" Ein junger Mann, 1903 im Mittleren Westen geboren und aus einer Mittelklassefamilie stammend, mit einem Hang zur Literatur und sprachlich begabt, ein Bewunderer Frankreichs, was Lebensart und Dichtung anbelangt, allen voran Flaubert und Baudelaire (aber auch Gide und Cendrars), dieser junge Mann kehrt nach einem Jahr in Frankreich (1926/27) nach New York zurück, freut sich in der Folgezeit, dass es die Reichen im Börsenkrach des Jahres 1929 hart trifft, greift zu einer Kamera und macht beinahe von den ersten Bildern an bemerkenswerte Photographien von der Welt, wie er sie sieht - und diese Welt ist die amerikanische."Mit diesen Worten beginnt Svetlana Alpers (geb. 1936), eine der angesehensten Kunsthistorikerinnen der USA, ihre große Studie zu Walker Evans (1903-1975). Ihr Berufsleben lang hat sie sich mit europäischer Malerei beschäftigt, um sich jetzt zum ersten Mal in ihrer Karriere mit einem Photographen und einem Amerikaner auseinanderzusetzen. Auslöser mag Evans' Hang zurLiteratur gewesen sein. Er wollte ursprünglich selbst Schriftsteller werden, sollte dann aber ein Werk schaffen, das als der bedeutendste Beitrag Amerikas zur Photographie des 20. Jahrhunderts gilt.Besondere Aufmerksamkeit widmet sie dem entscheidenden Jahr in Frankreich, Evans' literarischen Leitbildern Flaubert und Baudelaire und der dokumentarischen Poesie eines Eugène Atget, seines "größten photographischen Vorläufers", wie er selbst sagte. Die erste Auftragsarbeit und Evans' einzige Arbeit außerhalb der USA - die 31 Bilder für das Buch The Crime of Cuba und die über 400 Aufnahmen, die er 1933 in dem einen Monat auf Kuba macht - legt sein Lebensmotto der "subventionierten Freiheit" fest: bezahlt, aber mit größtmöglicher Unabhängigkeit zu reisen und zu photographieren. Amerika wird sein ausschließliches Thema: die Bergbaugebiete des Nordens, Läden und Hütten der Schwarzen in den Südstaaten, drei weiße Pächterfamilien in Alabama, die Tradition der Minstrel-Shows, der Bürgerkrieg und seine Spätfolgen, die Große Depression ... 1938 gipfelt diese Schaffensphase in American Photographs, der ersten Einzelausstellung, die das MoMA einem Photographen widmet. Sie wurde zu Walker Evans' "Visitenkarte" für eine letztlich abgesicherte Zukunft als Journalist, als Lehrender in Yale - und als Photograph, der sein Medium für das literarischste unter den bildenden Künsten hielt.Wolfgang Kemp (geb. 1946), Kunsthistoriker und Autor unseres Hauses seit den Anfängen des Verlags, hat Svetlana Alpers' Text übersetzt und ein Nachwort dazu verfasst.
Heike Behrend
Ethnologin
Der berühmte Fotograf Walker Evans liebte es, sich zu entziehen. Er verschwand unter dem schwarzen Tuch, das ihn und die Kamera bei der Aufnahme verhüllte. Er fotografierte Blinde oder Schlafende, die nicht zurückschauten und damit seine Präsenz hätten verraten können. Und er verstand sich als Chronist eines eher heruntergekommenen, verarmten Amerika, das im Verschwinden begriffen war, das heißt, er hielt fest, wie die Gegenwart als Vergangenheit aussehen würde. Tatsächlich versuchte er das Unmögliche: als Autor zu verschwinden: „I believe in staying out, the way Flaubert does in his writing.“ Das Wunderbare an Svetlana Alpers Buch „Walker Evans. Amerika. Leben und Kunst“ (Schirmer/Mosel, München 2021, 416 Seiten, 48 Euro) ist, dass sie in ihrem Schreiben über ihn seine epistemologische Position konterkariert. Sie kritisiert Evans’ Versuch zu verschwinden nicht, aber als Autorin tut sie das Gegenteil, macht sich stark, ist im Text sehr präsent; es gibt ein „Ich“, das nachdenkt, abwägt, zweifelt, und sogar die Leser adressiert. Und sie zeigt auf, wie sie zu ihren Folgerungen (über ihn und seine Fotos) kommen konnte.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ethnologin
Der berühmte Fotograf Walker Evans liebte es, sich zu entziehen. Er verschwand unter dem schwarzen Tuch, das ihn und die Kamera bei der Aufnahme verhüllte. Er fotografierte Blinde oder Schlafende, die nicht zurückschauten und damit seine Präsenz hätten verraten können. Und er verstand sich als Chronist eines eher heruntergekommenen, verarmten Amerika, das im Verschwinden begriffen war, das heißt, er hielt fest, wie die Gegenwart als Vergangenheit aussehen würde. Tatsächlich versuchte er das Unmögliche: als Autor zu verschwinden: „I believe in staying out, the way Flaubert does in his writing.“ Das Wunderbare an Svetlana Alpers Buch „Walker Evans. Amerika. Leben und Kunst“ (Schirmer/Mosel, München 2021, 416 Seiten, 48 Euro) ist, dass sie in ihrem Schreiben über ihn seine epistemologische Position konterkariert. Sie kritisiert Evans’ Versuch zu verschwinden nicht, aber als Autorin tut sie das Gegenteil, macht sich stark, ist im Text sehr präsent; es gibt ein „Ich“, das nachdenkt, abwägt, zweifelt, und sogar die Leser adressiert. Und sie zeigt auf, wie sie zu ihren Folgerungen (über ihn und seine Fotos) kommen konnte.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de