Ein rasanter Großstadtroman - verfasst von einer leidenschaftlichen Erzählerin
Es ist der 30. April in Berlin, die Stadt bereitet sich auf die alljährlichen Krawalle in der Walpurgisnacht vor. Für Annja Kobe ist damit der Zeitpunkt gekommen, von der Polizei unbemerkt mit ihrem Vater umzuziehen, der seit zehn Jahren und fünf Monaten tiefgefroren in einer Kühltruhe liegt. Sie bittet Alex um Hilfe, einen Stadtstreicher, der Berlins Schlupflöcher so gut kennt wie kein anderer. Auf ihrer Tagesreise durch die Stadt kreuzen sie die Wege von Menschen, die wegen neuer Besitzverhältnisse die Wohnung wechseln müssen, Gas ablesen oder Taxi fahren, zur Schule gehen oder sie schwänzen, sich auf der Flucht vor der großstädtischen Einsamkeit in Blind Dates stürzen oder glauben, die Welt durch Aktionstheater verbessern zu können. All diese Lebensgeschichten verweben sich zu einem dichten Netz, das sich über die Stadt legt, sodass Berlin selbst zu einem der Protagonisten wird, seine Gegenwart wie Vergangenheit.
"Walpurgistag", der lang erwartete zweite Roman von Annett Gröschner, ist ein lebenskluges Buch, raffiniert strukturiert, temporeich, mit Lakonie und Witz erzählt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Es ist der 30. April in Berlin, die Stadt bereitet sich auf die alljährlichen Krawalle in der Walpurgisnacht vor. Für Annja Kobe ist damit der Zeitpunkt gekommen, von der Polizei unbemerkt mit ihrem Vater umzuziehen, der seit zehn Jahren und fünf Monaten tiefgefroren in einer Kühltruhe liegt. Sie bittet Alex um Hilfe, einen Stadtstreicher, der Berlins Schlupflöcher so gut kennt wie kein anderer. Auf ihrer Tagesreise durch die Stadt kreuzen sie die Wege von Menschen, die wegen neuer Besitzverhältnisse die Wohnung wechseln müssen, Gas ablesen oder Taxi fahren, zur Schule gehen oder sie schwänzen, sich auf der Flucht vor der großstädtischen Einsamkeit in Blind Dates stürzen oder glauben, die Welt durch Aktionstheater verbessern zu können. All diese Lebensgeschichten verweben sich zu einem dichten Netz, das sich über die Stadt legt, sodass Berlin selbst zu einem der Protagonisten wird, seine Gegenwart wie Vergangenheit.
"Walpurgistag", der lang erwartete zweite Roman von Annett Gröschner, ist ein lebenskluges Buch, raffiniert strukturiert, temporeich, mit Lakonie und Witz erzählt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.10.2011Der erste Mai ist schnell vorbei
Wenn die Weltzeituhr stehenbleibt: Annett Gröschners Berlin-Roman „Walpurgistag“
Frau Menzinger schaut täglich runter auf den Kollwitzplatz, und dabei gelegentlich auf ein Angeberkabriolett, das dem des Vermieters, der sie aus ihrer nahen Wohnung vertrieben hat, verblüffend ähnelt. Zusammen mit Frau Köhnke, die im selben Altersheim sitzt, tauscht sie Alt-Ostberliner Weisheiten aus. Die beiden sind natürlich nur obskure Randfiguren des Luxuskinderwagenschiebgeschehens unten, aber in Annett Gröschners neuem Roman „Walpurgistag“ werden sie zu raunzenden Königinnen des Prenzlauer Bergs. Wenn Frau Menzinger ihren Spitz laut „Stalin!“ ruft, schrecken all die Westler auf.
Je modischer Berlin wird, desto mehr beschäftigt es sich mit sich selbst. Obwohl der Ruf nach Berlin-Romanen allmählich leiser wird, erscheinen immer wieder neue, aber über jedem schwebt Döblins Schatten. So ist es recht mutig, dass Annett Gröschner ihren „Walpurgistag“ auf dem Alexanderplatz beginnt und den guten Geist des Buchs auch noch Alex nennt. Zweiter Bezugspunkt ist ein anderes Heiligtum der Berlin-Betrachtung: der Film „Himmel über Berlin“ von Wim Wenders. Indem Gröschner ihren Alex gleich auf der ersten Seite zwischen Moskau, Phnom Penh und weiteren Orten der Weltzeituhr schweifen lässt, macht sie ihn symbolisch zum sanften Geist, der über allen Berlinern schwebt.
Ganz ähnlich wie Wenders’ Engel Peter Falk, ist Alex damit nicht zufrieden: „Mich befällt der Wunsch, in das Zeitgefüge der Welt einzugreifen.“ Was nach Größenwahn klingt, aber den ironischen Hintergrund hat, dass Alex ein älterer Penner ist, der nichts anderes tut, als sich mit Rucksack in zentralen Berliner Vierteln rumzutreiben. Annett Gröschner schickt ihn, je nach erzählerischem Bedarf, nach Mitte, Neukölln oder Charlottenburg, wo er andere Figuren beobachtet oder ihnen zu Hilfe kommt.
Der dritte Berlin-Mythos, der hier die Hauptrolle spielt, ist der Erste Mai, dessen Geschichte Gröschner früher beginnt als üblich: um null Uhr des 30. April 2002. Das ist hier der Beginn des „Walpurgistags“.
Das Jahr ist wichtig, weil Gröschner vor beinahe zehn Jahren in Jürgen Kuttners Radiosendung dazu aufrief, zu erzählen, wie die Hörer genau diesen Tag erlebten. In gewisser Weise ist Gröschners damaliges „Projekt“, dessen Ergebnis jetzt erst vorliegt, also ein Vorläufer der bekannten 24-Stunden-Dokumentarsendung von arte und rbb, die das Großstadtleben vom 5. und 6. September 2008 durch viele ineinander geschnittene Geschichten veranschaulichen wollte, die unterschiedliche Menschen an einem Tag in Berlin erleben.
Kein kleiner Anspruch also, den Annett Gröschner, die 1964 in Magdeburg geboren wurde, aber seit 1983 in Berlin lebt, durch all diese an prominenter Stelle platzierten, zeithistorisch-künstlerischen Zitate für ihren zweiten Roman formuliert. Genauer betrachtet schränkt sie den Anspruch allerdings auch wieder ein. Es geht ihr, nicht explizit, aber durch die Auswahl der Figuren deutlich sichtbar, insgeheim gerade nicht um das neue Großberlin und seine vielen Fans, sondern um Leute, die bei der Berlin-Entwicklung auf der Strecke geblieben sind oder bleiben könnten.
Frau Menzinger, Frau Köhnke und Frau Schweickert, die gerade neu ins Altersheim kommt, sind durchaus typisch: die meisten wichtigen Figuren in „Walpurgistag“ sind Ostdeutsche, die meisten unter ihnen Frauen, keine ist reich. Insofern ist der „einfache Berliner“, von dem Gröschner gern spricht, präsent, aber doch nur ausschnittweise. Auch das „Berlin der Zukunft“, über das alle sprechen, interessiert sie kaum. Und wenn sie den Westen in ihre Romanwelt einbezieht, geht es meist nur nach Neukölln – das am 30. April 2002 noch in einem totenähnlichen Schlaf verharrte, der Ewigkeitswerte zu haben schien, wie einst die Mauer, also an einem anderen, aber vergleichbaren Rand stand.
Es gehört zur Logik der Berlin-Entwicklung und zur langen Entstehungszeit des Romans, dass das versifft-asoziale Neukölln von Wildenbruchstraße und Umgebung, das Viola Karstädt, Schauspielerin in einem Theaterprojekt, in dem die Mitspieler per „Schlafperformance“ bei fremden Leuten übernachten, gerade ebenso rasch zu verschwinden scheint, wie vor ein paar Jahren der alte Prenzlauer Berg auf einmal weg war. Sicher, noch findet man Figuren wie Melanie und Ulfi, die im Jogging-Anzug mit Ketchup-Flecken Boxen gucken, wenn sie bei Verwandten mit verwahrlosten Kindern zu Besuch sind, aber sie werden wohl dran denken müssen, ihre Koffer bald zu packen.
Eine der interessantesten und heikelsten Figuren ist zweifellos Alex. Einerseits lässt Gröschner ihre Annja Kobe mutmaßen, dieser seltsame Heilige sei ein ehemaliger Geheimdienst-Offizier, also heute ungern gesehen; andererseits deutet Annja wenig später an, dass Alex ihr einmal erzählt habe, er sei zwar ein „Romeo“ gewesen, ein West-Sekretärinnen-Verführer, aber noch zu Mauerzeiten abtrünnig, dann in Haft geraten – also heute für beide Seiten falsch.
Annja Kobe ist umso wichtiger zu nehmen, weil sie der autobiographisch angelegten Erzählerin von Annett Gröschners erstem Roman „Moskauer Eis“ bis hin zum Namen und ihrem Vater, einem Tiefkühlingenieur, entspricht. Nur, was die Figur wirklich bedeutet, bleibt noch immer ungeklärt. Auch diesmal wird die groteske Geschichte, in der sich Annja um den in einem Sarg eingefrorenen Vater kümmert, den sie von ihrer alten, illegalen Wohnung zur neuen transportieren soll, nicht zum Abschluss gebracht.
Was Alex angeht, handelt es sich wohl kaum um zeitgeistige Empfindlichkeit, wenn etwas undurchsichtige Figuren dieser Art kein großes Ansehen genießen, gerade bei von Verrat betroffenen Menschen aus dem Osten, doch wird man es Annett Gröschner abnehmen müssen, dass sie sich bei diesem Thema besser auskennt, als so mancher potentielle Kritiker. Gerade eben hat sie sich in der großen Berliner Ausstellung der Fotografien, die der DDR-Grenzschutz Mitte der Sechziger Jahre von seiner Seite her auf ganzer Mauerlänge schoss, am Beispiel der im Dienst ausgezeichneten Grenzsoldaten wieder mit dem Thema befasst.
Alex ist ein geradezu programmatisch doppelt beschriebenes Blatt, ein biegsamer Mephisto, der für den verführten Menschen stehen könnte, der am Ende unter beiden Regimes büßt. Andererseits wird von einer Frau erzählt, die in der DDR fleißig war – und als Einzige nach dem Mauerfall von der Uni übernommen wurde. Solche Zusammenhänge gehören zum interessantesten „Material“ des Romans.
Ansonsten lebt er von Witz und Berliner Lokalkolorit. Schnell, ohne viel Kalauer, immer wieder verblüffend, schwirren die Pfeile zwischen Annett Gröschners Figuren hin und her. Manchmal vielleicht mit etwas zu starkem Pointen-Vertrauen und absehbar in der Sympathieverteilung, aber oft lassen sich die Poesie literarischer Betrachtung und journalistisches Aktualitätsbedürfnis überraschend gut vereinbaren.
HANS-PETER KUNISCH
ANNETT GRÖSCHNER: Walpurgistag. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 481 Seiten. 21,99 Euro.
Wenn Frau Menzinger ihren
Spitz laut „Stalin!“ ruft,
schrecken alle Westler auf
Schnell, immer wieder
verblüffend schwirren die Pfeile
zwischen den Figuren hin und her
Der „einfache Berliner“ steht in Annett Gröschners neuem Roman „Walpurgistag“ eher am Rande als im Mittelpunkt. Der Roman widmet sich einer Berliner Vorabend-Serie: dem Vorabend des 1. Mai. Hier ein Punk am Abend des 30. April 2004 am Mauerpark in Berlin. Foto: Johannes Eisele/dapd
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wenn die Weltzeituhr stehenbleibt: Annett Gröschners Berlin-Roman „Walpurgistag“
Frau Menzinger schaut täglich runter auf den Kollwitzplatz, und dabei gelegentlich auf ein Angeberkabriolett, das dem des Vermieters, der sie aus ihrer nahen Wohnung vertrieben hat, verblüffend ähnelt. Zusammen mit Frau Köhnke, die im selben Altersheim sitzt, tauscht sie Alt-Ostberliner Weisheiten aus. Die beiden sind natürlich nur obskure Randfiguren des Luxuskinderwagenschiebgeschehens unten, aber in Annett Gröschners neuem Roman „Walpurgistag“ werden sie zu raunzenden Königinnen des Prenzlauer Bergs. Wenn Frau Menzinger ihren Spitz laut „Stalin!“ ruft, schrecken all die Westler auf.
Je modischer Berlin wird, desto mehr beschäftigt es sich mit sich selbst. Obwohl der Ruf nach Berlin-Romanen allmählich leiser wird, erscheinen immer wieder neue, aber über jedem schwebt Döblins Schatten. So ist es recht mutig, dass Annett Gröschner ihren „Walpurgistag“ auf dem Alexanderplatz beginnt und den guten Geist des Buchs auch noch Alex nennt. Zweiter Bezugspunkt ist ein anderes Heiligtum der Berlin-Betrachtung: der Film „Himmel über Berlin“ von Wim Wenders. Indem Gröschner ihren Alex gleich auf der ersten Seite zwischen Moskau, Phnom Penh und weiteren Orten der Weltzeituhr schweifen lässt, macht sie ihn symbolisch zum sanften Geist, der über allen Berlinern schwebt.
Ganz ähnlich wie Wenders’ Engel Peter Falk, ist Alex damit nicht zufrieden: „Mich befällt der Wunsch, in das Zeitgefüge der Welt einzugreifen.“ Was nach Größenwahn klingt, aber den ironischen Hintergrund hat, dass Alex ein älterer Penner ist, der nichts anderes tut, als sich mit Rucksack in zentralen Berliner Vierteln rumzutreiben. Annett Gröschner schickt ihn, je nach erzählerischem Bedarf, nach Mitte, Neukölln oder Charlottenburg, wo er andere Figuren beobachtet oder ihnen zu Hilfe kommt.
Der dritte Berlin-Mythos, der hier die Hauptrolle spielt, ist der Erste Mai, dessen Geschichte Gröschner früher beginnt als üblich: um null Uhr des 30. April 2002. Das ist hier der Beginn des „Walpurgistags“.
Das Jahr ist wichtig, weil Gröschner vor beinahe zehn Jahren in Jürgen Kuttners Radiosendung dazu aufrief, zu erzählen, wie die Hörer genau diesen Tag erlebten. In gewisser Weise ist Gröschners damaliges „Projekt“, dessen Ergebnis jetzt erst vorliegt, also ein Vorläufer der bekannten 24-Stunden-Dokumentarsendung von arte und rbb, die das Großstadtleben vom 5. und 6. September 2008 durch viele ineinander geschnittene Geschichten veranschaulichen wollte, die unterschiedliche Menschen an einem Tag in Berlin erleben.
Kein kleiner Anspruch also, den Annett Gröschner, die 1964 in Magdeburg geboren wurde, aber seit 1983 in Berlin lebt, durch all diese an prominenter Stelle platzierten, zeithistorisch-künstlerischen Zitate für ihren zweiten Roman formuliert. Genauer betrachtet schränkt sie den Anspruch allerdings auch wieder ein. Es geht ihr, nicht explizit, aber durch die Auswahl der Figuren deutlich sichtbar, insgeheim gerade nicht um das neue Großberlin und seine vielen Fans, sondern um Leute, die bei der Berlin-Entwicklung auf der Strecke geblieben sind oder bleiben könnten.
Frau Menzinger, Frau Köhnke und Frau Schweickert, die gerade neu ins Altersheim kommt, sind durchaus typisch: die meisten wichtigen Figuren in „Walpurgistag“ sind Ostdeutsche, die meisten unter ihnen Frauen, keine ist reich. Insofern ist der „einfache Berliner“, von dem Gröschner gern spricht, präsent, aber doch nur ausschnittweise. Auch das „Berlin der Zukunft“, über das alle sprechen, interessiert sie kaum. Und wenn sie den Westen in ihre Romanwelt einbezieht, geht es meist nur nach Neukölln – das am 30. April 2002 noch in einem totenähnlichen Schlaf verharrte, der Ewigkeitswerte zu haben schien, wie einst die Mauer, also an einem anderen, aber vergleichbaren Rand stand.
Es gehört zur Logik der Berlin-Entwicklung und zur langen Entstehungszeit des Romans, dass das versifft-asoziale Neukölln von Wildenbruchstraße und Umgebung, das Viola Karstädt, Schauspielerin in einem Theaterprojekt, in dem die Mitspieler per „Schlafperformance“ bei fremden Leuten übernachten, gerade ebenso rasch zu verschwinden scheint, wie vor ein paar Jahren der alte Prenzlauer Berg auf einmal weg war. Sicher, noch findet man Figuren wie Melanie und Ulfi, die im Jogging-Anzug mit Ketchup-Flecken Boxen gucken, wenn sie bei Verwandten mit verwahrlosten Kindern zu Besuch sind, aber sie werden wohl dran denken müssen, ihre Koffer bald zu packen.
Eine der interessantesten und heikelsten Figuren ist zweifellos Alex. Einerseits lässt Gröschner ihre Annja Kobe mutmaßen, dieser seltsame Heilige sei ein ehemaliger Geheimdienst-Offizier, also heute ungern gesehen; andererseits deutet Annja wenig später an, dass Alex ihr einmal erzählt habe, er sei zwar ein „Romeo“ gewesen, ein West-Sekretärinnen-Verführer, aber noch zu Mauerzeiten abtrünnig, dann in Haft geraten – also heute für beide Seiten falsch.
Annja Kobe ist umso wichtiger zu nehmen, weil sie der autobiographisch angelegten Erzählerin von Annett Gröschners erstem Roman „Moskauer Eis“ bis hin zum Namen und ihrem Vater, einem Tiefkühlingenieur, entspricht. Nur, was die Figur wirklich bedeutet, bleibt noch immer ungeklärt. Auch diesmal wird die groteske Geschichte, in der sich Annja um den in einem Sarg eingefrorenen Vater kümmert, den sie von ihrer alten, illegalen Wohnung zur neuen transportieren soll, nicht zum Abschluss gebracht.
Was Alex angeht, handelt es sich wohl kaum um zeitgeistige Empfindlichkeit, wenn etwas undurchsichtige Figuren dieser Art kein großes Ansehen genießen, gerade bei von Verrat betroffenen Menschen aus dem Osten, doch wird man es Annett Gröschner abnehmen müssen, dass sie sich bei diesem Thema besser auskennt, als so mancher potentielle Kritiker. Gerade eben hat sie sich in der großen Berliner Ausstellung der Fotografien, die der DDR-Grenzschutz Mitte der Sechziger Jahre von seiner Seite her auf ganzer Mauerlänge schoss, am Beispiel der im Dienst ausgezeichneten Grenzsoldaten wieder mit dem Thema befasst.
Alex ist ein geradezu programmatisch doppelt beschriebenes Blatt, ein biegsamer Mephisto, der für den verführten Menschen stehen könnte, der am Ende unter beiden Regimes büßt. Andererseits wird von einer Frau erzählt, die in der DDR fleißig war – und als Einzige nach dem Mauerfall von der Uni übernommen wurde. Solche Zusammenhänge gehören zum interessantesten „Material“ des Romans.
Ansonsten lebt er von Witz und Berliner Lokalkolorit. Schnell, ohne viel Kalauer, immer wieder verblüffend, schwirren die Pfeile zwischen Annett Gröschners Figuren hin und her. Manchmal vielleicht mit etwas zu starkem Pointen-Vertrauen und absehbar in der Sympathieverteilung, aber oft lassen sich die Poesie literarischer Betrachtung und journalistisches Aktualitätsbedürfnis überraschend gut vereinbaren.
HANS-PETER KUNISCH
ANNETT GRÖSCHNER: Walpurgistag. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 481 Seiten. 21,99 Euro.
Wenn Frau Menzinger ihren
Spitz laut „Stalin!“ ruft,
schrecken alle Westler auf
Schnell, immer wieder
verblüffend schwirren die Pfeile
zwischen den Figuren hin und her
Der „einfache Berliner“ steht in Annett Gröschners neuem Roman „Walpurgistag“ eher am Rande als im Mittelpunkt. Der Roman widmet sich einer Berliner Vorabend-Serie: dem Vorabend des 1. Mai. Hier ein Punk am Abend des 30. April 2004 am Mauerpark in Berlin. Foto: Johannes Eisele/dapd
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2012Der Blocksberg liegt am Kollwitzplatz
Sogar die Ratten werden vertrieben, weil man ihre angestammten Schlupflöcher renoviert. Hier ist er, der Roman zum Dauerstreitthema "Gentrifizierung".
Wem gehört die Stadt? Den "Ureinwohnern" oder den "Schwaben"? Hier die labbrige Latte-macchiato-Welt, dort urige Ostkneipen, wo die Damen am Schnaps nuckeln und aus rauhen Kehlen Schlachtrufe gegen das "neue Bürgertum" ertönen: "Bier und freie Liebe statt BMW und Dachjeschoss." Klar, wir sind in Berlin. Annett Gröschner ist unsere Stadtführerin. Elf Jahre nach "Moskauer Eis" hat die 1964 geborene Autorin ihren zweiten Roman vorgelegt. "Walpurgistag" schildert auf 430 Seiten einen einzigen Tag, den 30. April 2002, ein Mosaik aus 78 Kapiteln, Short Cuts. Zwei bis drei Dutzend Figuren werden durch die Stadt gescheucht, darunter ein Taxifahrer, ein Gasuhrenableser und eine Pizzabotin, die überwiegend alleinstehenden Männern Kalorien zuführt.
Die selbst vom sozialen Abstieg bedrohte Dramaturgin Viola Karstädt quartiert sich als Mitschläferin bei einer Neuköllner Familie ein - "Schlafperformance" in einer "theaterresistenten Gegend" nennt sich das Experiment. Aber die RTL-2-Familie, bei der Viola im verrauchten Wohnzimmer auf dem Sofa nächtigt, nimmt den Kunstcharakter der Sache gar nicht wahr und meint, einer wirklich bedauernswerten Frau geholfen zu haben. Fortgeschrieben wird auch die Geschichte von Annja Kobe aus "Moskauer Eis". Sie ist mitsamt ihrer Kühltruhe in den Untergrund gegangen, in der ihr Vater seit Jahren im Gefrierschlaf liegt, um einst in der gerechten Gesellschaft wieder zu erwachen. Annja aber wird des Vatermords verdächtigt. Als Illegale mit Kühltruhe zieht sie von einer Abbruchwohnung in die nächste - auf diesen buchstäblich nachgeschleppten Handlungsstrang hätte man aber lieber verzichtet.
Ein Walpurgisnacht-Roman kommt ohne Hexerei nicht aus. Ganz vorn dabei: drei Ost-Rentnerinnen vom Kollwitzplatz, Frau Köhnke, Frau Menzinger (mit Spitz Stalin) und Frau Schweickert, die gerade zwangsweise aus ihrer angestammten Wohnung in der Danziger Straße ausziehen musste. Die drei alten Damen vom Gentrifizierungsgrill sind scharfzüngige Beobachterinnen des Wandels im Kiez, und sie radikalisieren sich im Lauf des Tages, ihre Berliner Schnauze wird immer bissiger und derber, bis sie am Ende gar das Cabrio eines Hausbesitzers abfackeln.
Der Roman ist im Präsens geschrieben und folgt im Minutentakt dem Verlauf des Tages. Aber auch wenn die Menschen Gegenwart erleiden - ihr Leben besteht aus Vergangenheit. Da gibt es den philosophierenden Penner Alex, der immer überraschend zur Stelle ist, halb guter Geist, halb Mephisto. Einst aber will er Stasi-Offizier gewesen sein, als sogenannter "Romeo" zuständig für die Verführung von Nato-Sekretärinnen.
"Moskauer Eis - Der Geschmack des Ostens" lautete ein Slogan des Debütromans. Diesen Geschmack hat auch "Walpurgistag". Die meisten Figuren sind geprägt von ihrem DDR-Vorleben. Vom Westen Berlins werden Teile Kreuzbergs und Neuköllns einbezogen; da gibt es drei deutschtürkische Mädchen, die sich bemühen, eine Gören-Gang zu sein. Zweimal führt der Roman ins fernere Charlottenburg. Taxifahrer Hosch hat sich dort mit einer Unbekannten zum Sex verabredet, Treffpunkt: vor der Schaubühne. Aber die Unbekannte wartet im Osten vor dem Puppentheater "Schaubude" - eine charakteristische Pointe.
Der Exlehrer Micha Trepte, der inzwischen für die Gaswerke unterwegs ist, hat einmal in der Ku'damm-Gegend zu tun. Prächtige Fassaden, aber oft wenig dahinter: Eine zahlungsunfähige Psychotherapeutin, der er die Gaszufuhr abklemmen muss, engagiert ihn spontan für eine Familienaufstellung, bei der noch ein Vater fehlt. Im Praxisraum mehrere Frauen in merkwürdigen Positionen, wie "eine weibliche Laokoongruppe ohne Schlangen", und sie starren den neuen "Vater" sogleich hasserfüllt an. Das ist witzig beschrieben, hat aber auch Methode. "Bürgerlicher" Psychokram gehört in den Westen, immer noch.
Gröschners archäologischer Blick stört sich an den unergiebigen Fassaden neuer Imponierbauten, ruht dagegen mit Vorliebe auf dem bröckelnden Putz der Altbausubstanz, gern noch mit Einschusslöchern und Brandflecken. Manchmal hat man beim Lesen den Eindruck, der Zweite Weltkrieg sei erst kurz vor 1989 zu Ende gegangen, so präsent sind die Kriegserfahrungen: Wo brach eine Bombe durch die Decke, wo flog ein Seitenflügel in die Luft? Die in Pastellfarben leuchtenden Fassaden der sanierten Straßenzüge sind, so gesehen, nichts als Geschichtsverdrängung.
Selbst unscheinbare Alltagsgegenstände werden zu Zeugen des Jahrhunderts. Dingsymbol des Romans ist eine alte, orange Kaffeemaschine aus DDR-Produktion, die über Jahrzehnte von Hand zu Hand ging, von Ost nach West, von einer Küche in die andere, ein Vehikel von Geschichten und Kulturgeschichte, wenn man etwa erfährt, wie in der DDR Filtertüten aus Klopapier improvisiert wurden. Micha Trepte hat ein Madeleine-Erlebnis, als er in Rumänien eine ausgemusterte deutsche Straßenbahn fahren sieht, mit der Werbeaufschrift eines seit langem nicht mehr hergestellten Kräuterbonbons. Minutenlang starrt er der Bahn hinterher, "den Geschmack des Bonbons auf der Zunge".
Der archäologische Blick erkennt überall Abgründe der Geschichte und abgründige Geschichten. Dennoch wird er auf Dauer problematisch. Denn ein Roman braucht einen offenen Horizont: Erwartungen, Hoffnungen, Pläne, die dann durch die Mühle der Realität gedreht werden. Bei Gröschner aber ist Zukunft Mangelware. Es gibt keinen Aufbruch, sondern nur Abbruch. So hat der Roman, auch wenn er mit einer Figur namens Alex auf dem Alexanderplatz beginnt und auch sonst allerhand Anlehnung betreibt, nur wenig gemein mit dem dynamischen Döblin-Sound. "Berlin Alexanderplatz" war ein Lobgesang auf die brodelnde Metropole, ihr sinnverwirrendes Tempo, ihre permanente Veränderung und ihre wendigen, gewitzten Menschen. Gröschners Buch dagegen ist ein einziger, manchmal etwas muffiger Verliererblues.
Eine Kneipe wird überfallen, ein Rendezvous geht daneben, der bedauernswerte Paul Bülow, Sohn einer schnapssüchtigen, alleinerziehenden Künstlerin, irrt durch Berlin und Umgebung, eine Frau verliert vorübergehend Gedächtnis und Identität, einer anderen wird die Brieftasche gestohlen. Biographische Wendungen führen selten zum Besseren: "Das war schön, an der Kasse von Aldi. Ich kann heute noch die Preise auswendig. Aber dann wurde ich schwanger." Im "Torpedokäfer" sitzen die Zombies einstigen Ost-Rebellentums an der Theke. "Sterben wie die Fliegen, die Freaks hier in der Gegend." Tatsächlich war die bejubelte Wende für Hunderttausende der Startschuss zur finalen Verwahrlosung.
Nach Soap-Dramaturgie laufen sich die Hauptfiguren immer wieder über den Weg, als wäre man nicht in der Metropole, sondern in Gelsenkirchen. Am Ende kommen sie alle zusammen zum Showdown in der fröhlichen Walpurgis- und Randalenacht auf den 1. Mai - und das wirkt dann doch ziemlich zusammengeschraubt. Als Romangestalten können die Figuren nicht wirklich überzeugen; trotzdem ist "Walpurgistag" lesenswert als Doku-Fiktion, schon aufgrund der dichten Beschreibung von Berliner Alltagserfahrung und der Recherchetiefe. Gröschner hat scharfe Beobachtung und verblüffende Details zu bieten, wenn etwa eine Zigeunerin ihr Kind durch die Klappe eines Altkleidercontainers schiebt, das dann kurz darauf mit einem Sack voller Klamotten wieder herauskommt. So hinterlässt das zuletzt noch von Christa Wolf als "großer Wurf" gepriesene Buch trotz einiger Einwände tatsächlich mehr Eindruck als viele Romane, die man schnell liest und schnell wieder vergessen hat.
WOLFGANG SCHNEIDER
Annett Gröschner: "Walpurgistag". Roman.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 445 S., geb., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sogar die Ratten werden vertrieben, weil man ihre angestammten Schlupflöcher renoviert. Hier ist er, der Roman zum Dauerstreitthema "Gentrifizierung".
Wem gehört die Stadt? Den "Ureinwohnern" oder den "Schwaben"? Hier die labbrige Latte-macchiato-Welt, dort urige Ostkneipen, wo die Damen am Schnaps nuckeln und aus rauhen Kehlen Schlachtrufe gegen das "neue Bürgertum" ertönen: "Bier und freie Liebe statt BMW und Dachjeschoss." Klar, wir sind in Berlin. Annett Gröschner ist unsere Stadtführerin. Elf Jahre nach "Moskauer Eis" hat die 1964 geborene Autorin ihren zweiten Roman vorgelegt. "Walpurgistag" schildert auf 430 Seiten einen einzigen Tag, den 30. April 2002, ein Mosaik aus 78 Kapiteln, Short Cuts. Zwei bis drei Dutzend Figuren werden durch die Stadt gescheucht, darunter ein Taxifahrer, ein Gasuhrenableser und eine Pizzabotin, die überwiegend alleinstehenden Männern Kalorien zuführt.
Die selbst vom sozialen Abstieg bedrohte Dramaturgin Viola Karstädt quartiert sich als Mitschläferin bei einer Neuköllner Familie ein - "Schlafperformance" in einer "theaterresistenten Gegend" nennt sich das Experiment. Aber die RTL-2-Familie, bei der Viola im verrauchten Wohnzimmer auf dem Sofa nächtigt, nimmt den Kunstcharakter der Sache gar nicht wahr und meint, einer wirklich bedauernswerten Frau geholfen zu haben. Fortgeschrieben wird auch die Geschichte von Annja Kobe aus "Moskauer Eis". Sie ist mitsamt ihrer Kühltruhe in den Untergrund gegangen, in der ihr Vater seit Jahren im Gefrierschlaf liegt, um einst in der gerechten Gesellschaft wieder zu erwachen. Annja aber wird des Vatermords verdächtigt. Als Illegale mit Kühltruhe zieht sie von einer Abbruchwohnung in die nächste - auf diesen buchstäblich nachgeschleppten Handlungsstrang hätte man aber lieber verzichtet.
Ein Walpurgisnacht-Roman kommt ohne Hexerei nicht aus. Ganz vorn dabei: drei Ost-Rentnerinnen vom Kollwitzplatz, Frau Köhnke, Frau Menzinger (mit Spitz Stalin) und Frau Schweickert, die gerade zwangsweise aus ihrer angestammten Wohnung in der Danziger Straße ausziehen musste. Die drei alten Damen vom Gentrifizierungsgrill sind scharfzüngige Beobachterinnen des Wandels im Kiez, und sie radikalisieren sich im Lauf des Tages, ihre Berliner Schnauze wird immer bissiger und derber, bis sie am Ende gar das Cabrio eines Hausbesitzers abfackeln.
Der Roman ist im Präsens geschrieben und folgt im Minutentakt dem Verlauf des Tages. Aber auch wenn die Menschen Gegenwart erleiden - ihr Leben besteht aus Vergangenheit. Da gibt es den philosophierenden Penner Alex, der immer überraschend zur Stelle ist, halb guter Geist, halb Mephisto. Einst aber will er Stasi-Offizier gewesen sein, als sogenannter "Romeo" zuständig für die Verführung von Nato-Sekretärinnen.
"Moskauer Eis - Der Geschmack des Ostens" lautete ein Slogan des Debütromans. Diesen Geschmack hat auch "Walpurgistag". Die meisten Figuren sind geprägt von ihrem DDR-Vorleben. Vom Westen Berlins werden Teile Kreuzbergs und Neuköllns einbezogen; da gibt es drei deutschtürkische Mädchen, die sich bemühen, eine Gören-Gang zu sein. Zweimal führt der Roman ins fernere Charlottenburg. Taxifahrer Hosch hat sich dort mit einer Unbekannten zum Sex verabredet, Treffpunkt: vor der Schaubühne. Aber die Unbekannte wartet im Osten vor dem Puppentheater "Schaubude" - eine charakteristische Pointe.
Der Exlehrer Micha Trepte, der inzwischen für die Gaswerke unterwegs ist, hat einmal in der Ku'damm-Gegend zu tun. Prächtige Fassaden, aber oft wenig dahinter: Eine zahlungsunfähige Psychotherapeutin, der er die Gaszufuhr abklemmen muss, engagiert ihn spontan für eine Familienaufstellung, bei der noch ein Vater fehlt. Im Praxisraum mehrere Frauen in merkwürdigen Positionen, wie "eine weibliche Laokoongruppe ohne Schlangen", und sie starren den neuen "Vater" sogleich hasserfüllt an. Das ist witzig beschrieben, hat aber auch Methode. "Bürgerlicher" Psychokram gehört in den Westen, immer noch.
Gröschners archäologischer Blick stört sich an den unergiebigen Fassaden neuer Imponierbauten, ruht dagegen mit Vorliebe auf dem bröckelnden Putz der Altbausubstanz, gern noch mit Einschusslöchern und Brandflecken. Manchmal hat man beim Lesen den Eindruck, der Zweite Weltkrieg sei erst kurz vor 1989 zu Ende gegangen, so präsent sind die Kriegserfahrungen: Wo brach eine Bombe durch die Decke, wo flog ein Seitenflügel in die Luft? Die in Pastellfarben leuchtenden Fassaden der sanierten Straßenzüge sind, so gesehen, nichts als Geschichtsverdrängung.
Selbst unscheinbare Alltagsgegenstände werden zu Zeugen des Jahrhunderts. Dingsymbol des Romans ist eine alte, orange Kaffeemaschine aus DDR-Produktion, die über Jahrzehnte von Hand zu Hand ging, von Ost nach West, von einer Küche in die andere, ein Vehikel von Geschichten und Kulturgeschichte, wenn man etwa erfährt, wie in der DDR Filtertüten aus Klopapier improvisiert wurden. Micha Trepte hat ein Madeleine-Erlebnis, als er in Rumänien eine ausgemusterte deutsche Straßenbahn fahren sieht, mit der Werbeaufschrift eines seit langem nicht mehr hergestellten Kräuterbonbons. Minutenlang starrt er der Bahn hinterher, "den Geschmack des Bonbons auf der Zunge".
Der archäologische Blick erkennt überall Abgründe der Geschichte und abgründige Geschichten. Dennoch wird er auf Dauer problematisch. Denn ein Roman braucht einen offenen Horizont: Erwartungen, Hoffnungen, Pläne, die dann durch die Mühle der Realität gedreht werden. Bei Gröschner aber ist Zukunft Mangelware. Es gibt keinen Aufbruch, sondern nur Abbruch. So hat der Roman, auch wenn er mit einer Figur namens Alex auf dem Alexanderplatz beginnt und auch sonst allerhand Anlehnung betreibt, nur wenig gemein mit dem dynamischen Döblin-Sound. "Berlin Alexanderplatz" war ein Lobgesang auf die brodelnde Metropole, ihr sinnverwirrendes Tempo, ihre permanente Veränderung und ihre wendigen, gewitzten Menschen. Gröschners Buch dagegen ist ein einziger, manchmal etwas muffiger Verliererblues.
Eine Kneipe wird überfallen, ein Rendezvous geht daneben, der bedauernswerte Paul Bülow, Sohn einer schnapssüchtigen, alleinerziehenden Künstlerin, irrt durch Berlin und Umgebung, eine Frau verliert vorübergehend Gedächtnis und Identität, einer anderen wird die Brieftasche gestohlen. Biographische Wendungen führen selten zum Besseren: "Das war schön, an der Kasse von Aldi. Ich kann heute noch die Preise auswendig. Aber dann wurde ich schwanger." Im "Torpedokäfer" sitzen die Zombies einstigen Ost-Rebellentums an der Theke. "Sterben wie die Fliegen, die Freaks hier in der Gegend." Tatsächlich war die bejubelte Wende für Hunderttausende der Startschuss zur finalen Verwahrlosung.
Nach Soap-Dramaturgie laufen sich die Hauptfiguren immer wieder über den Weg, als wäre man nicht in der Metropole, sondern in Gelsenkirchen. Am Ende kommen sie alle zusammen zum Showdown in der fröhlichen Walpurgis- und Randalenacht auf den 1. Mai - und das wirkt dann doch ziemlich zusammengeschraubt. Als Romangestalten können die Figuren nicht wirklich überzeugen; trotzdem ist "Walpurgistag" lesenswert als Doku-Fiktion, schon aufgrund der dichten Beschreibung von Berliner Alltagserfahrung und der Recherchetiefe. Gröschner hat scharfe Beobachtung und verblüffende Details zu bieten, wenn etwa eine Zigeunerin ihr Kind durch die Klappe eines Altkleidercontainers schiebt, das dann kurz darauf mit einem Sack voller Klamotten wieder herauskommt. So hinterlässt das zuletzt noch von Christa Wolf als "großer Wurf" gepriesene Buch trotz einiger Einwände tatsächlich mehr Eindruck als viele Romane, die man schnell liest und schnell wieder vergessen hat.
WOLFGANG SCHNEIDER
Annett Gröschner: "Walpurgistag". Roman.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 445 S., geb., 21,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Annett Gröschners neuer Berlin-Roman "Walpurgistag" hat Rezensent Hans-Peter Kunisch wirklich überrascht. Denn der Autorin gelinge es auf bewundernswerte Weise gleich mehreren Ansprüchen gerecht zu werden: mit der Verbindung aus Poesie und "journalistischem Aktualitätsbedürfnis" hebe sich Gröschners Geschichte nicht nur von den zahlreichen Berlin-Romanen ab, sondern könne zugleich auch als Vorläufer der 24-Stunden-Dokumentarsendung, die das Berliner Großstadtleben eines Tages und einer Nacht veranschaulichte, gelesen werden. Gröschner lasse ihre Erzählung in der Nacht des 30. Aprils 2002 beginnen - bereits vor zehn Jahren hatte die Autorin in einer Radiosendung die Hörer aufgerufen, zu erzählen, wie sie diesen Tag erlebten - und begleite ihre Figuren von da an durch die verschiedenen Berliner Bezirke. Protagonisten wie die ostdeutschen Rentnerinnen Frau Menzinger und Frau Köhncke, die Schauspielerin Viola Karstädt und insbesondere der Obdachlose Alex erscheinen dem Kritiker wie Leute, die bei der Berlin-Entwicklung "auf der Strecke geblieben" sind. Davon erzähle Gröschner mit viel Witz und "Berliner Lokalkolorit", so der begeisterte Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein sprachlich fulminanter Großstadtroman.«
"Lebensfülle, Wirklichkeitsfülle. Eine schier unendliche Fülle der verschiedensten Figuren, jeder Herkunft, jeden Alters. Unverkennbar Berlin. War es bei Döblin die Gegend um den Alexanderplatz in den zwanziger Jahren - bei der Gröschner ist es der Kollwitzplatz um die Jahrtausendwende. Ein unverwechselbares Milieu, ein unerschöpfliches Kaleidoskop von Zeitgenossen und Geschehnissen - faszinierend mit oft absurdem Blick gesehen, erzählt mit dem trockenen Humor dieser Autorin. Als Leser möchte man die Fesselung durch diese Welt nicht mehr missen. Ein Dokument, authentisch, poetisch. Ein großer Wurf." -- Christa Wolf
"Daraus ist ein prächtiger Berlinerinnen- und Berlin-Roman geworden, mindestens so haltbar wie der eiskalte Vater darin - nur viel, viel temperamtentvoller." -- Der Tagesspiegel
"Ein sprachlich fulminanter Großstadtroman." -- Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau
"Daraus ist ein prächtiger Berlinerinnen- und Berlin-Roman geworden, mindestens so haltbar wie der eiskalte Vater darin - nur viel, viel temperamtentvoller." -- Der Tagesspiegel
"Ein sprachlich fulminanter Großstadtroman." -- Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau
»Daraus ist ein prächtiger Berlinerinnen- und Berlin-Roman geworden, mindestens so haltbar wie der eiskalte Vater darin - nur viel, viel temperamtentvoller.« Der Tagesspiegel