Walker Evans (1903-75) was a great American artist photographing people and places in the United States in unforgettable ways. He is known for his work for the Farm Security Administration, addressing the Great Depression, but what he actually saw was the diversity of people and the damage of the long Civil War. In Walker Evans, renowned art historian Svetlana Alpers explores how Evans made his distinctive photographs. Delving into a lavish selection of Evans's work, Alpers uncovers rich parallels between his creative approach and those of numerous literary and cultural figures, locating Evans within the wide context of a truly international circle.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2021Wie die Gegenwart als Vergangenheit aussehen wird
In Bildern denken: Svetlana Alpers macht sich auf überzeugende Weise an die Lektüre der Fotografien von Walker Evans.
Ein Kreis scheint sich zu schließen. Die amerikanische Kunsthistorikerin Svetlana Alpers, die Anfang der achtziger Jahre in ihrem Buch "Kunst als Beschreibung" die holländische Malerei des siebzehnten Jahrhunderts als eine Art Vorläufer der Fotografie beschrieben hat, wendet sich nun Walker Evans zu, dessen Werk peu à peu zum visuellen Gedächtnis Amerikas des zwanzigsten Jahrhunderts wird. Der deutsche Kunsthistoriker und Kenner der Fotografie Wolfgang Kemp, der für Alpers' Buch seinerzeit ein Vorwort schrieb, hat nun die Übersetzung übernommen und ein Nachwort verfasst. Einiges von dem, was Alpers in der holländischen Malerei als charakteristisch ausmachte und wodurch sie diese von der italienischen Tradition schied, taucht nun abermals auf, so etwa das Fläche-Werden der Welt, die Vielgestaltigkeit der Ansichten und nicht zuletzt das Auge als Sammler.
Eine der programmatischen Entdeckungen von "Kunst als Beschreibung" war eine Bildform, die sich gegen die normativen Vorgaben der italienischen Kunst wandte und das Bild als etwas entdeckte, das "an die Stelle des Auges tritt und dadurch den Rahmen und unseren Standpunkt unbestimmt lässt". Es sind Bilder, die der Welt den Vortritt lassen.
Wenn nun Alpers fasziniert zu erkunden sucht, worin Walker Evans' besondere, ja für sie einzigartige Fähigkeit besteht, "ein Auge zu haben", dann hat das erneut etwas mit einem Blick zu tun, welcher der Welt den Vortritt lässt. Voraussetzung hierfür ist, dass der Fotograf den fotografischen Akt als einen des Verschwindens des Künstlers begreift. "Beobachte mich, ich werde jetzt verschwinden", rief Walker Evans einmal einer Freundin zu und brachte damit ein Grundprinzip seiner Haltung als Fotograf auf eine pointierte Formel. Alpers ist von ihr so angetan, dass sie diese gleich fünfmal in ihrem Buch zitiert - nicht aus Nachlässigkeit, sondern als Leitmotiv.
Eine zweite, von Alpers sogar noch einmal mehr zitierte Bemerkung von Evans, der über sich selbst in der dritten Person schreibt, variiert und präzisiert die erste: "Evans war und ist an dem Augenblick interessiert, den jegliche Gegenwart als Vergangenheit bieten wird." Man kann ihr Buch als eine Art Ausbuchstabieren dieser doppelten Selbstbeschreibung des Fotografen lesen. Evans hat gerade dadurch ein Auge, dass er in seinen Bildern nur als unpersönliche Präsenz in Erscheinung tritt. "Mit Distanziertheit bewaffnet", nimmt er die Welt auf und wird von seinen Gegenständen mehr gewählt, als dass er sie auswählen würde. Sein Sehen und seine Welt hatten sich in eine Bildebene zu verwandeln. Dafür nutzte er auch, wie Alpers überzeugend ausführt, die technischen Möglichkeiten der Kamera. Mit seinem 8 × 10-Blick schaut er auf die Welt - und verschwindet in ihr wie der chinesische Maler in der berühmten Legende.
In einem ersten langen Kapitel rekonstruiert Alpers Flaubert, Baudelaire und Atget als Evans' französische Ahnen. Alle drei sind auf unterschiedliche Weise Wahlverwandte: Flaubert durch den berühmten "style indirect libre", die freie indirekte Rede, die den Erzähler zugunsten eines Präsentierens des Erzählten zurücktreten lässt, Baudelaire durch sein zerstreutes Hinschauen, das unsichtbare Beobachten, und Atget schließlich durch seine besondere Art des Fotografierens. Dass es gerade zwei Schriftsteller sind, deren Stimmen den Resonanzraum seines Fotografierens bilden, kommt nicht von ungefähr, macht Alpers doch bei Evans den Anspruch, literarisch zu sein, als Grundzug seiner Arbeiten aus. Sie folgt dabei Clement Greenbergs Aufruf: "Lasst Fotografie literarisch sein."
In diesem Sinne versprechen Walker Evans' Fotografien immer eine Geschichte. Das Auge des Fotografen für Beziehungen zwischen den Dingen lässt eine Welt erscheinen und mit ihr eine Geschichte, die sich aus der Verknüpfung der dargestellten Elemente speist. Seine Welt erscheint auf berührende Weise seltsam und ist noch dazu in seinen Bildern nie abgeschlossen. Walker Evans' Fotografie ist mit der Welt nicht fertig und gerade dadurch mit ihr verbunden. Seine Bilder gilt es zu lesen und zu studieren wie ein Schriftstück, eine Urkunde oder ein Dokument. Alpers' Buch ist eine Art Fibel für eine solche Lektüre von Evans' Bildern, die ein alltägliches Amerika im Moment seines Verschwindens zeigen.
Svetlana Alpers kommentiert dabei mit der betonten Irritation einer Kunsthistorikerin die Tatsache, dass man bei Walker Evans niemals einen letztgültigen Abzug, ein fertiges Kunstwerk in Händen hält, sondern er immer und immer wieder seine Bilder, wie es heißt, "ediert". Darunter ist eine Art von Nachbearbeitung zu verstehen, die ein Negativ oder eine Serie von ihnen für unterschiedliche Bilder nutzt. Das Zurücktreten des Fotografen geht mit dem Fehlen eines definitiv fertiggestellten Bildes einher. Dadurch lässt sich auch keine Geschichte von Vorstudien und Skizzen eines Werks erzählen, sondern man wird auf die Praxis des Edierens verwiesen, auf eine Fotografie "in the making".
Zu den Schwächen des Buchs gehört, dass dieses Edieren nur am Rande an Bildbeispielen genauer ausgeführt und diskutiert wird. So bleibt das Konzept des "Edieren" sprachlich wie anschaulich etwas erratisch. Entscheidend ist jedoch, dass Alpers das Machen und nicht das Rezipieren von Fotografien in den Mittelpunkt stellt. Ihr Verdienst ist es, Evans' Fotografieren als ein Denken mit der Kamera lesbar zu machen, womit sie die Literatur zu Evans zwar nicht revolutioniert, aber abrundet. Bei ihr lässt sich dieses Denken in Bildern in einer ebenso pointierten wie subtilen Lektüre der verschiedenen, chronologisch vorgestellten Werkgruppen verfolgen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Aufnahmen auf Kuba von 1933, Evans' Arbeit für die Farm Security Administration sowie seinem Buch "American Photographs" von 1938, den Porträts in der U-Bahn und seinen diversen Beiträgen für die Zeitschrift Fortune aus den letzten Jahren seines Lebens.
"Starting from Scratch" lautete der Titel der Originalausgabe und versah Evans' Praxis des Fotografierens mit dem Rückenwind des Neuanfangs. Im Buch findet sich jenseits der Lektüren eine Folge von über hundertzwanzig seiner Aufnahmen, die auch in Bildern vor Augen führen, was es bedeutet, "ein Auge zu haben".
BERND STIEGLER
Svetlana Alpers: "Walker Evans". Leben und Kunst.
Aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Wolfgang Kemp. Schirmer/Mosel Verlag, München 2021. 416 S.,
Abb., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Bildern denken: Svetlana Alpers macht sich auf überzeugende Weise an die Lektüre der Fotografien von Walker Evans.
Ein Kreis scheint sich zu schließen. Die amerikanische Kunsthistorikerin Svetlana Alpers, die Anfang der achtziger Jahre in ihrem Buch "Kunst als Beschreibung" die holländische Malerei des siebzehnten Jahrhunderts als eine Art Vorläufer der Fotografie beschrieben hat, wendet sich nun Walker Evans zu, dessen Werk peu à peu zum visuellen Gedächtnis Amerikas des zwanzigsten Jahrhunderts wird. Der deutsche Kunsthistoriker und Kenner der Fotografie Wolfgang Kemp, der für Alpers' Buch seinerzeit ein Vorwort schrieb, hat nun die Übersetzung übernommen und ein Nachwort verfasst. Einiges von dem, was Alpers in der holländischen Malerei als charakteristisch ausmachte und wodurch sie diese von der italienischen Tradition schied, taucht nun abermals auf, so etwa das Fläche-Werden der Welt, die Vielgestaltigkeit der Ansichten und nicht zuletzt das Auge als Sammler.
Eine der programmatischen Entdeckungen von "Kunst als Beschreibung" war eine Bildform, die sich gegen die normativen Vorgaben der italienischen Kunst wandte und das Bild als etwas entdeckte, das "an die Stelle des Auges tritt und dadurch den Rahmen und unseren Standpunkt unbestimmt lässt". Es sind Bilder, die der Welt den Vortritt lassen.
Wenn nun Alpers fasziniert zu erkunden sucht, worin Walker Evans' besondere, ja für sie einzigartige Fähigkeit besteht, "ein Auge zu haben", dann hat das erneut etwas mit einem Blick zu tun, welcher der Welt den Vortritt lässt. Voraussetzung hierfür ist, dass der Fotograf den fotografischen Akt als einen des Verschwindens des Künstlers begreift. "Beobachte mich, ich werde jetzt verschwinden", rief Walker Evans einmal einer Freundin zu und brachte damit ein Grundprinzip seiner Haltung als Fotograf auf eine pointierte Formel. Alpers ist von ihr so angetan, dass sie diese gleich fünfmal in ihrem Buch zitiert - nicht aus Nachlässigkeit, sondern als Leitmotiv.
Eine zweite, von Alpers sogar noch einmal mehr zitierte Bemerkung von Evans, der über sich selbst in der dritten Person schreibt, variiert und präzisiert die erste: "Evans war und ist an dem Augenblick interessiert, den jegliche Gegenwart als Vergangenheit bieten wird." Man kann ihr Buch als eine Art Ausbuchstabieren dieser doppelten Selbstbeschreibung des Fotografen lesen. Evans hat gerade dadurch ein Auge, dass er in seinen Bildern nur als unpersönliche Präsenz in Erscheinung tritt. "Mit Distanziertheit bewaffnet", nimmt er die Welt auf und wird von seinen Gegenständen mehr gewählt, als dass er sie auswählen würde. Sein Sehen und seine Welt hatten sich in eine Bildebene zu verwandeln. Dafür nutzte er auch, wie Alpers überzeugend ausführt, die technischen Möglichkeiten der Kamera. Mit seinem 8 × 10-Blick schaut er auf die Welt - und verschwindet in ihr wie der chinesische Maler in der berühmten Legende.
In einem ersten langen Kapitel rekonstruiert Alpers Flaubert, Baudelaire und Atget als Evans' französische Ahnen. Alle drei sind auf unterschiedliche Weise Wahlverwandte: Flaubert durch den berühmten "style indirect libre", die freie indirekte Rede, die den Erzähler zugunsten eines Präsentierens des Erzählten zurücktreten lässt, Baudelaire durch sein zerstreutes Hinschauen, das unsichtbare Beobachten, und Atget schließlich durch seine besondere Art des Fotografierens. Dass es gerade zwei Schriftsteller sind, deren Stimmen den Resonanzraum seines Fotografierens bilden, kommt nicht von ungefähr, macht Alpers doch bei Evans den Anspruch, literarisch zu sein, als Grundzug seiner Arbeiten aus. Sie folgt dabei Clement Greenbergs Aufruf: "Lasst Fotografie literarisch sein."
In diesem Sinne versprechen Walker Evans' Fotografien immer eine Geschichte. Das Auge des Fotografen für Beziehungen zwischen den Dingen lässt eine Welt erscheinen und mit ihr eine Geschichte, die sich aus der Verknüpfung der dargestellten Elemente speist. Seine Welt erscheint auf berührende Weise seltsam und ist noch dazu in seinen Bildern nie abgeschlossen. Walker Evans' Fotografie ist mit der Welt nicht fertig und gerade dadurch mit ihr verbunden. Seine Bilder gilt es zu lesen und zu studieren wie ein Schriftstück, eine Urkunde oder ein Dokument. Alpers' Buch ist eine Art Fibel für eine solche Lektüre von Evans' Bildern, die ein alltägliches Amerika im Moment seines Verschwindens zeigen.
Svetlana Alpers kommentiert dabei mit der betonten Irritation einer Kunsthistorikerin die Tatsache, dass man bei Walker Evans niemals einen letztgültigen Abzug, ein fertiges Kunstwerk in Händen hält, sondern er immer und immer wieder seine Bilder, wie es heißt, "ediert". Darunter ist eine Art von Nachbearbeitung zu verstehen, die ein Negativ oder eine Serie von ihnen für unterschiedliche Bilder nutzt. Das Zurücktreten des Fotografen geht mit dem Fehlen eines definitiv fertiggestellten Bildes einher. Dadurch lässt sich auch keine Geschichte von Vorstudien und Skizzen eines Werks erzählen, sondern man wird auf die Praxis des Edierens verwiesen, auf eine Fotografie "in the making".
Zu den Schwächen des Buchs gehört, dass dieses Edieren nur am Rande an Bildbeispielen genauer ausgeführt und diskutiert wird. So bleibt das Konzept des "Edieren" sprachlich wie anschaulich etwas erratisch. Entscheidend ist jedoch, dass Alpers das Machen und nicht das Rezipieren von Fotografien in den Mittelpunkt stellt. Ihr Verdienst ist es, Evans' Fotografieren als ein Denken mit der Kamera lesbar zu machen, womit sie die Literatur zu Evans zwar nicht revolutioniert, aber abrundet. Bei ihr lässt sich dieses Denken in Bildern in einer ebenso pointierten wie subtilen Lektüre der verschiedenen, chronologisch vorgestellten Werkgruppen verfolgen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Aufnahmen auf Kuba von 1933, Evans' Arbeit für die Farm Security Administration sowie seinem Buch "American Photographs" von 1938, den Porträts in der U-Bahn und seinen diversen Beiträgen für die Zeitschrift Fortune aus den letzten Jahren seines Lebens.
"Starting from Scratch" lautete der Titel der Originalausgabe und versah Evans' Praxis des Fotografierens mit dem Rückenwind des Neuanfangs. Im Buch findet sich jenseits der Lektüren eine Folge von über hundertzwanzig seiner Aufnahmen, die auch in Bildern vor Augen führen, was es bedeutet, "ein Auge zu haben".
BERND STIEGLER
Svetlana Alpers: "Walker Evans". Leben und Kunst.
Aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Wolfgang Kemp. Schirmer/Mosel Verlag, München 2021. 416 S.,
Abb., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.04.2022Der Mann, der Amerika erfand
Svetlana Alpers über den Fotografen Walker Evans
Sicherlich waren Alfred Stieglitz und Paul Strand für die Entwicklung der Fotografie in den USA im frühen 20. Jahrhundert von großer Bedeutung. Aber niemand hat wohl so viel Einfluss auf nachfolgende (und heutige) Fotografen ausgeübt wie Walker Evans. Man kann Svetlana Alpers nur zustimmen, wenn sie schreibt, Evans, 1903 in Saint Louis, Missouri, geboren, habe Amerika überhaupt erst erfunden.
Stephen Shore, Garry Winogrand, Lee Friedlander, sie alle wandeln auf seinen Spuren, denn er ist es, der den Blick fürs Alltägliche, Gewöhnliche geschärft und überhaupt erst geöffnet hat: Auf die nassen Straßen, schiefen Häuser, staubigen Möbel, die man auf seinen Bildern sofort als uramerikanisch erkennt, auch wenn es anderswo auf der Welt ebenfalls Straßen, Häuser und Autos gibt. Ganz zu schweigen von den Farmersfamilien im Süden der USA und den Menschen in der New Yorker U-Bahn, die Evans porträtiert hat.
Es ist also grundsätzlich erst einmal zu begrüßen, wenn Walker Evans ein Buch gewidmet wird. Gute Bücher (oder Aufsätze) über Fotografie gibt es nicht viele, und so werden auch immer wieder dieselben zitiert: die von Walter Benjamin, Roland Barthes und Susan Sontag.
Die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers, deren „Walker Evans. America. Leben und Kunst“ nun in der Übersetzung von Wolfgang Kemp vorliegt, schafft neue Verbindungen, indem sie, die bisher nur über Malerei geschrieben hat, sich ausführlich der Beziehung von Walker Evans zu Gustave Flaubert und Charles Baudelaire widmet. Alpers bezeichnet Evans’ Fotografie als besonders „literarisch“. Es ist aber an Wolfgang Kemp, in seinem Nachwort zu erläutern, was sie damit eigentlich meint: „Narrativ“, also erzählerisch, seien die Fotografien, sie würden immer auch eine Geschichte transportieren.
In anderen Kapiteln ihres Buches, das weniger einer Biografie als einer Sammlung von Essays ähnelt, widmet sich Alpers Walker Evans’ Aufenthalt auf Kuba, seiner Art, Bilder nachzubearbeiten, seiner Zeit beim Magazin Fortune und seinem „Rückzug nach innen“.
Wer aber so weit und bis zum umfangreichen und hervorragend gedruckten Bildteil vordringen möchte, muss einige Mühen auf sich nehmen, und das liegt an der Übersetzung. Wolfgang Kemp ist Kunsthistoriker, Fotografie-Experte, hat schon das Vorwort zu Alpers’ 1985 auf Deutsch erschienenem Buch „Kunst als Beschreibung“ verfasst. Aber er ist, auch wenn er 2018 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa erhalten hat, kein Übersetzer. Sein deutscher Text bleibt teilweise bis zur Unverständlichkeit dem englischen Satzbau und der englischen Begrifflichkeit verhaftet. So heißt es, am Anfang von Walker Evans’ und James Agees „Let us now praise famous men“ stehe ein „rhapsodischer Ausguss. Er handelt von dem Wunsch, mit der Schwester des Mannes, bei dem sie lebten, ins Bett zu gehen“. Was um Himmels willen ist ein rhapsodischer Ausguss?
Auf derselben Seite liest man: „Agee konnte gut mit Menschen und eröffnete für Evans Zugänge mit der Kamera.“ Abgesehen davon, dass nichts in diesem Satz einem deutschen Satz ähnelt außer den einzelnen Wörtern, stimmt auch der Subjekt-Objekt-Bezug nicht. Schließlich ist Agee der Autor, nicht der Mann mit der Kamera.
Es finden sich auf jeder Seite solche Beispiele. So lässt sich die Qualität von Alpers’ Text nur eingeschränkt beurteilen, aber es überwiegt der Eindruck, hier bringe jemand lieber etwas auf trockene Begriffe, als das zu tun, was Walker Evans tat: die Augen aufmachen und zeigen, was man sieht.
TOBIAS LEHMKUHL
Besser wäre, das zu tun, was Evans
vorschlägt: Augen aufmachen
und zeigen, was man sieht
Walker Evans zeigt den "Salon in Muriel Drapers Wohnung", New York, 1934.
Foto: Heather Johnson; Walker Evans/Schirmer/Mosel
Svetlana Alpers:
Walker Evans. America. Leben und Werk. Aus dem Englischen von Wolfgang Kemp.
Schirmer/Mosel,
München 2021.
416 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Svetlana Alpers über den Fotografen Walker Evans
Sicherlich waren Alfred Stieglitz und Paul Strand für die Entwicklung der Fotografie in den USA im frühen 20. Jahrhundert von großer Bedeutung. Aber niemand hat wohl so viel Einfluss auf nachfolgende (und heutige) Fotografen ausgeübt wie Walker Evans. Man kann Svetlana Alpers nur zustimmen, wenn sie schreibt, Evans, 1903 in Saint Louis, Missouri, geboren, habe Amerika überhaupt erst erfunden.
Stephen Shore, Garry Winogrand, Lee Friedlander, sie alle wandeln auf seinen Spuren, denn er ist es, der den Blick fürs Alltägliche, Gewöhnliche geschärft und überhaupt erst geöffnet hat: Auf die nassen Straßen, schiefen Häuser, staubigen Möbel, die man auf seinen Bildern sofort als uramerikanisch erkennt, auch wenn es anderswo auf der Welt ebenfalls Straßen, Häuser und Autos gibt. Ganz zu schweigen von den Farmersfamilien im Süden der USA und den Menschen in der New Yorker U-Bahn, die Evans porträtiert hat.
Es ist also grundsätzlich erst einmal zu begrüßen, wenn Walker Evans ein Buch gewidmet wird. Gute Bücher (oder Aufsätze) über Fotografie gibt es nicht viele, und so werden auch immer wieder dieselben zitiert: die von Walter Benjamin, Roland Barthes und Susan Sontag.
Die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers, deren „Walker Evans. America. Leben und Kunst“ nun in der Übersetzung von Wolfgang Kemp vorliegt, schafft neue Verbindungen, indem sie, die bisher nur über Malerei geschrieben hat, sich ausführlich der Beziehung von Walker Evans zu Gustave Flaubert und Charles Baudelaire widmet. Alpers bezeichnet Evans’ Fotografie als besonders „literarisch“. Es ist aber an Wolfgang Kemp, in seinem Nachwort zu erläutern, was sie damit eigentlich meint: „Narrativ“, also erzählerisch, seien die Fotografien, sie würden immer auch eine Geschichte transportieren.
In anderen Kapiteln ihres Buches, das weniger einer Biografie als einer Sammlung von Essays ähnelt, widmet sich Alpers Walker Evans’ Aufenthalt auf Kuba, seiner Art, Bilder nachzubearbeiten, seiner Zeit beim Magazin Fortune und seinem „Rückzug nach innen“.
Wer aber so weit und bis zum umfangreichen und hervorragend gedruckten Bildteil vordringen möchte, muss einige Mühen auf sich nehmen, und das liegt an der Übersetzung. Wolfgang Kemp ist Kunsthistoriker, Fotografie-Experte, hat schon das Vorwort zu Alpers’ 1985 auf Deutsch erschienenem Buch „Kunst als Beschreibung“ verfasst. Aber er ist, auch wenn er 2018 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa erhalten hat, kein Übersetzer. Sein deutscher Text bleibt teilweise bis zur Unverständlichkeit dem englischen Satzbau und der englischen Begrifflichkeit verhaftet. So heißt es, am Anfang von Walker Evans’ und James Agees „Let us now praise famous men“ stehe ein „rhapsodischer Ausguss. Er handelt von dem Wunsch, mit der Schwester des Mannes, bei dem sie lebten, ins Bett zu gehen“. Was um Himmels willen ist ein rhapsodischer Ausguss?
Auf derselben Seite liest man: „Agee konnte gut mit Menschen und eröffnete für Evans Zugänge mit der Kamera.“ Abgesehen davon, dass nichts in diesem Satz einem deutschen Satz ähnelt außer den einzelnen Wörtern, stimmt auch der Subjekt-Objekt-Bezug nicht. Schließlich ist Agee der Autor, nicht der Mann mit der Kamera.
Es finden sich auf jeder Seite solche Beispiele. So lässt sich die Qualität von Alpers’ Text nur eingeschränkt beurteilen, aber es überwiegt der Eindruck, hier bringe jemand lieber etwas auf trockene Begriffe, als das zu tun, was Walker Evans tat: die Augen aufmachen und zeigen, was man sieht.
TOBIAS LEHMKUHL
Besser wäre, das zu tun, was Evans
vorschlägt: Augen aufmachen
und zeigen, was man sieht
Walker Evans zeigt den "Salon in Muriel Drapers Wohnung", New York, 1934.
Foto: Heather Johnson; Walker Evans/Schirmer/Mosel
Svetlana Alpers:
Walker Evans. America. Leben und Werk. Aus dem Englischen von Wolfgang Kemp.
Schirmer/Mosel,
München 2021.
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