Frühjahr 1858: Ein Brief verlässt eine kleine Insel in den Molukken. Sein Ziel ist Südengland, sein Inhalt: ein Aufsatz über den Ursprung der Arten. Kaum ein Jahr später sorgt die Schrift für Aufsehen und wird bekannt als Theorie der Evolution. Doch nicht der Verfasser des Briefes, der Artensammler Alfred Russel Wallace, erntet den Ruhm dafür, sondern sein Empfänger, der Naturforscher Charles Darwin. Von Wallace bleibt lediglich eine nach ihm benannte Trennlinie der Arten im Malaiischen Archipel.Einhundertfünfzig Jahre später stößt der Museumsnachtwächter Albrecht Bromberg auf das Schicksal des vergessenen Wallace. Er begibt sich auf seine Spuren und je länger er mit Wallace unterwegs ist, desto mehr zweifelt Bromberg an, ob alles so bleiben muss, wie es ist. Er fasst einen Plan, der endlich denjenigen ins Licht rücken soll, der bisher im Dunkeln war, und erkennt: Geschichte wird nicht gemacht, sondern geschrieben.Mit seinem Debüt ist Anselm Oelze ein philosophischer Abenteuerroman gelungen, ein literarisches Denkmal für die Außenseiter des Lebens und der Geschichte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2019Vom Ursprung der Unarten
Anselm Oelze will Darwins Kollegen Alfred Russel Wallace als Entdecker der Evolutionstheorie rehabilitieren.
Auch in Wissenschaft und Literatur gilt das harte Gesetz der natürlichen Selektion: Nur die Stärksten, Wendigsten und am besten Angepassten überleben, nicht die zarten, selbstgenügsamen Naturen mit ihren Beiß- und Schreibhemmungen. Und wer zuerst kommt, mahlt zuerst. So gilt heute Newton und nicht Leibniz als Pionier der Infinitesimalrechnung, Tesla und nicht Ferraris als Genie des Zweiphasenwechselstroms, Darwin und nicht etwa sein Zeitgenosse Alfred Russel Wallace als Vater der Evolutionstheorie. Dabei kann man über das Erstgeburtsrecht durchaus streiten. 1858 schickte Wallace seinem verehrten Kollegen Darwin einen Aufsatz mit Beobachtungen und Gedanken zur natürlichen Zuchtwahl im Tierreich; ein Jahr später erschien Darwins "Ursprung der Arten". Darwin wurde weltberühmt, Wallace ist heute allenfalls noch Wissenschaftshistorikern bekannt als Entdecker der Wallace-Linie, die im Südpazifik die australische von der asiatischen Fauna trennt.
Darwin hat seinen jungen Kollegen durchaus gewürdigt, so wie Wallace umgekehrt nie schlecht über seinen Lehrmeister sprach. Aber es gab auch schon früh den bösen Verdacht, Darwin habe Wallace schamlos plagiiert, hintergangen oder jedenfalls um den verdienten Anteil am Ruhm betrogen. Ein solcher Fall von vergangenem Unrecht schreit nach den Gesetzen des Buchmarkts und der Opfer-Idealisierung heute nach postumer Wiedergutmachung, und so reiht sich jetzt auch ein junger deutscher Schriftsteller in die gar nicht so kleine Schar der angelsächsischen Wallace-Rächer ein: Anselm Oelze, 1986 in Erfurt geboren, derzeit noch Philosophiedozent in München, aber schon mit Ideen für drei oder vier Romane ausgerüstet.
In seinem Erzähldebüt lässt Oelze Wallace späte Gerechtigkeit widerfahren: Dass nur Darwin im kollektiven Gedächtnis überlebte, verdankt sich nicht dessen Genie oder auch Infamie, sondern Wallace' sympathischer Bescheidenheit und Schüchternheit. Zwei gelehrte Laien wollen den zu spät gekommenen Naturforscher mit einem "kleinen Schubs" rehabilitieren: Oelze mit seinem Roman und darin ein Wallace-Fan mit einem gefälschten Brief. "Selbstverständlich ist dies eine wahre Geschichte", heißt das Motto. Aber so einfach funktioniert verspätete Wahrheitskonstruktion nicht.
Oelzes Roman zerfällt in zwei nicht gerade innig verzahnte Hälften. Die eine erzählt, sichtlich auf den Spuren von Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt", das Leben und Streben eines verkannten Forschers aus dem 19. Jahrhundert: autodidaktische Studien, erste Forschungsreisen ins Amazonasgebiet, herbe Rückschläge (auf der Rückfahrt von Brasilien verlor Wallace durch einen Schiffsbrand fast alle 25 000 Objekte, die er in vierjähriger Arbeit gesammelt, erforscht und beschrieben hatte), neue Expeditionen, kleine Abenteuer und Anfechtungen in den traurigen Tropen. Oelze schmückt seine brav nacherzählte Wallace-Biographie mit Joseph-Conrad-Atmosphäre, etwas zu vielen Adjektiven (der paddelnde Indianer, der dösende Molukke, "der malaiische Maat in seiner ockergelben Puffhose") und Kapitelüberschriften wie aus einem barocken Schelmenroman ("Worin der junge Bärtige in Amazonien einen Sandfloh aus seinem Fuß entfernt, ein Krokodil verspeist, auf Eingeborene trifft und sich im Urwald verläuft"). Auf die Dauer nervt dieser altväterlich-neckische Tonfall mit seinen verschnörkelten Satzgirlanden und seinen Kaskaden nutzlosen Wissens über Primzahlen und Zikaden, die Geschichte der Kartenprojektionen oder die Erfindung des Gin Tonic. Oelzes Marotte, Wallace immer nur als "der junge Bärtige" auftreten zu lassen, soll vielleicht den Gegensatz zu dem vierzehn Jahre älteren, backenbärtigen Darwin herausarbeiten.
Der Autor scheint selbst gespürt zu haben, dass seinem Helden eine bartlose "Schattenfigur" guttäte - und so stellt er ihm in der Gegenwart einen ebenso weltfremden, ehrgeiz- und glücklosen Bücherschrat zur Seite: Albrecht Bromberg, Museumsnachtwächter, Pfeifenraucher und Mitglied der Elias-Birnstiel-Gesellschaft, einer Stammtischrunde alter Besserwisser und Antiquare. Bromberg stolpert im "Museum des Verworfenen" zufällig über Wallace und vergräbt sich immer tiefer in dessen Lebensgeschichte. Sein Plan, Wallace "eine postume Nachhilfe in Sachen Glück" zu gewähren, stößt freilich auf Unverständnis. Selbst Brombergs alter Jugendfreund plädiert als erfolgreicher Banker naturgemäß dafür, der Evolution nicht ins Handwerk zu pfuschen. "Die Geschichte ist geschehen, und ich fürchte, sie ist so zu akzeptieren, wie sie geschehen ist": Was sich in der Natur bewährt, überlebt und pflanzt sich fort; was zu schwach ist, wird zu Recht ausgemerzt.
Bromberg will sich mit diesem zynischen Fatalismus nicht zufriedengeben und durch einen gefälschten Brief Darwin nachträglich moralisch und wissenschaftlich ins Unrecht setzen. Oelze macht daraus eine Art "Schtonk"-Klamotte in der scientific community und verschenkt damit nicht nur das komische Potential, sondern auch die Pointe der natürlichen Zuchtwahl durch Scheitern und Versagen. "Wallace" ist eine anekdotenselige Schnurre, aber weder eine wissenschaftshistorische Pioniertat noch ein erzählerisches Meisterwerk: Die Figuren bleiben flach und konturlos, die theoretischen Schlussfolgerungen banal. Die Geschichte der Evolution muss jedenfalls nicht neu geschrieben werden. Wie in der Natur, so entpuppen sich auch in der Literatur oft "berühmt-berüchtigte Knaller am Ende als armselige, kleine Böllerchen".
MARTIN HALTER
Anselm Oelze:
"Wallace". Roman.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019.
263 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anselm Oelze will Darwins Kollegen Alfred Russel Wallace als Entdecker der Evolutionstheorie rehabilitieren.
Auch in Wissenschaft und Literatur gilt das harte Gesetz der natürlichen Selektion: Nur die Stärksten, Wendigsten und am besten Angepassten überleben, nicht die zarten, selbstgenügsamen Naturen mit ihren Beiß- und Schreibhemmungen. Und wer zuerst kommt, mahlt zuerst. So gilt heute Newton und nicht Leibniz als Pionier der Infinitesimalrechnung, Tesla und nicht Ferraris als Genie des Zweiphasenwechselstroms, Darwin und nicht etwa sein Zeitgenosse Alfred Russel Wallace als Vater der Evolutionstheorie. Dabei kann man über das Erstgeburtsrecht durchaus streiten. 1858 schickte Wallace seinem verehrten Kollegen Darwin einen Aufsatz mit Beobachtungen und Gedanken zur natürlichen Zuchtwahl im Tierreich; ein Jahr später erschien Darwins "Ursprung der Arten". Darwin wurde weltberühmt, Wallace ist heute allenfalls noch Wissenschaftshistorikern bekannt als Entdecker der Wallace-Linie, die im Südpazifik die australische von der asiatischen Fauna trennt.
Darwin hat seinen jungen Kollegen durchaus gewürdigt, so wie Wallace umgekehrt nie schlecht über seinen Lehrmeister sprach. Aber es gab auch schon früh den bösen Verdacht, Darwin habe Wallace schamlos plagiiert, hintergangen oder jedenfalls um den verdienten Anteil am Ruhm betrogen. Ein solcher Fall von vergangenem Unrecht schreit nach den Gesetzen des Buchmarkts und der Opfer-Idealisierung heute nach postumer Wiedergutmachung, und so reiht sich jetzt auch ein junger deutscher Schriftsteller in die gar nicht so kleine Schar der angelsächsischen Wallace-Rächer ein: Anselm Oelze, 1986 in Erfurt geboren, derzeit noch Philosophiedozent in München, aber schon mit Ideen für drei oder vier Romane ausgerüstet.
In seinem Erzähldebüt lässt Oelze Wallace späte Gerechtigkeit widerfahren: Dass nur Darwin im kollektiven Gedächtnis überlebte, verdankt sich nicht dessen Genie oder auch Infamie, sondern Wallace' sympathischer Bescheidenheit und Schüchternheit. Zwei gelehrte Laien wollen den zu spät gekommenen Naturforscher mit einem "kleinen Schubs" rehabilitieren: Oelze mit seinem Roman und darin ein Wallace-Fan mit einem gefälschten Brief. "Selbstverständlich ist dies eine wahre Geschichte", heißt das Motto. Aber so einfach funktioniert verspätete Wahrheitskonstruktion nicht.
Oelzes Roman zerfällt in zwei nicht gerade innig verzahnte Hälften. Die eine erzählt, sichtlich auf den Spuren von Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt", das Leben und Streben eines verkannten Forschers aus dem 19. Jahrhundert: autodidaktische Studien, erste Forschungsreisen ins Amazonasgebiet, herbe Rückschläge (auf der Rückfahrt von Brasilien verlor Wallace durch einen Schiffsbrand fast alle 25 000 Objekte, die er in vierjähriger Arbeit gesammelt, erforscht und beschrieben hatte), neue Expeditionen, kleine Abenteuer und Anfechtungen in den traurigen Tropen. Oelze schmückt seine brav nacherzählte Wallace-Biographie mit Joseph-Conrad-Atmosphäre, etwas zu vielen Adjektiven (der paddelnde Indianer, der dösende Molukke, "der malaiische Maat in seiner ockergelben Puffhose") und Kapitelüberschriften wie aus einem barocken Schelmenroman ("Worin der junge Bärtige in Amazonien einen Sandfloh aus seinem Fuß entfernt, ein Krokodil verspeist, auf Eingeborene trifft und sich im Urwald verläuft"). Auf die Dauer nervt dieser altväterlich-neckische Tonfall mit seinen verschnörkelten Satzgirlanden und seinen Kaskaden nutzlosen Wissens über Primzahlen und Zikaden, die Geschichte der Kartenprojektionen oder die Erfindung des Gin Tonic. Oelzes Marotte, Wallace immer nur als "der junge Bärtige" auftreten zu lassen, soll vielleicht den Gegensatz zu dem vierzehn Jahre älteren, backenbärtigen Darwin herausarbeiten.
Der Autor scheint selbst gespürt zu haben, dass seinem Helden eine bartlose "Schattenfigur" guttäte - und so stellt er ihm in der Gegenwart einen ebenso weltfremden, ehrgeiz- und glücklosen Bücherschrat zur Seite: Albrecht Bromberg, Museumsnachtwächter, Pfeifenraucher und Mitglied der Elias-Birnstiel-Gesellschaft, einer Stammtischrunde alter Besserwisser und Antiquare. Bromberg stolpert im "Museum des Verworfenen" zufällig über Wallace und vergräbt sich immer tiefer in dessen Lebensgeschichte. Sein Plan, Wallace "eine postume Nachhilfe in Sachen Glück" zu gewähren, stößt freilich auf Unverständnis. Selbst Brombergs alter Jugendfreund plädiert als erfolgreicher Banker naturgemäß dafür, der Evolution nicht ins Handwerk zu pfuschen. "Die Geschichte ist geschehen, und ich fürchte, sie ist so zu akzeptieren, wie sie geschehen ist": Was sich in der Natur bewährt, überlebt und pflanzt sich fort; was zu schwach ist, wird zu Recht ausgemerzt.
Bromberg will sich mit diesem zynischen Fatalismus nicht zufriedengeben und durch einen gefälschten Brief Darwin nachträglich moralisch und wissenschaftlich ins Unrecht setzen. Oelze macht daraus eine Art "Schtonk"-Klamotte in der scientific community und verschenkt damit nicht nur das komische Potential, sondern auch die Pointe der natürlichen Zuchtwahl durch Scheitern und Versagen. "Wallace" ist eine anekdotenselige Schnurre, aber weder eine wissenschaftshistorische Pioniertat noch ein erzählerisches Meisterwerk: Die Figuren bleiben flach und konturlos, die theoretischen Schlussfolgerungen banal. Die Geschichte der Evolution muss jedenfalls nicht neu geschrieben werden. Wie in der Natur, so entpuppen sich auch in der Literatur oft "berühmt-berüchtigte Knaller am Ende als armselige, kleine Böllerchen".
MARTIN HALTER
Anselm Oelze:
"Wallace". Roman.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019.
263 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Eine fabulierstarke, spannende Spurensuche im Forschermilieu.«Ute Büsing, rbb Inforadio»Überaus lebendig geschilderte Szenen aus Wallaces Leben.«Andrej Klahn, Deutschlandfunk»Sehr satt, sehr farbenprächtig.«Bianca Schwarz, NDR»Ein kurzweiliger Einblick ins Kapitel Evolution.«Ellen Pomikalko, BuchMarkt»Eine hinreißende Meditation über Erfolg und das dafür notwendige Quäntchen Glück, und über die Fähigkeit, diesem Glück- zur Not - etwas nachzuhelfen.«Denis Scheck, Druckfrisch»Der Roman ist zweifelsohne ein literarisches Denkmal für die Außenseiter des Lebens und der Geschichte - aber es ist auch: spannend, witzig und verdammt gut geschrieben!«kulturnews»Der Kniff, zwischen Wallace und Bromberg, kapitelweise hin und her zu springen, macht aus Wallace mehr als einen historischen Roman. Er macht ihn akut zeitgenössisch.«Michael Helbing, Thüringer Allgemeine»Es ist eine Freude, der Fantasie des Autors zu folgen, der mit Liebe zum Detail die Zeitstränge zu einem liebenswerten, [...] hintergründig vergnüglichen Roman verkordelt.«Jens-Uwe Somemerschuh, Sächsische Zeitung»Oelze schildert das Historische so eloquent wie das Gegenwärtige seines mit zwei alternierenden Handlungssträngen aufwartenden Romans.«Connie Haag, ekz»Dieser Debütroman [...] erfreut mit feingestimmt-niveauvollem Sprachwerkzeug, geschmeidiger Dialog-Eloquenz, gedanklicher Komplexität und sehr atmosphärischen Szenerien.«Ulrike Sokul, Leselebenszeichen»Das Buch erzählt auf bezaubernd altmodische Weise. Ein großes Sprachfest, ein Buch für alle, die Christian Krachts Imperium mochten.«Marius Müller, Augsburger Allgemeine»Mit Wallace hat Oelze ein stilsicheres und spannendes Debüt vorgelegt, dem man die Lust am Abenteuer anmerkt.«Tino Dallmann, mdr Kulur»Er macht Geschichte möglich, indem er eine Geschichte erzählt. Schrullig, farbenprächtig, spannend.«Markus Kranz, Dresdner Kulturmagazin»Exquisite Tropenkoller führt Oelze da vor!«Gabriele Weingartner, Die Rheinpfalz»Oelze schreibt lebendig, farbig und eloquent.«Katharina Granzin, Frankfurter Rundschau»Anselm Oelze greift die Problematik des >Zweiter-Seins