Über Kraft und Macht des Erzählens
Überall wird von der prägenden Kraft der Erzählung gesprochen: in der Geschichtsschreibung, in Recht, Politik und Ökonomie. Erzählerisch werden Konfliktzonen vermessen, gesellschaftliche Institutionen begründet, Vergangenheiten und Zukünfte imaginiert. Insofern stellen kollektive Erzählungen ein wichtiges Medium der Selbststeuerung von Gesellschaften dar.
Noch immer fehlt es aber an einer Erzähltheorie, die systematisch über ihren klassischen Geltungsbereich, die Literatur, hinausgeht. Das hier vorgelegte Buch zeigt Wege auf, um diese Lücke zu schließen. Es stellt den dichterischen Fiktionen nicht nur die Vielfalt unmittelbar mit der sozialen Praxis verflochtener Erzählweisen gegenüber, sondern fragt allgemeiner nach den kulturellen Transformationsregeln zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Ein wichtiges Buch zu einem der Schlüsselbegriffe der Kulturwissenschaft.
Überall wird von der prägenden Kraft der Erzählung gesprochen: in der Geschichtsschreibung, in Recht, Politik und Ökonomie. Erzählerisch werden Konfliktzonen vermessen, gesellschaftliche Institutionen begründet, Vergangenheiten und Zukünfte imaginiert. Insofern stellen kollektive Erzählungen ein wichtiges Medium der Selbststeuerung von Gesellschaften dar.
Noch immer fehlt es aber an einer Erzähltheorie, die systematisch über ihren klassischen Geltungsbereich, die Literatur, hinausgeht. Das hier vorgelegte Buch zeigt Wege auf, um diese Lücke zu schließen. Es stellt den dichterischen Fiktionen nicht nur die Vielfalt unmittelbar mit der sozialen Praxis verflochtener Erzählweisen gegenüber, sondern fragt allgemeiner nach den kulturellen Transformationsregeln zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Ein wichtiges Buch zu einem der Schlüsselbegriffe der Kulturwissenschaft.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2012Unser aller Narrativ
Das Erzählen hat zuletzt eine erstaunliche Karriere gemacht. Was hat das zuständige Fach, die Literaturwissenschaft, dazu zu sagen?
Der Germanist Albrecht Koschorke wagt es, eine luzide und lebendige „Allgemeine Erzähltheorie“ zu schreiben
VON BURKHARD MÜLLER
Das Erzählen hat in jüngerer Zeit eine erstaunliche Karriere gemacht. Dinge, bei denen man früher gar nicht daran gedacht hätte, treten plötzlich als etwas „Erzähltes“ auf, Filme beispielsweise, deren Handlung doch genaugenommen nicht erzählt, sondern agiert wird; Lebens-, National- und Firmengeschichten werden als „Narrativ“ gedeutet, als gewännen sie so erst ihren Sinn.
Diese Konjunktur, die der Begriff des Erzählens erlebt hat, traf das eigentlich zuständige Fach, die Literaturwissenschaft, einigermaßen unvorbereitet. Das stellt der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke nicht ohne Ironie fest. Er legt jetzt „Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie“ vor, wie der Untertitel seines neuen Buches lautet. Es ist ein ambitioniertes Projekt von größter Reichweite.
Albrecht Koschorkes prinzipielle Absicht bringt es mit sich, dass ihm das Thema unter der Hand in eine Allgemeine Kulturtheorie übergeht. Vom Erzählen, so stellt sich heraus, lässt sich nicht handeln, ohne dass man sämtliche Kontexte, in denen und von denen erzählt wird, ausführlich mitbedenkt. Zum Beispiel gibt es kein Erzählen, das sinnlos wäre. Also steht auf einmal die Kategorie des Sinns zur Debatte, über die Koschorke höchst Beherzigenswertes zu sagen weiß. Er wundert sich über die Soziologen, die den Sinn schlechterdings voraussetzen und damit all ihre eitle Positivität nur um den Preis einer verschwiegenen metaphysischen Vorbedingung durchziehen können. Der ganze Abschnitt darüber ist brillant; aber danach muss sich der Autor entschlossen zur Ordnung rufen: Wo waren wir stehen geblieben? Ja doch, beim Erzählen!
Überall geht der Autor gegen jene Bequemlichkeit vor, die vorzugsweise mit Dichotomien operiert. Allen Ansätzen, die in dieser Weise als Gegensätze aufgemacht sind, droht das Erzählen zu entschlüpfen wie ein Fisch. Denn Erzählen ist nie nur das eine, nie bloße Fiktion ohne Wahrheit; immer ist es, obgleich gesellschaftliche Ordnungsmacht, auch mit anarchischer Lust behaftet; fest in seinen Mustern, steht es stets auf dem Sprung zum Wandel. Albrecht Koschorke bevorzugt darum ein Denken in Feldern und Wirbeln, ja geradezu in „Wirbelfeldern“, bei denen nicht entweder das eine oder das andere gilt, sondern alles gleichermaßen.
Skalierung ist wichtiger als Antagonismus; Zentrum und Peripherie, „heißes“ und „kaltes“ Denken lauten einige seiner Schlüsselwörter, und die „Liminalität“, also das Dasein auf der Schwelle zwischen drinnen und draußen, spielt eine entscheidende Rolle. Weder die System- noch die Kommunikationstheorie sieht er dem Gegenstand gewachsen: die eine, weil sie ihre Grenzen als absolut setzt, die andere, weil sie keinen Raum für Rückkopplungen und Redundanzen vorsieht. Gegen Theorien und ihren Zwang zur Schließung generell hegt Albrecht Koschorke eine so herzliche Abneigung, dass man leicht übersieht: Er liefert ja selbst eine.
Darüber, was Erzählen ist und tut, erfährt man hier jedenfalls sehr viel. Es dient dem Stoffwechsel des Kollektivs mit der Welt. Es sichert, gerade in der Moderne, den Zusammenhalt der diversen Communities über ihr Fachchinesisch hinaus. Es wählt aus und richtet zu, auf dass sich das Relevante mit dem Gedächtnis verschwistere. Es relativiert die humorlosen Hochdiskurse durch sein respektloses Geplapper und Gekicher an den Türen von Kirchen und Hörsälen und stabilisiert sie doch. Es gibt, eine Art umgekehrter „stiller Post“, dem Formlosen durch sukzessive Durchläufe allmählich Form. Es bearbeitet Normprobleme im Modus des Einzelfalls, agiert also wie ein Gericht, aber informell.
Zwischen der „Voll-Inklusion“ der totalitären Ordnung und der „Null-Inklusion“ des chaotischen Zerfalls bedeutet Erzählen eine „Begegnung der dritten Art“. Es stellt das wesentliche Medium der Widersprüchlichkeit in der Gesellschaft dar, „entsprechend der Grundregel: Widersprüchlichkeit bindet, Widerspruchsfreiheit löst Bindungen auf“. „Wolken der Teilpartizipation“ sieht Koschorke am Werk und findet eine bestechende Wendung nach der anderen für das, was er meint. Ein wenig liest es sich wie beim Apostel Paulus die Liste von dem, was die Liebe sei.
Dabei schreibt Koschorke einen ebenso luziden wie lebendigen Stil. Komplexe Sachverhalte weiß er eingängig zu machen, und er schreckt auch vor der starken, ungewohnten Metapher nicht zurück. Von Erzählungen, die länger währen als ihr kultureller Kontext, sagt er zum Beispiel: „Geht ihre soziale und kulturelle Einbettung verloren, wirken die Geschichten ‚wie aus einer anderen Welt‘. Sie überdauern die Zeit wie Ruinen, deren Mörtel verwittert und die nur durch die Schwere der Bauteile zusammenhalten, ehrfurchtgebietend und unbegreiflich.“ Man sieht sogleich vor sich, was er meint.
Aber was ist das Erzählen denn nun genau? Koschorke verweigert sich, seinen Voraussetzungen gemäß, der Definition und hält es lieber mit dem Historiker Reinhart Koselleck: Ein Begriff dürfe klar, er müsse vieldeutig sein.
Dennoch lässt Koschorkes Begriff des Erzählens stellenweise die Ermüdungserscheinungen imperialer Überdehnung erkennen, zu denen es kommt, wenn ein Anspruch auf Dominanz sich in allzu weit entferntes Territorium wagt: Indem das Erzählen zuletzt an allen Macht-, Wissens-, Verständigungs- und Tradierungsmodi irgendwie beteiligt ist, verschwimmt es gegen den sprachlichen Akt überhaupt. Das „Narrativ“ kann dann abmagern zu einem einzigen Wort, vorzugsweise zu einem der Substantive auf „-ierung“ und „-isation“, die, wie Koschorke treffend ausführt, immer ein Minimalprogramm des Vorher und Nachher einschließen. Das „Narrativ“ kann auch ein unausgesprochenes sein, weil es nämlich in expliziter Gestalt seine Unvernunft preisgäbe, selbst in den Ohren der Parteigänger, etwa im Fall der Mythologien ethnischer Überlegenheit. Doch was, fragt sich der Leser, ist das für eine Erzählung, die im Unausdrücklichen verbleibt?
Was man in einem Buch über das Erzählen doch gerne noch vernommen hätte, das wären mehr konkrete Beispiele. Der Leser ist sehr dankbar für die wenigen, die es tatsächlich gibt. Von Eigennamen heißt es etwa, dass sie sich gern als Rätselwörter in Geschichten einkapselten, „sei es, dass man sie auf allen möglichen Wegen der eigenen Sinnwelt anzuverwandeln versucht, sei es, dass sie wie magische Fremdkörper im Fluss der Kommunikationen zum Kristallisationskern von narrativen Kontexterzeugungen werden.“ Das ruft geradezu nach dem sinnfälligen Exempel.
Es könnte einem da der König Drosselbart einfallen. Von dem gelten alle beide „sei es“. Ein Drosselbart, das war ursprünglich bestimmt ein extra üppiger Bartwuchs wie beim Blaubart, Merkmal einer starken und bedrohlichen Maskulinität, der hinab bis an die Kehle ging, oder an die Drossel, wie das verschollene Wort dafür lautet. Es hat heute noch lebende Verwandte, nämlich das Drosseln und die Erdrosselung. Das Märchen schlägt sich mit dem Namen herum und erklärt ihn, fälschlich, damit, dass der Bart aussähe wie der Schnabel einer Drossel. Aber es scheidet das lästige Relikt nicht aus, sondern im Gegenteil, es macht es zum zentralen Motiv, indem es die schnippische Prinzessin mehrmals reuevoll seufzen lässt: „Ich arme Jungfer zart, / ach hätt’ ich genommen den König Drosselbart!“
Albrecht Koschorke liefert das gesamte Besteck, um Fälle wie diesen zu behandeln. Er hat die Fahne aufgepflanzt. Zu hoffen bleibt, dass sich möglichst viele und möglichst Berufene darunter scharen, um das unendliche Feld der Tätigkeit, das hier eröffnet ist, in Angriff zu nehmen.
Formlos, dann durchgearbeitet:
Erzählen ist eine Art
umgekehrter „stiller Post“
Es ist ein großes Thema – immer
wieder heißt es: Wo waren wir
stehen geblieben?
Albrecht Koschorke:
Wahrheit und Erfindung.
Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2012.
480 Seiten, 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Das Erzählen hat zuletzt eine erstaunliche Karriere gemacht. Was hat das zuständige Fach, die Literaturwissenschaft, dazu zu sagen?
Der Germanist Albrecht Koschorke wagt es, eine luzide und lebendige „Allgemeine Erzähltheorie“ zu schreiben
VON BURKHARD MÜLLER
Das Erzählen hat in jüngerer Zeit eine erstaunliche Karriere gemacht. Dinge, bei denen man früher gar nicht daran gedacht hätte, treten plötzlich als etwas „Erzähltes“ auf, Filme beispielsweise, deren Handlung doch genaugenommen nicht erzählt, sondern agiert wird; Lebens-, National- und Firmengeschichten werden als „Narrativ“ gedeutet, als gewännen sie so erst ihren Sinn.
Diese Konjunktur, die der Begriff des Erzählens erlebt hat, traf das eigentlich zuständige Fach, die Literaturwissenschaft, einigermaßen unvorbereitet. Das stellt der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke nicht ohne Ironie fest. Er legt jetzt „Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie“ vor, wie der Untertitel seines neuen Buches lautet. Es ist ein ambitioniertes Projekt von größter Reichweite.
Albrecht Koschorkes prinzipielle Absicht bringt es mit sich, dass ihm das Thema unter der Hand in eine Allgemeine Kulturtheorie übergeht. Vom Erzählen, so stellt sich heraus, lässt sich nicht handeln, ohne dass man sämtliche Kontexte, in denen und von denen erzählt wird, ausführlich mitbedenkt. Zum Beispiel gibt es kein Erzählen, das sinnlos wäre. Also steht auf einmal die Kategorie des Sinns zur Debatte, über die Koschorke höchst Beherzigenswertes zu sagen weiß. Er wundert sich über die Soziologen, die den Sinn schlechterdings voraussetzen und damit all ihre eitle Positivität nur um den Preis einer verschwiegenen metaphysischen Vorbedingung durchziehen können. Der ganze Abschnitt darüber ist brillant; aber danach muss sich der Autor entschlossen zur Ordnung rufen: Wo waren wir stehen geblieben? Ja doch, beim Erzählen!
Überall geht der Autor gegen jene Bequemlichkeit vor, die vorzugsweise mit Dichotomien operiert. Allen Ansätzen, die in dieser Weise als Gegensätze aufgemacht sind, droht das Erzählen zu entschlüpfen wie ein Fisch. Denn Erzählen ist nie nur das eine, nie bloße Fiktion ohne Wahrheit; immer ist es, obgleich gesellschaftliche Ordnungsmacht, auch mit anarchischer Lust behaftet; fest in seinen Mustern, steht es stets auf dem Sprung zum Wandel. Albrecht Koschorke bevorzugt darum ein Denken in Feldern und Wirbeln, ja geradezu in „Wirbelfeldern“, bei denen nicht entweder das eine oder das andere gilt, sondern alles gleichermaßen.
Skalierung ist wichtiger als Antagonismus; Zentrum und Peripherie, „heißes“ und „kaltes“ Denken lauten einige seiner Schlüsselwörter, und die „Liminalität“, also das Dasein auf der Schwelle zwischen drinnen und draußen, spielt eine entscheidende Rolle. Weder die System- noch die Kommunikationstheorie sieht er dem Gegenstand gewachsen: die eine, weil sie ihre Grenzen als absolut setzt, die andere, weil sie keinen Raum für Rückkopplungen und Redundanzen vorsieht. Gegen Theorien und ihren Zwang zur Schließung generell hegt Albrecht Koschorke eine so herzliche Abneigung, dass man leicht übersieht: Er liefert ja selbst eine.
Darüber, was Erzählen ist und tut, erfährt man hier jedenfalls sehr viel. Es dient dem Stoffwechsel des Kollektivs mit der Welt. Es sichert, gerade in der Moderne, den Zusammenhalt der diversen Communities über ihr Fachchinesisch hinaus. Es wählt aus und richtet zu, auf dass sich das Relevante mit dem Gedächtnis verschwistere. Es relativiert die humorlosen Hochdiskurse durch sein respektloses Geplapper und Gekicher an den Türen von Kirchen und Hörsälen und stabilisiert sie doch. Es gibt, eine Art umgekehrter „stiller Post“, dem Formlosen durch sukzessive Durchläufe allmählich Form. Es bearbeitet Normprobleme im Modus des Einzelfalls, agiert also wie ein Gericht, aber informell.
Zwischen der „Voll-Inklusion“ der totalitären Ordnung und der „Null-Inklusion“ des chaotischen Zerfalls bedeutet Erzählen eine „Begegnung der dritten Art“. Es stellt das wesentliche Medium der Widersprüchlichkeit in der Gesellschaft dar, „entsprechend der Grundregel: Widersprüchlichkeit bindet, Widerspruchsfreiheit löst Bindungen auf“. „Wolken der Teilpartizipation“ sieht Koschorke am Werk und findet eine bestechende Wendung nach der anderen für das, was er meint. Ein wenig liest es sich wie beim Apostel Paulus die Liste von dem, was die Liebe sei.
Dabei schreibt Koschorke einen ebenso luziden wie lebendigen Stil. Komplexe Sachverhalte weiß er eingängig zu machen, und er schreckt auch vor der starken, ungewohnten Metapher nicht zurück. Von Erzählungen, die länger währen als ihr kultureller Kontext, sagt er zum Beispiel: „Geht ihre soziale und kulturelle Einbettung verloren, wirken die Geschichten ‚wie aus einer anderen Welt‘. Sie überdauern die Zeit wie Ruinen, deren Mörtel verwittert und die nur durch die Schwere der Bauteile zusammenhalten, ehrfurchtgebietend und unbegreiflich.“ Man sieht sogleich vor sich, was er meint.
Aber was ist das Erzählen denn nun genau? Koschorke verweigert sich, seinen Voraussetzungen gemäß, der Definition und hält es lieber mit dem Historiker Reinhart Koselleck: Ein Begriff dürfe klar, er müsse vieldeutig sein.
Dennoch lässt Koschorkes Begriff des Erzählens stellenweise die Ermüdungserscheinungen imperialer Überdehnung erkennen, zu denen es kommt, wenn ein Anspruch auf Dominanz sich in allzu weit entferntes Territorium wagt: Indem das Erzählen zuletzt an allen Macht-, Wissens-, Verständigungs- und Tradierungsmodi irgendwie beteiligt ist, verschwimmt es gegen den sprachlichen Akt überhaupt. Das „Narrativ“ kann dann abmagern zu einem einzigen Wort, vorzugsweise zu einem der Substantive auf „-ierung“ und „-isation“, die, wie Koschorke treffend ausführt, immer ein Minimalprogramm des Vorher und Nachher einschließen. Das „Narrativ“ kann auch ein unausgesprochenes sein, weil es nämlich in expliziter Gestalt seine Unvernunft preisgäbe, selbst in den Ohren der Parteigänger, etwa im Fall der Mythologien ethnischer Überlegenheit. Doch was, fragt sich der Leser, ist das für eine Erzählung, die im Unausdrücklichen verbleibt?
Was man in einem Buch über das Erzählen doch gerne noch vernommen hätte, das wären mehr konkrete Beispiele. Der Leser ist sehr dankbar für die wenigen, die es tatsächlich gibt. Von Eigennamen heißt es etwa, dass sie sich gern als Rätselwörter in Geschichten einkapselten, „sei es, dass man sie auf allen möglichen Wegen der eigenen Sinnwelt anzuverwandeln versucht, sei es, dass sie wie magische Fremdkörper im Fluss der Kommunikationen zum Kristallisationskern von narrativen Kontexterzeugungen werden.“ Das ruft geradezu nach dem sinnfälligen Exempel.
Es könnte einem da der König Drosselbart einfallen. Von dem gelten alle beide „sei es“. Ein Drosselbart, das war ursprünglich bestimmt ein extra üppiger Bartwuchs wie beim Blaubart, Merkmal einer starken und bedrohlichen Maskulinität, der hinab bis an die Kehle ging, oder an die Drossel, wie das verschollene Wort dafür lautet. Es hat heute noch lebende Verwandte, nämlich das Drosseln und die Erdrosselung. Das Märchen schlägt sich mit dem Namen herum und erklärt ihn, fälschlich, damit, dass der Bart aussähe wie der Schnabel einer Drossel. Aber es scheidet das lästige Relikt nicht aus, sondern im Gegenteil, es macht es zum zentralen Motiv, indem es die schnippische Prinzessin mehrmals reuevoll seufzen lässt: „Ich arme Jungfer zart, / ach hätt’ ich genommen den König Drosselbart!“
Albrecht Koschorke liefert das gesamte Besteck, um Fälle wie diesen zu behandeln. Er hat die Fahne aufgepflanzt. Zu hoffen bleibt, dass sich möglichst viele und möglichst Berufene darunter scharen, um das unendliche Feld der Tätigkeit, das hier eröffnet ist, in Angriff zu nehmen.
Formlos, dann durchgearbeitet:
Erzählen ist eine Art
umgekehrter „stiller Post“
Es ist ein großes Thema – immer
wieder heißt es: Wo waren wir
stehen geblieben?
Albrecht Koschorke:
Wahrheit und Erfindung.
Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2012.
480 Seiten, 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Moritz Baßler liest Albrecht Koschorkes "Wahrheit und Erfindung" als ein Lob begrifflicher Unbestimmtheit. Dem Konstanzer Germanisten und Kulturwissenschaftler geht es darum, den "Funktionswert des Erzählens in der sozialen Dimension" zu skizzieren, wobei die "Erzählung" hier ziemlich weit gefasst ist, erklärt der Rezensent. Nur in ziemlich eingeengten Spezialgebieten ist Sinn halbwegs fixiert, im unübersichtlichen Durcheinander der Alltagswelt erlauben wir uns hingegen durchaus Widersprüche, Unbestimmtheiten, Halbwissen, Inkonsequenz und Verdrängung. Wir verarbeiten die Informationsflut entlang bestimmter Schemata, die Grundnarrativen unserer konkreten, gegenwärtigen Gesellschaft entlehnt sind, fasst Baßler Koschorkes Ansatz zusammen. Der Rezensent findet die Herangehensweise sichtlich spannend, ist allerdings unsicher, ob in unserer vom Web 2.0 geprägten Gesellschaft die "kulturellen Gründungserzählungen" wirklich noch die entscheidende Rolle spielen, die Koschorke ihnen zuspricht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein kluges Lese-Abenteuer für alle, die eine gewisse Leidenschaft für die theoretische Auseinandersetzung mit der Welt haben. Gert Scobel 3sat 20170119