Nicole Krauss, die Autorin des Welterfolges «Die Geschichte der Liebe», kehrt mit einem großartigen Werk zurück: Jules Epstein, ein alter, reicher, vom Leben enttäuschter New Yorker Anwalt, reist nach Israel. Nicole, eine junge Schriftstellerin mit Eheproblemen, checkt ebenfalls in Tel Aviv ein. Epstein hat einen Rabbi an den Fersen, der ihn für einen Abkommen König Davids hält, Nicole hingegen einen dubiosen Professor mit einem geheimnisvollen Schreibauftrag.
Zwei Menschen auf der Suche nach dem Unbekannten in sich selbst finden in der Wüste Negev überraschende Wege, über sich, ihre Träume und die Welt hinaus ins Unendliche zu schauen.
Zwei Menschen auf der Suche nach dem Unbekannten in sich selbst finden in der Wüste Negev überraschende Wege, über sich, ihre Träume und die Welt hinaus ins Unendliche zu schauen.
Nicole Krauss hat ihren besten Roman geschrieben. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2018Hoffnungsvoll verirrt
Der Verschollene kehrt zurück und wird zum Kinderfreund: In ihrem Roman "Waldes Dunkel" schickt Nicole Krauss zwei Sinnsucher von New York nach Israel und lässt sie dort der Spur von Franz Kafka folgen.
Das Verschwinden des schwerreichen New Yorker Anwalts Jules Epstein in der Wüste bleibt ein Rätsel, allen Bemühungen zum Trotz, in die sich sogar die israelische Regierung einschaltet. Die nach Tel Aviv geeilten Kinder Epsteins, die im Hilton wohnen, erfahren im Zuge der Ermittlungen, dass ihr achtundsechzigjähriger Vater offenbar in einer schäbigen Absteige in Jaffa gehaust hat, eine Wunderlichkeit mehr im Leben des zunehmend wunderlich gewordenen Mannes. Zuvor hatte er plötzlich seine jahrzehntelange Ehe beendet, einen erheblichen Teil des angehäuften Besitzes einfach verschenkt und eine Reise nach Israel angetreten, auf die sich seine Familie ebenfalls keinen Reim machen kann.
Auch die Schriftstellerin Nicole fliegt nach Tel Aviv, um dort endlich einen Roman schreiben zu können, der mit dem Hilton Hotel zusammenhängt. Kindheitserinnerungen, die an das Haus geknüpft sind, erweisen sich eher als verwirrend als dass sie sich für den geplanten Roman nutzen ließen, und schließlich gerät sie in eine Geschichte, die sie wie Epstein in die Wüste führt, wo sie sich um ein Haar verliert. Schließlich landet sie, von Fieberschüben geschüttelt, in einem Krankenhaus - ein Traum, der sie dort heimsucht, deutet auf ihre Rückkehr nach New York voraus, auf eine neue Liebe. Er sei wahr geworden, berichtet die Erzählerin.
Zwei Geschichten erzählt Nicole Krauss in ihrem Roman "Waldes Dunkel". Die eine, die des Anwalts Epstein, wird auktorial erzählt, die andere von der Protagonistin Nicole selbst. Sie wechseln sich kapitelweise ab, sind also kompositorisch miteinander verschränkt, laufen aber sonst nebeneinander her. Geradezu überdeutlich aber berührt sich, was sich über die Motive des jeweiligen Aufbruchs nach Israel sagen lässt, und der Titel "Waldes Dunkel", entlehnt aus Dantes "Göttlicher Komödie", stimmt ebenfalls darauf ein: "Ich fand auf unseres Lebensweges Mitte / in eines Waldes Dunkel mich verschlagen, / weil sich vom rechten Pfad verirrt die Schritte", heißt es dort.
Wie sich dieser Befund auf Nicoles Situation anwenden lässt, erschließt sich rasch: Als Autorin ist sie offenbar berühmt und erfolgreich genug, um in den Zeitungen aufzutauchen, jetzt aber ringt sie mit einer Krise, die sie monatelang daran hindert, irgendein Projekt auszuführen. Und als Ehefrau und Mutter von zwei Kindern muss sie sich eingestehen, dass sie sich weit von ihrem Mann entfernt hat. Das hat offenbar viel mit dem Alltag einer zehn Jahre währenden Ehe zu tun, vielleicht noch mehr aber mit Nicoles immer stärkerem Bewusstsein dafür, dass sich ihre skeptische Perspektive von der ihres "dem Wissen nachjagenden" Gatten fundamental unterscheidet: "Für meinen Mann war die Welt immer das, was sie zu sein schien, und für mich war sie es nie."
Einen Ausdruck findet das in einer geradezu als Initiation wirkenden Erfahrung: die Ungleichzeitigkeit von Welt und Erleben, die doppelgängerhafte Aufspaltung der eigenen Person, deren Nachhall dann den Roman durchziehen wird. Nicole hat auf dem Heimweg durch die Straßen New Yorks die Empfindung, "dass die Zeit schneller geworden und ich auf meinem Weg nach Hause irgendwie zurückgeblieben sei". Einher geht das mit Gedankenspielen über Parallelwelten und die Frage, ob alles so kommen musste, wie es gekommen ist, kurz: ob es, im Sinne Dantes, so etwas wie den rechten Weg gibt, von dem man irgendwann einmal abgekommen ist und nun erst, in Waldes Dunkel, diese Verirrung bemerkt. Oder ob es, eben angesichts der Vielzahl möglicher Welten, müßig ist, an der Vorstellung des rechten Weges festzuhalten.
Gespiegelt wird dies in der Gestalt des knapp dreißig Jahre älteren Epstein, der von außen gesehen und - sehr viel stärker als Nicole - über seine Aktionen charakterisiert wird, über das, was ihm zustößt: er wird überfallen und beraubt, sein Mantel kommt ihm abhanden, schließlich hat er für einen Moment nicht einmal mehr Zutritt in die eigene Wohnung, und natürlich sollen all diese Angriffe auf die Integrität seiner Person den Prozess befördern, in dem er sich längst befindet. Der Mann, von dem es heißt, dass er zuvor "nie eine Antwort schuldig" geblieben war, verfällt nun oft in ein irritierendes Schweigen. Er, der sich "allmählich von all diesen Dingen um ihn erstickt fühlte", befreit sich vom materiellen Besitz, und irgendwann "spürte er den Flügelschlag der Klarheit über sich. Er wollte sich nicht sicher sein", heißt es, und damit ist Epstein schon dicht an die Verfasstheit von Nicole gerückt.
Die 1974 geborene Autorin dieses Romans aus zwei zusammenwachsenden Strängen teilt mit der Protagonistin nicht nur den Vornamen, den Beruf und den Status als Berühmtheit des literarischen Betriebs, sie blickt auch wie die Protagonistin auf eine gescheiterte Ehe zurück - Krauss war mit dem Autor Jonathan Safran Foer verheiratet, der vor einiger Zeit ebenfalls einen Roman über die Trennung eines New Yorker Literatenpaares publizierte. Als Enthüllungsbuch aber wird man "Waldes Dunkel" kaum lesen können, nicht nur wegen der allgemeinen Diskretion, mit der diese Ehe geschildert wird, sondern vor allem wegen des unübersehbaren Zusammenhangs zwischen Nicole und Epstein, der den Anwalt mitunter wie eine zweite Möglichkeitsform der Schriftstellerin erscheinen lässt, was Krauss wiederum durch viele Details nährt: Zwei Paare im Prozess der Trennung, das eine hat sie vollzogen, das andere wird dies tun, zwei Menschen, die aus der Bahn geworfen sind oder sich aus der Bahn nehmen, zwei Erweckungserlebnisse in der Küche und viele Meeresmetaphern, um die angestrebte Entgrenzung auszudrücken. Manchmal ist das des Guten zu viel: "Aber wenn mein Schreiben als eine Art sinkendes Schiff erschien", schreibt sie, "war die weitere Umgebung - das Meer, in dem ich das Gefühl bekommen hatte, dass jedes Boot, mit dem ich zu segeln versuchte, schließlich untergehen würde - meine scheiternde Ehe." Und der Ehemann? "Auch er versank in seinem separaten Meer."
Epstein und Nicole also gehen verloren, wenigstens ihrem bisherigen Leben, und noch ein dritter Protagonist bricht mit allem, was ihn in den Augen der Welt ausmacht, sogar mit dem eigenen Tod. Nicoles Gang in die Wüste ist durch seine Geschichte motiviert: Ein israelischer Literaturwissenschaftler teilt sein Geheimwissen über Franz Kafka mit ihr; der Dichter hätte damals seinen Tod nur vorgetäuscht und sei heimlich nach Palästina ausgewandert, wo er seine Tuberkulose ausgeheilt und noch bis 1956 als Gärtner gelebt habe. "Verschwiegenheit war das oberste Gebot", sagt jener Wissenschaftler, nur Max Brod und einige wenige Freunde hätten davon gewusst. Und dann wird es fast niedlich: Kafka lebte in einem Kibbuz am Nordufer des Sees Genezareth, "die Kinder liebten ihn wegen der kleinen Puppen und Flugzeuge, die er ihnen aus Balsaholz bastelte, und wegen seines verschmitzten Humors. Als leidenschaftlicher Schwimmer badete er mindestens einmal in der Woche im See Genezareth und schwamm dort so weit hinaus, bis er für diejenigen am Ufer nur noch ein kleiner schwarzer Punkt war." All dies sind Berichte von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt, und Krauss legt Filter um Filter zwischen das Romangeschehen und die Leser. Oft gelingen ihr eindrucksvolle Bilder, die im Dienst einer Erzählung stehen, die der Sinnsuche der Protagonisten alle Aufmerksamkeit schenkt und einkalkuliert, dass die Außenwelt darüber verlorengeht.
Was man ihr aber hoch anrechnen möchte, ist die Bereitschaft, die Welt von Epstein und Nicole konsequent mit Zeichen und Wundern aufzuladen. Ein Grauwal sei im Mittelmeer aufgetaucht, heißt es etwa in der Nachrichtensendung, zum ersten Mal seit gut 250 Jahren, und kreise nun vor der israelischen Küste. Kein Anlass zur Freude: Ausgelöst durch den Klimawandel habe das in seiner Orientierung gestörte Wesen den falschen Weg durch die Weltmeere eingeschlagen, nach Süden eben, und sei inzwischen so abgemagert, dass es nicht mehr lange zu leben hätte. Es fällt nicht schwer, den Wal als vierten im Bunde der Verschollenen zu betrachten, als weiteren Spiegel. Und so gesehen gehören Nicoles Versuche, per Skype ihre Kinder über den Wal zu beruhigen und zugleich über ihre eigene Situation zu den schönsten und klügsten Passagen des Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
Nicole Krauss: "Waldes Dunkel". Roman.
Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 384 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Verschollene kehrt zurück und wird zum Kinderfreund: In ihrem Roman "Waldes Dunkel" schickt Nicole Krauss zwei Sinnsucher von New York nach Israel und lässt sie dort der Spur von Franz Kafka folgen.
Das Verschwinden des schwerreichen New Yorker Anwalts Jules Epstein in der Wüste bleibt ein Rätsel, allen Bemühungen zum Trotz, in die sich sogar die israelische Regierung einschaltet. Die nach Tel Aviv geeilten Kinder Epsteins, die im Hilton wohnen, erfahren im Zuge der Ermittlungen, dass ihr achtundsechzigjähriger Vater offenbar in einer schäbigen Absteige in Jaffa gehaust hat, eine Wunderlichkeit mehr im Leben des zunehmend wunderlich gewordenen Mannes. Zuvor hatte er plötzlich seine jahrzehntelange Ehe beendet, einen erheblichen Teil des angehäuften Besitzes einfach verschenkt und eine Reise nach Israel angetreten, auf die sich seine Familie ebenfalls keinen Reim machen kann.
Auch die Schriftstellerin Nicole fliegt nach Tel Aviv, um dort endlich einen Roman schreiben zu können, der mit dem Hilton Hotel zusammenhängt. Kindheitserinnerungen, die an das Haus geknüpft sind, erweisen sich eher als verwirrend als dass sie sich für den geplanten Roman nutzen ließen, und schließlich gerät sie in eine Geschichte, die sie wie Epstein in die Wüste führt, wo sie sich um ein Haar verliert. Schließlich landet sie, von Fieberschüben geschüttelt, in einem Krankenhaus - ein Traum, der sie dort heimsucht, deutet auf ihre Rückkehr nach New York voraus, auf eine neue Liebe. Er sei wahr geworden, berichtet die Erzählerin.
Zwei Geschichten erzählt Nicole Krauss in ihrem Roman "Waldes Dunkel". Die eine, die des Anwalts Epstein, wird auktorial erzählt, die andere von der Protagonistin Nicole selbst. Sie wechseln sich kapitelweise ab, sind also kompositorisch miteinander verschränkt, laufen aber sonst nebeneinander her. Geradezu überdeutlich aber berührt sich, was sich über die Motive des jeweiligen Aufbruchs nach Israel sagen lässt, und der Titel "Waldes Dunkel", entlehnt aus Dantes "Göttlicher Komödie", stimmt ebenfalls darauf ein: "Ich fand auf unseres Lebensweges Mitte / in eines Waldes Dunkel mich verschlagen, / weil sich vom rechten Pfad verirrt die Schritte", heißt es dort.
Wie sich dieser Befund auf Nicoles Situation anwenden lässt, erschließt sich rasch: Als Autorin ist sie offenbar berühmt und erfolgreich genug, um in den Zeitungen aufzutauchen, jetzt aber ringt sie mit einer Krise, die sie monatelang daran hindert, irgendein Projekt auszuführen. Und als Ehefrau und Mutter von zwei Kindern muss sie sich eingestehen, dass sie sich weit von ihrem Mann entfernt hat. Das hat offenbar viel mit dem Alltag einer zehn Jahre währenden Ehe zu tun, vielleicht noch mehr aber mit Nicoles immer stärkerem Bewusstsein dafür, dass sich ihre skeptische Perspektive von der ihres "dem Wissen nachjagenden" Gatten fundamental unterscheidet: "Für meinen Mann war die Welt immer das, was sie zu sein schien, und für mich war sie es nie."
Einen Ausdruck findet das in einer geradezu als Initiation wirkenden Erfahrung: die Ungleichzeitigkeit von Welt und Erleben, die doppelgängerhafte Aufspaltung der eigenen Person, deren Nachhall dann den Roman durchziehen wird. Nicole hat auf dem Heimweg durch die Straßen New Yorks die Empfindung, "dass die Zeit schneller geworden und ich auf meinem Weg nach Hause irgendwie zurückgeblieben sei". Einher geht das mit Gedankenspielen über Parallelwelten und die Frage, ob alles so kommen musste, wie es gekommen ist, kurz: ob es, im Sinne Dantes, so etwas wie den rechten Weg gibt, von dem man irgendwann einmal abgekommen ist und nun erst, in Waldes Dunkel, diese Verirrung bemerkt. Oder ob es, eben angesichts der Vielzahl möglicher Welten, müßig ist, an der Vorstellung des rechten Weges festzuhalten.
Gespiegelt wird dies in der Gestalt des knapp dreißig Jahre älteren Epstein, der von außen gesehen und - sehr viel stärker als Nicole - über seine Aktionen charakterisiert wird, über das, was ihm zustößt: er wird überfallen und beraubt, sein Mantel kommt ihm abhanden, schließlich hat er für einen Moment nicht einmal mehr Zutritt in die eigene Wohnung, und natürlich sollen all diese Angriffe auf die Integrität seiner Person den Prozess befördern, in dem er sich längst befindet. Der Mann, von dem es heißt, dass er zuvor "nie eine Antwort schuldig" geblieben war, verfällt nun oft in ein irritierendes Schweigen. Er, der sich "allmählich von all diesen Dingen um ihn erstickt fühlte", befreit sich vom materiellen Besitz, und irgendwann "spürte er den Flügelschlag der Klarheit über sich. Er wollte sich nicht sicher sein", heißt es, und damit ist Epstein schon dicht an die Verfasstheit von Nicole gerückt.
Die 1974 geborene Autorin dieses Romans aus zwei zusammenwachsenden Strängen teilt mit der Protagonistin nicht nur den Vornamen, den Beruf und den Status als Berühmtheit des literarischen Betriebs, sie blickt auch wie die Protagonistin auf eine gescheiterte Ehe zurück - Krauss war mit dem Autor Jonathan Safran Foer verheiratet, der vor einiger Zeit ebenfalls einen Roman über die Trennung eines New Yorker Literatenpaares publizierte. Als Enthüllungsbuch aber wird man "Waldes Dunkel" kaum lesen können, nicht nur wegen der allgemeinen Diskretion, mit der diese Ehe geschildert wird, sondern vor allem wegen des unübersehbaren Zusammenhangs zwischen Nicole und Epstein, der den Anwalt mitunter wie eine zweite Möglichkeitsform der Schriftstellerin erscheinen lässt, was Krauss wiederum durch viele Details nährt: Zwei Paare im Prozess der Trennung, das eine hat sie vollzogen, das andere wird dies tun, zwei Menschen, die aus der Bahn geworfen sind oder sich aus der Bahn nehmen, zwei Erweckungserlebnisse in der Küche und viele Meeresmetaphern, um die angestrebte Entgrenzung auszudrücken. Manchmal ist das des Guten zu viel: "Aber wenn mein Schreiben als eine Art sinkendes Schiff erschien", schreibt sie, "war die weitere Umgebung - das Meer, in dem ich das Gefühl bekommen hatte, dass jedes Boot, mit dem ich zu segeln versuchte, schließlich untergehen würde - meine scheiternde Ehe." Und der Ehemann? "Auch er versank in seinem separaten Meer."
Epstein und Nicole also gehen verloren, wenigstens ihrem bisherigen Leben, und noch ein dritter Protagonist bricht mit allem, was ihn in den Augen der Welt ausmacht, sogar mit dem eigenen Tod. Nicoles Gang in die Wüste ist durch seine Geschichte motiviert: Ein israelischer Literaturwissenschaftler teilt sein Geheimwissen über Franz Kafka mit ihr; der Dichter hätte damals seinen Tod nur vorgetäuscht und sei heimlich nach Palästina ausgewandert, wo er seine Tuberkulose ausgeheilt und noch bis 1956 als Gärtner gelebt habe. "Verschwiegenheit war das oberste Gebot", sagt jener Wissenschaftler, nur Max Brod und einige wenige Freunde hätten davon gewusst. Und dann wird es fast niedlich: Kafka lebte in einem Kibbuz am Nordufer des Sees Genezareth, "die Kinder liebten ihn wegen der kleinen Puppen und Flugzeuge, die er ihnen aus Balsaholz bastelte, und wegen seines verschmitzten Humors. Als leidenschaftlicher Schwimmer badete er mindestens einmal in der Woche im See Genezareth und schwamm dort so weit hinaus, bis er für diejenigen am Ufer nur noch ein kleiner schwarzer Punkt war." All dies sind Berichte von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt, und Krauss legt Filter um Filter zwischen das Romangeschehen und die Leser. Oft gelingen ihr eindrucksvolle Bilder, die im Dienst einer Erzählung stehen, die der Sinnsuche der Protagonisten alle Aufmerksamkeit schenkt und einkalkuliert, dass die Außenwelt darüber verlorengeht.
Was man ihr aber hoch anrechnen möchte, ist die Bereitschaft, die Welt von Epstein und Nicole konsequent mit Zeichen und Wundern aufzuladen. Ein Grauwal sei im Mittelmeer aufgetaucht, heißt es etwa in der Nachrichtensendung, zum ersten Mal seit gut 250 Jahren, und kreise nun vor der israelischen Küste. Kein Anlass zur Freude: Ausgelöst durch den Klimawandel habe das in seiner Orientierung gestörte Wesen den falschen Weg durch die Weltmeere eingeschlagen, nach Süden eben, und sei inzwischen so abgemagert, dass es nicht mehr lange zu leben hätte. Es fällt nicht schwer, den Wal als vierten im Bunde der Verschollenen zu betrachten, als weiteren Spiegel. Und so gesehen gehören Nicoles Versuche, per Skype ihre Kinder über den Wal zu beruhigen und zugleich über ihre eigene Situation zu den schönsten und klügsten Passagen des Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
Nicole Krauss: "Waldes Dunkel". Roman.
Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 384 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main