Der Botschaftsangestellte Siegmund Walker behauptet, er schreibe an einem Roman über das auslandsdeutsche Personal der kleinen tropischen Hauptstadt. Und schon ist der Teufel los: die einen wollen unbedingt im Roman auftauchen, die anderen haben Sorge um ihr mögliches Erscheinungsbild darin, und so rückt Siegmund Walker ins Zentrum einer Staatsaffäre.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.1996Der Schmunzelkater
Stephan Wackwitz löst Gleichungen Von Hans-Herbert Räkel
Walkers Gleichung wird den Lesern erst auf Seite 291 enthüllt, er selbst gleich von Anfang an: Der eher farblose Junggeselle mit dem Vornamen Siegmund ist als Referent einer Friedrich-Rückert-Stiftung ("deren Hauptmerkmal in der Abwesenheit jedes greifbaren Zwecks und scheinbar vollkommener Überflüssigkeit bestand") in Wirklichkeit Ghostwriter der deutschen Botschaft, die mit der mäzenatisch glänzenden, wenn auch etwas mafiosen Finanzaristokratie in der kleinen Hauptstadt einer ehemaligen deutschen Südseekolonie zum Segen beider Länder unter einer Decke steckt.
Bei einer Abendgesellschaft zu Ehren des "neudeutschmythologischen Großmeisters Anselm Kiefer" im Hause der ZDF-Korrespondentin Sabine Kammerstrand und ihres kunsttöpfernden Ehemanns Tobias begegnet Siegmund Walker endlich wieder jener Tochter des Zigarrenimperiums Hochstraß mit Namen Juliana, die er leidenschaftlich liebt. Obwohl er lediglich in essayistischen Genres nicht ganz ohne Erfolg tätig ist, läßt er sich im Gespräch mit seiner Angebeteten dazu hinreißen, von einem Roman zu erzählen, in dem er das intrikate Verhältnis von Kultur, Politik und Wirtschaft am Beispiel ebendieses Inselstaates darzustellen gedenke. Die Wirkung dieser Enthüllung ist märchenhaft: Die Gesellschaft wird ihn von nun an fürchten, und Juliana wird sich noch am selben Abend von ihm küssen lassen, um dann für knappe dreihundert Seiten Siegmunds Lebensziel zu verkörpern.
Da diese "deutsche Erzählung aus den Tropen" kein Schlüsselroman sein soll, wie uns der Autor in einem kleinen Nachwort etwas umständlich versichert, nicht einmal dort, wo reale Personen (und was für welche!) unter ihrem eigenen Namen auftreten, dürfen wir ihn vielleicht einen Schlüsselloch-Roman nennen, jedenfalls für Außenstehende, die weder in deutschen Botschaften und Konsulaten noch in Goethe-Instituten der großen weiten Welt zu Hause sind: Hier erfährt man etwas über den realen deutschen Kulturbetrieb und sein wie in einem Brennspiegel konzentriertes Abbild in den Außenposten deutscher Weltpräsenz. Nur was?
Die traumhafte Geschichte von der Entfaltung einer rein kulturell begründeten gesellschaftlichen Macht durch den von Luhmann und Novalis großzügig sponsorierten virtuellen Roman unseres Siegmund Walker, der so den Zusammenhang von Liebe, Kunst und Wirklichkeit erlebt, hängt freilich ganz und gar vom Konstrukt einer staatstragenden Mafia und eines mafiatragenden Staats ab: Walkers Gleichung geht nur für ihn selber auf; er weiß auch, daß sie nur kokett ist, aber welche Ströme von ironisch-tiefsinnigen Einsichten fließen daraus zuerst ihm warm und kalt über den Rücken und dann, für den Leser, in sein Notizheft.
Walker hat es freilich leichter als Stephan Wackwitz, denn er braucht seinen Roman nicht zu schreiben und bekommt zum Schluß eine Million dafür, daß er ihn nicht schreibt. Wie schön, daß die Gattung der allwissenden, ja allschaffenden Erzähler nach langem Winterschlaf zwischen den Deckseiten des Trivialromans posthibern wieder auferstanden ist und im rechten Moment universalpoetisch in Leipzig etwas Schreckliches geschehen lassen kann: Der zwecks Investitionen dort weilende Minister jener Tropeninsel wird von Jugendlichen mit Baseballschlägern zusammengeschlagen.
Zur Bereinigung der diplomatischen Krise und zum Beweis der deutschen Ausländerfreundlichkeit hat Siegmund Walker dank seiner soeben erkannten kulturellen Potenz den Schlüssel bereit: die "Multikulturelle Deutschtropische Kulturwoche"! Neben Heiner Müller, Jürgen Habermas, Hartmut von Hentig, Daniel Cohn-Bendit, Anselm Kiefer und vielen anderen wird als wesentliches Element der Partnerschaftspflege mit der lokalen Kulturszene auch "eine einheimische Rockgruppe an der "Schadensbegrenzung Leipzig" mitwirken.
Die Intelligenzbestie Song-my findet trotz ihres Liebreizes nicht so recht Eingang in Siegmunds Herz. Die koreanische Stipendiatin mit Göttinger Doktortitel, an "nichtlinearen Gleichungen mit mehreren imaginären Unbekannten arbeitend", findet unter der deutschen Verquastheit wirklich clean eigentlich nur eine Handvoll . . . und heute merkwürdigerweise: Heiner Müller und Stephan Hermlin. Und - Jürgen Habermas. Euer einziger umwerfend gut aussehender Großphilosoph." Als der dann erscheint, denkt Walker zuerst aufsässig: "Die ästhetische Apotheose des Versicherungsangestellten", aber dann ergreift ihn heiliger Schauder: "Wenigstens der lebt noch, dachte Walker."
Durchs Schlüsselloch dieses Romans gesehen, lebt auch Heiner Müller noch, aber unversehens ist sein Reden und das Reden über ihn zum etwas knirschenden Nachruf geworden. Jürgen Habermas wird dagegen in den Gedanken Siegmund Walkers eine Verehrung zuteil, die man weder dem blasierten Erzähler noch seinem an akuter Leseüberfütterung leidenden Helden zugetraut hätte: Wie Stephan Wackwitz behutsam riskiert, seinem mit einem ähnlichen Sprachfehler wie der intellektuelle Weltmann behafteten" Helden den Gedanken einzugeben, daß die Karriere des "mondänen Gelehrtenstars" auch ein "Sieg über die Sprachlosigkeit" gewesen sei, das ist bewundernswert: "Vielleicht hatte die Republik in der Stimme, die Walker nun vernahm, nach langem Gestörtsein und generationenalter Ausdruckshemmung endlich einen Ton getroffen, den die Welt verstand." So affirmativ wird die Erzählung nur noch bei Hilmar Hoffmann, dem auch so respektlose Bemerkungen erspart bleiben, wie sie Song-my über ihren geschätzten Großphilosophen ausplappert ("Daß er aus Gummersbach kommt, merkt man an dieser gewissen Zanksucht dann ja eben doch. Und daß sein Lebenswerk ohne auch nur einen Funken von Ironie auskommt . . ."). Wir würden uns nicht wundern, wenn dem Autor über das Gelingen dieses Kapitelschlusses, über so viel reine Positivität und das mächtige, wenn auch ephemere Eindringen seiner Erzählung in die Sphäre des Bildungsromans eine Träne ins Auge getreten sein sollte.
Aber das ist eine Ausnahme. Fast durchweg hat Wackwitz' Feder die Eigenschaft, die Ressourcen des Trivialromans artistisch zu potenzieren. Freilich könnte dieser und jener Satz auch bei Utta Danella stehen ("Die Strahlen der morgendlichen Tropensonne fielen auf den Kies der Auffahrt zur Residenz der deutschen Botschaft" oder "In den Sykomoren-Hainen der Hochstraß-Hazienda wiegte sich der Morgenwind"), geradezu genüßlich wird "die kleine tropische Hauptstadt" wohl ein dutzendmal genau so bezeichnet, Personen haben ihre stehenden Beiwörter (der "Goethe-Mann", der "adlige Altstalinist"), auch in aufregenden Situationen wird man sorgfältig über die Kleidung der Personen unterrichtet ("Sie hatte zu ihren pfannengroßen violetten Birkenstock-Reformschuhen heute enge und kurze schwarze Hosen gewählt" oder "Der Künstlertitan kombinierte ihn seinen cremefarbenen Leinenanzug zu Birkenstock-Sandalen und weißen Socken"), getrunken wird Uhlbacher, Korber Kopf, Stuttgarter Goldberg und dergleichen Snobistisches, in Sektgläsern ist immer nur der fiktionale Pommery und nicht ein einziges Mal ein realer Henkell Trocken.
Mit Händen und Füßen wehrt sich unser Autor dagegen, jenes Buch zu schreiben, das Walker nicht zustande bringt. Jener hatte erkannt, "daß sich das Absolute im Medium des Trivialen, in einer literarischen Klamotte, am reinsten darstellen könnte". Wackwitz balanciert am Rande dieses Abgrunds, scheinbar in Gefahr, daß seine Erzählung ins Triviale, das heißt also ins Absolute, in den "großen deutschen Auslandsdeutschenroman" abstürzen könnte.
Man kann sich nicht sicher sein (auch Stephan Wackwitz ist sich nicht ganz sicher, sonst hätte er im Nachwort nicht einen so artigen Diener gemacht und "um Verständnis und Verzeihung" gebeten), daß manche reale Zeitgenossen ihn trotz allem so lesen werden. Die dezidierte und lustvolle Übertreibung aller Stilklischees konzentriert das Interesse des Lesers auf diese Sprache, er bekommt wohl auch gelegentlich in stilistischen Streßsituationen eine Art Schmunzelkater, aber wenn die deutsche Erzählung aus den Tropen irgendwo fiktional ist, dann in dieser Sprache, die sich den letzten, aggressiven Zugriff auf die Dinge verkneift, indem sie den Dingen scheinbar freche Namen gibt. Vor dem Einbruch des Absoluten hat er dadurch seine Leser noch einmal bewahrt, obwohl er ein Buch geschrieben hat - also keine Klamotte!
Über Walkers Gleichung darf weiter nachgedacht werden, auch über das Problem, "wie sich kulturelles Kapital in ökonomisches und politisches Prestige umsetzt". Aber zum Trost für die Kulturarbeiter im Ausland sei angemerkt, daß hier anders als in Song-mys nichtlinearen Gleichungen mit mehreren imaginären Unbekannten doch eine nichtimaginäre Bekannte eine entscheidende Rolle spielt: Wohin immer sie sich versetzen lassen, die sogenannte heimische Kultur und die Leute, die in ihr leben, sind schon da und nicht nur die Auslandsdeutschen in der eigenen Soße, die sich in dieser Erzählung aus poetischen Gründen allzu breit machen. Darum besteht auch weiter der erfreuliche Verdacht, daß die deutsche sogenannte Kulturarbeit im Ausland der deutschen Kultur mindestens ebenso nützlich und vielleicht sogar nützlicher sein könnte als der fremden.
Stephan Wackwitz: "Walkers Gleichung". Eine deutsche Erzählung aus den Tropen. Steidl Verlag, Göttingen 1996. 256 S., geb., 28,- DM.
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Stephan Wackwitz löst Gleichungen Von Hans-Herbert Räkel
Walkers Gleichung wird den Lesern erst auf Seite 291 enthüllt, er selbst gleich von Anfang an: Der eher farblose Junggeselle mit dem Vornamen Siegmund ist als Referent einer Friedrich-Rückert-Stiftung ("deren Hauptmerkmal in der Abwesenheit jedes greifbaren Zwecks und scheinbar vollkommener Überflüssigkeit bestand") in Wirklichkeit Ghostwriter der deutschen Botschaft, die mit der mäzenatisch glänzenden, wenn auch etwas mafiosen Finanzaristokratie in der kleinen Hauptstadt einer ehemaligen deutschen Südseekolonie zum Segen beider Länder unter einer Decke steckt.
Bei einer Abendgesellschaft zu Ehren des "neudeutschmythologischen Großmeisters Anselm Kiefer" im Hause der ZDF-Korrespondentin Sabine Kammerstrand und ihres kunsttöpfernden Ehemanns Tobias begegnet Siegmund Walker endlich wieder jener Tochter des Zigarrenimperiums Hochstraß mit Namen Juliana, die er leidenschaftlich liebt. Obwohl er lediglich in essayistischen Genres nicht ganz ohne Erfolg tätig ist, läßt er sich im Gespräch mit seiner Angebeteten dazu hinreißen, von einem Roman zu erzählen, in dem er das intrikate Verhältnis von Kultur, Politik und Wirtschaft am Beispiel ebendieses Inselstaates darzustellen gedenke. Die Wirkung dieser Enthüllung ist märchenhaft: Die Gesellschaft wird ihn von nun an fürchten, und Juliana wird sich noch am selben Abend von ihm küssen lassen, um dann für knappe dreihundert Seiten Siegmunds Lebensziel zu verkörpern.
Da diese "deutsche Erzählung aus den Tropen" kein Schlüsselroman sein soll, wie uns der Autor in einem kleinen Nachwort etwas umständlich versichert, nicht einmal dort, wo reale Personen (und was für welche!) unter ihrem eigenen Namen auftreten, dürfen wir ihn vielleicht einen Schlüsselloch-Roman nennen, jedenfalls für Außenstehende, die weder in deutschen Botschaften und Konsulaten noch in Goethe-Instituten der großen weiten Welt zu Hause sind: Hier erfährt man etwas über den realen deutschen Kulturbetrieb und sein wie in einem Brennspiegel konzentriertes Abbild in den Außenposten deutscher Weltpräsenz. Nur was?
Die traumhafte Geschichte von der Entfaltung einer rein kulturell begründeten gesellschaftlichen Macht durch den von Luhmann und Novalis großzügig sponsorierten virtuellen Roman unseres Siegmund Walker, der so den Zusammenhang von Liebe, Kunst und Wirklichkeit erlebt, hängt freilich ganz und gar vom Konstrukt einer staatstragenden Mafia und eines mafiatragenden Staats ab: Walkers Gleichung geht nur für ihn selber auf; er weiß auch, daß sie nur kokett ist, aber welche Ströme von ironisch-tiefsinnigen Einsichten fließen daraus zuerst ihm warm und kalt über den Rücken und dann, für den Leser, in sein Notizheft.
Walker hat es freilich leichter als Stephan Wackwitz, denn er braucht seinen Roman nicht zu schreiben und bekommt zum Schluß eine Million dafür, daß er ihn nicht schreibt. Wie schön, daß die Gattung der allwissenden, ja allschaffenden Erzähler nach langem Winterschlaf zwischen den Deckseiten des Trivialromans posthibern wieder auferstanden ist und im rechten Moment universalpoetisch in Leipzig etwas Schreckliches geschehen lassen kann: Der zwecks Investitionen dort weilende Minister jener Tropeninsel wird von Jugendlichen mit Baseballschlägern zusammengeschlagen.
Zur Bereinigung der diplomatischen Krise und zum Beweis der deutschen Ausländerfreundlichkeit hat Siegmund Walker dank seiner soeben erkannten kulturellen Potenz den Schlüssel bereit: die "Multikulturelle Deutschtropische Kulturwoche"! Neben Heiner Müller, Jürgen Habermas, Hartmut von Hentig, Daniel Cohn-Bendit, Anselm Kiefer und vielen anderen wird als wesentliches Element der Partnerschaftspflege mit der lokalen Kulturszene auch "eine einheimische Rockgruppe an der "Schadensbegrenzung Leipzig" mitwirken.
Die Intelligenzbestie Song-my findet trotz ihres Liebreizes nicht so recht Eingang in Siegmunds Herz. Die koreanische Stipendiatin mit Göttinger Doktortitel, an "nichtlinearen Gleichungen mit mehreren imaginären Unbekannten arbeitend", findet unter der deutschen Verquastheit wirklich clean eigentlich nur eine Handvoll . . . und heute merkwürdigerweise: Heiner Müller und Stephan Hermlin. Und - Jürgen Habermas. Euer einziger umwerfend gut aussehender Großphilosoph." Als der dann erscheint, denkt Walker zuerst aufsässig: "Die ästhetische Apotheose des Versicherungsangestellten", aber dann ergreift ihn heiliger Schauder: "Wenigstens der lebt noch, dachte Walker."
Durchs Schlüsselloch dieses Romans gesehen, lebt auch Heiner Müller noch, aber unversehens ist sein Reden und das Reden über ihn zum etwas knirschenden Nachruf geworden. Jürgen Habermas wird dagegen in den Gedanken Siegmund Walkers eine Verehrung zuteil, die man weder dem blasierten Erzähler noch seinem an akuter Leseüberfütterung leidenden Helden zugetraut hätte: Wie Stephan Wackwitz behutsam riskiert, seinem mit einem ähnlichen Sprachfehler wie der intellektuelle Weltmann behafteten" Helden den Gedanken einzugeben, daß die Karriere des "mondänen Gelehrtenstars" auch ein "Sieg über die Sprachlosigkeit" gewesen sei, das ist bewundernswert: "Vielleicht hatte die Republik in der Stimme, die Walker nun vernahm, nach langem Gestörtsein und generationenalter Ausdruckshemmung endlich einen Ton getroffen, den die Welt verstand." So affirmativ wird die Erzählung nur noch bei Hilmar Hoffmann, dem auch so respektlose Bemerkungen erspart bleiben, wie sie Song-my über ihren geschätzten Großphilosophen ausplappert ("Daß er aus Gummersbach kommt, merkt man an dieser gewissen Zanksucht dann ja eben doch. Und daß sein Lebenswerk ohne auch nur einen Funken von Ironie auskommt . . ."). Wir würden uns nicht wundern, wenn dem Autor über das Gelingen dieses Kapitelschlusses, über so viel reine Positivität und das mächtige, wenn auch ephemere Eindringen seiner Erzählung in die Sphäre des Bildungsromans eine Träne ins Auge getreten sein sollte.
Aber das ist eine Ausnahme. Fast durchweg hat Wackwitz' Feder die Eigenschaft, die Ressourcen des Trivialromans artistisch zu potenzieren. Freilich könnte dieser und jener Satz auch bei Utta Danella stehen ("Die Strahlen der morgendlichen Tropensonne fielen auf den Kies der Auffahrt zur Residenz der deutschen Botschaft" oder "In den Sykomoren-Hainen der Hochstraß-Hazienda wiegte sich der Morgenwind"), geradezu genüßlich wird "die kleine tropische Hauptstadt" wohl ein dutzendmal genau so bezeichnet, Personen haben ihre stehenden Beiwörter (der "Goethe-Mann", der "adlige Altstalinist"), auch in aufregenden Situationen wird man sorgfältig über die Kleidung der Personen unterrichtet ("Sie hatte zu ihren pfannengroßen violetten Birkenstock-Reformschuhen heute enge und kurze schwarze Hosen gewählt" oder "Der Künstlertitan kombinierte ihn seinen cremefarbenen Leinenanzug zu Birkenstock-Sandalen und weißen Socken"), getrunken wird Uhlbacher, Korber Kopf, Stuttgarter Goldberg und dergleichen Snobistisches, in Sektgläsern ist immer nur der fiktionale Pommery und nicht ein einziges Mal ein realer Henkell Trocken.
Mit Händen und Füßen wehrt sich unser Autor dagegen, jenes Buch zu schreiben, das Walker nicht zustande bringt. Jener hatte erkannt, "daß sich das Absolute im Medium des Trivialen, in einer literarischen Klamotte, am reinsten darstellen könnte". Wackwitz balanciert am Rande dieses Abgrunds, scheinbar in Gefahr, daß seine Erzählung ins Triviale, das heißt also ins Absolute, in den "großen deutschen Auslandsdeutschenroman" abstürzen könnte.
Man kann sich nicht sicher sein (auch Stephan Wackwitz ist sich nicht ganz sicher, sonst hätte er im Nachwort nicht einen so artigen Diener gemacht und "um Verständnis und Verzeihung" gebeten), daß manche reale Zeitgenossen ihn trotz allem so lesen werden. Die dezidierte und lustvolle Übertreibung aller Stilklischees konzentriert das Interesse des Lesers auf diese Sprache, er bekommt wohl auch gelegentlich in stilistischen Streßsituationen eine Art Schmunzelkater, aber wenn die deutsche Erzählung aus den Tropen irgendwo fiktional ist, dann in dieser Sprache, die sich den letzten, aggressiven Zugriff auf die Dinge verkneift, indem sie den Dingen scheinbar freche Namen gibt. Vor dem Einbruch des Absoluten hat er dadurch seine Leser noch einmal bewahrt, obwohl er ein Buch geschrieben hat - also keine Klamotte!
Über Walkers Gleichung darf weiter nachgedacht werden, auch über das Problem, "wie sich kulturelles Kapital in ökonomisches und politisches Prestige umsetzt". Aber zum Trost für die Kulturarbeiter im Ausland sei angemerkt, daß hier anders als in Song-mys nichtlinearen Gleichungen mit mehreren imaginären Unbekannten doch eine nichtimaginäre Bekannte eine entscheidende Rolle spielt: Wohin immer sie sich versetzen lassen, die sogenannte heimische Kultur und die Leute, die in ihr leben, sind schon da und nicht nur die Auslandsdeutschen in der eigenen Soße, die sich in dieser Erzählung aus poetischen Gründen allzu breit machen. Darum besteht auch weiter der erfreuliche Verdacht, daß die deutsche sogenannte Kulturarbeit im Ausland der deutschen Kultur mindestens ebenso nützlich und vielleicht sogar nützlicher sein könnte als der fremden.
Stephan Wackwitz: "Walkers Gleichung". Eine deutsche Erzählung aus den Tropen. Steidl Verlag, Göttingen 1996. 256 S., geb., 28,- DM.
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