Aus dem Französischen von Sabine Erbrich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 141 S., Abb., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Frank Schäfer liest Sophie Calles (nun zum zweiten Mal in leicht erweiterter Form erschienenen) wahren Geschichten als Reaktion auf die Kritik, in ihrem Vorgängerbuch indiskret mit dem Privatleben eines Unbekannten umgegangen zu sein. Hier erzählt sie nun in kurzen Prosatexten und "vermeintlich beglaubigenden" Fotos von sich selbst - wie ihr Vater sie wegen Mundgeruchs zu einem Arzt schickt, der eigentlich Psychologe ist, oder wie sie einen gutaussehenden, aber schlecht angezogenen Mann einkleidet -, überformt ihre Person dabei aber eben deutlich, analysiert Schäfer. Zu stören scheint ihn das jedoch nicht, vielmehr gewinnt er dem Spiel mit der Wahrheit einen besonderen Lesereiz ab. Die kurzen Texte fallen dabei mal abstrus oder verstörend, meist aber witzig aus, so der Kritiker, der in Calles Reduzierung der Sprache auf ihre "vermeintliche Dokumentarfunktion" außerdem poetische Züge findet.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Es geht Calle in allen diesen Geschichten darum, dem Schrecken des Profanen etwas Poesie abzutrotzen und die krude Realität in Form zu bringen. Und das gelingt ihr immer wieder auf suggestive, gelegentlich verstörende, meistens aber recht witzige Weise.« Frank Schäfer taz am wochenende 20211107