Produktdetails
  • Verlag: vintage
  • ISBN-13: 9780749394202
  • Artikelnr.: 26648278
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2001

Chef in der Wüste
J. M. Coetzee spannt
nicht nur den Leser auf die Folter
Große Literatur ist einfach. Die dargestellte Welt überschaubar, die Ereignisfolge schlüssig, ja zwingend. Die Figuren sind plastisch und ihre Attribute sparsam gesetzt. Ein Beispiel dafür ist Südafrikas Romancier J. M. Coetzee („Schande”), der für seine Erzähl-Ökonomie gerühmt wird. In seinem nun zum zweiten Mal auf Deutsch vorgelegten Roman „Warten auf die Barbaren” schildert er uns das Leben eines Privilegierten.
Der Ich-Erzähler ist Magistrat einer Wüsten-Oase. Der vorgeschobene Grenzposten, den er seit mehr als zwanzig Jahren fast absolutistisch regiert, gehört zu einem nicht näher spezifizierten Reich. Es dauert oft Monate, bis Nachrichten aus der Hauptstadt den abgelegenen Sprengel erreichen. Der Magistrat ist Oberbefehlshaber hier stationierter Soldaten, ist Richter und Bürgermeister in einer Person. Ein Gebildeter, der seine Aufgaben mit Augenmaß und Gelassenheit versieht und ein mildes Regiment führt. Er lässt sein Einzugsgebiet nach und nach kartieren; als Hobby-Archäologe legt er die Überreste einer alten Siedlung frei, die unter dem Flugsand der Zeit begraben wurde. Die Grabungen fördern hin und wieder kleine, rätselhafte Kostbarkeiten zu Tage. Der namenlose Magistrat nimmt seine Pflichten ernst – doch lässt er sich die Annehmlichkeiten seiner Macht nicht entgehen. Er hat unter den jungen Frauen gewildert, und auch jetzt noch, im Alter, nimmt er ihre Dienste gern in Anspruch. Aber seine Libido ist rückläufig und bald – er sieht es mit Selbstekel – werden nur noch Knaben ihn erregen können.
Große Literatur ist komplex. Die Leitmotivik kunstvoll entwickelt, jedes Detail funktional, die Erzählweise ein Abenteuer – in ihrer formalen Gestalt leicht darzustellen und doch ewig rätselhaft und voller Überraschungen. So auch Coetzees Roman. Der Magistrat nämlich bringt sich in Schwierigkeiten. Fast scheint es so, als habe er es darauf angelegt, seinen Besitz, sein Seelenheil, seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Er ist psychologisch schwer zu fassen – und sich selber ein Rätsel: „Verwirrt höre ich an, was ich so von mir gebe. ”
Der Magistrat legt sich mit Militärs an, die zu Strafaktionen gegen angeblich aufständische „Barbaren” in seine Oase gekommen sind. Sein Gegner ist Joll, ein zu extremer Grausamkeit neigender Offizier, der harmlose Fischer und Nomaden foltern und sogar töten lässt, um Geständnisse zu erzwingen. Der Magistrat glaubt keine Sekunde an eine Verschwörung, ihm sind überhaupt seine Gewissheiten durch Einblicknahme in die menschliche Natur langsam aber sicher abhanden gekommen.
Weil er ihn für einen Verbindungsmann der Aufrührer hält, führt Oberst Joll den Magistrat in den Garten der Qualen, bis jede Faser seines Leibes glüht. Doch auch wenn er grausam gefoltert wird – der Magistrat kann seinen Gegenspieler nicht für voll nehmen. Joll ist und bleibt für ihn eine lächerliche Figur, eindimensional und langweilig. Wie interessant ist dagegen die Folter, die Wahrheit des Schmerzes. Und wie schön ist es, wenn erst Linderung eintritt: „Ich bin so unendlich dankbar, dass ich keinen Schmerz mehr spüre. Während ich rechts und links beim Ellbogen gepackt und durch die murmelnde Menge eilig zurück in meine Zelle gebracht werde, stelle ich fest, dass ich sogar lächle. ”
Sein Erfahrungshunger ist unermesslich groß. Und das Alter, peinvoll bereichert durch Demütigung, Erniedrigung, Folter, ist alles andere als ein sanftes, ereignisloses Verlöschen. Nach einem Jahr haben sich die Spezialeinheiten von Oberst Joll zurückgezogen oder sind in der Wüste verschmachtet, ist der Spuk vorüber. „Vielleicht stimmt es ja, dass die Welt keine Illusion ist, kein böser nächtlicher Traum. Vielleicht erkennen wir beim Erwachen unausweichlich, dass wir sie nicht vergessen oder auf sie verzichten können. ”
Dieser diskrete Hinweis auf Calderón („Das Leben ein Traum”) kann als Zeugnis für die Komplexität dieser „einfachen” Erzählung gelesen werden. Die Welt ist vielleicht keine Illusion, der Traum vielleicht keine bloß abgeleitete Realität, das Unbewusste vielleicht doch entzifferbar. Das älteste literarische Zeugnis, das Coetzee adaptiert und transformiert hat, dürfte die Bibel sein. Eine Fußwaschung, die der „göttergleiche” Magistrat bei einem einfachen Nomadenmädchen vornimmt, geht auf Johannes 13 zurück, ist jedoch hier ins deutlich Erotische verschoben. Zudem ist die Waschung ein Akt der Erkenntnis: „Es ist mir nach und nach klar geworden, ehe ich nicht die Zeichen auf dem Körper dieses Mädchens entziffert habe, kann ich nicht ganz von ihr lassen. ” Coetzees Roman ist wie dieser Mädchenkörper voller Zeichen. Man möchte nicht von ihm lassen, ehe man ihn nicht entziffert hat.
LUTZ HAGESTEDT
J. M. COETZEE: Warten auf die Barbaren. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2001. 285 Seiten, 39,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr