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Jean-Michel Palmiers Studie zeichnet den philosophischen, politischen und ästhetischen Denkweg Walter Benjamins nach. Sie beseitigt Missverständnisse und Klischees, etwa das des »marxistischen Rabbiners«, der die Alternative zwischen historischem Materialismus und Theologie in ein unauflösliches Dilemma verwandelt, und schließt die Lücken einer oft simplifizierenden und immer wieder um dieselben Themen kreisenden Rezeption. Der Lumpensammler, der Engel und das »bucklicht Männlein« werden so zu Grundfiguren einer philosophischen Erzählung, die nicht hagiographisch, sondern systematisch die Komplexität von Benjamins Denken erschließt. …mehr

Produktbeschreibung
Jean-Michel Palmiers Studie zeichnet den philosophischen, politischen und ästhetischen Denkweg Walter Benjamins nach. Sie beseitigt Missverständnisse und Klischees, etwa das des »marxistischen Rabbiners«, der die Alternative zwischen historischem Materialismus und Theologie in ein unauflösliches Dilemma verwandelt, und schließt die Lücken einer oft simplifizierenden und immer wieder um dieselben Themen kreisenden Rezeption. Der Lumpensammler, der Engel und das »bucklicht Männlein« werden so zu Grundfiguren einer philosophischen Erzählung, die nicht hagiographisch, sondern systematisch die Komplexität von Benjamins Denken erschließt.
Autorenporträt
Palmier, Jean-MichelJean-Michel Palmier (1944-1998) lehrte Ästhetik und Kunstwissenschaft an der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne) und forschte insbesondere zu den künstlerischen und ideologischen Strömungen der Weimarer Republik.

Brühmann, HorstHorst Brühmann, geboren 1951 in Borken, studierte Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main. Er war als Lehrbeauftragter an der Universität in Frankfurt am Main und Lektor im wissenschaftlichen Lektorat tätig. Heute arbeitet er hauptberuflich als Übersetzer für wissenschaftliche Texte.
Rezensionen
»[Eine] monumentale Studie zu Leben und Werk Walter Benjamins.« Goedart Palm Glanz & Elend 20220113

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2010

Halbe Arbeit an einer Entmythologisierung

An Jean-Michel Palmiers Buch über Walter Benjamin wird man zukünftig nicht vorbeikommen: Und doch bleibt noch einiges zu tun, um endlich ein nüchternes und vollständiges Bild dieses Autors zu erhalten.

Walter Benjamins intellektuelle Laufbahn ist ganz gewiss eine der erstaunlichsten des 20. Jahrhunderts. Zu Lebzeiten publizierte er drei Bücher: 1920 seine Dissertation zur romantischen Kunstkritik, 1928 die surrealistisch inspirierte Aphorismen-Sammlung "Einbahnstraße" und seine gescheiterte Habilitationsschrift zum Trauerspiel des deutschen Barock. 1936 stellte er unter Pseudonym eine Briefanthologie aus der deutschen Geistesgeschichte zusammen. Ansonsten: vier Übersetzungen von Büchern Baudelaires, Balzacs und Prousts, vor allem aber eine Unzahl von Essays und Rezensionen, viele davon zum bloßen Broterwerb.

Bei Lebzeiten war eine intellektuelle Physiognomie dieses Autors nur für jenen engen Kreis von Freunden wahrnehmbar, der dann - allen voran Gershom Scholem und Theodor W. Adorno - die große postume Entdeckung in den sechziger Jahren bewirkte. Nun erschienen erste Sammlungen verstreuter Essays und Briefe, vor allem aber auch Fragmente über Fragmente, von den frühen metaphysischen Versuchen über die Erinnerungsminiaturen "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" bis hin zu jenem berühmten "Passagenwerk", das erst 1982, zweiundvierzig Jahre nach dem Tod seines Autors, als riesiger Torso das Licht der Welt erblickte.

Der Essayist, Kritiker, Übersetzer, gescheiterte Akademiker, Kunsttheoretiker, Geschichtsphilosoph Walter Benjamin wurde plötzlich zu einem der am meisten diskutierten Schriftsteller dieses Jahrhunderts; es entstand eine wahre Scholastik, die den "marxistischen" gegen den "bürgerlichen" oder "jüdischen" Benjamin ins Feld führte, was den größten Teil der Benjamin-Forschung heute als unbrauchbar im Archiv verstauben lässt.

Die biographische Moritat vom ewig Scheiternden - in der Liebe wie an der Universität, in der Politik wie auf der letzten, mit dem Selbstmord endenden Flucht - tat ein Übriges, aus Benjamins Leben und Denken eine der großen Heiligenlegenden des 20. Jahrhunderts zu formen, mit dem unvergleichlichen Finale der rätselhaften, verlorenen Aktentasche, die der Flüchtling über die Pyrenäen schleppte und deren Inhalt ihm wichtiger gewesen sein soll als das Leben. Nichts kann sprechender sein für diese zum Mythos gemachte Gestalt als der Gedanke an ein großes, ein definitives Manuskript, das die Deutung dieses katastrophalen Jahrhunderts enthalten hätte und das von ebendiesem Jahrhundert auf dem letzten Weg verschluckt wurde.

Daran muss so ausführlich erinnert werden, wenn man sich vor Augen hält, was die Aufgabe einer umfassenden Benjamin-Monographie heute ist. Denn auch das gehört zu den Kuriositäten dieses postumen Ruhms: So unendlich viel über Walter Benjamin geschrieben und geredet worden ist, eine solche Studie ist bis heute ausgeblieben. Auch die drei vorliegenden, vollkommen unzureichenden Biographien sind längst im Qualm der vergangenen Kämpfe pro oder contra Scholem, pro oder contra Adorno verschwunden, ganz abgesehen davon, dass sich die Textbasis an Briefen und Dokumenten seither bedeutend erweitert hat.

Regelrecht zugeschüttet wurde Benjamin mit Deutungen, die nur tautologische Paraphrasen blieben, und je häufiger die "Aktualität" seines Denkens beschworen wurde, desto weniger Aktualität war in diesen Beschwörungen zu finden. Wie viele Platitüden der Benjamin-Wissenschaft wären da nicht aufzuzählen: Da ist der bedeutende marxistische Theoretiker - obwohl er nur sehr wenig von Marx gelesen hatte; der jüdische Gelehrte - dem der wirkliche jüdische Gelehrte Scholem die Unkenntnis des Judentums attestierte; der bedeutende Literaturkritiker - an dessen Bedeutung bereits Kracauer seine Zweifel hatte. Benjamin soll der tiefste Interpret Baudelaires, Prousts, Kafkas, Brechts gewesen sein und der bedeutendste Übersetzer der beiden ersten - die eine Behauptung gehört halb, die zweite ganz und gar ins Reich der Legende. Und auch die geschichtsphilosophischen Thesen zu Dialektik und Materialismus haben in den letzten zwei Jahrzehnten einiges eingebüßt von ihrer einstigen Attraktivität.

Die Mythisierung der Gestalt und die Verklärung seines Denkens haben zeitweise ganz und gar verborgen, dass Walter Benjamin trotz allem ein bedeutender, anregender, gerade in seiner Zwiespältigkeit überaus fruchtbarer Autor war, der einen seltsamen, aber doch auch nachvollziehbaren Denkweg in einer politisch bewegten Epoche zurücklegte. Ein solcher Nachvollzug ist aber nur mit dem ganzen Benjamin möglich; wer Benjamin verstehen will, der muss - um ein Beispiel zu nennen - verstehen, wie einer sich von der Notwendigkeit eines "radikalen Kommunismus" genau in dem Augenblick zu überzeugen glaubte, als er sich in die abgelegensten Quellen des Barocktrauerspiels versenkte - und der an beidem zugleich festhielt.

Die große Arbeit, die den ganzen Benjamin sichtbar, begreiflich machen würde, wurde bislang nicht geschrieben, und so ist es ein außerordentliches Verdienst, dass der Suhrkamp Verlag jetzt die umfangreiche Monographie des französischen Germanisten Jean-Michel Palmier auch auf Deutsch zugänglich macht. Palmier starb 1998, und sein Buch ist, trotz des beträchtlichen Umfangs, unvollendet geblieben. Was er geleistet hat, ist dennoch beeindruckend. Im Biographischen trug er zusammen, was an den verschiedensten Quellen zu finden war, doch der Schwerpunkt liegt zwischen Ästhetik und Politik. Die Darstellung folgt chronologisch der Lebens- und Werkgeschichte, und bereits durch diese Entscheidung vermeidet es Palmier, Benjamin unter der Perspektive nur eines einzigen theoretischen Interesses zu sehen. Die verblüffende Parallelität des Metaphysikers und des Kritikers, der Autobiographie und der politischen Schriften, all das kommt in einer historischen Darstellung viel eher zu seinem Recht als in einer systematischen.

Der größte Vorzug bei all dem ist wohl, dass Palmier die Kämpfe um den "wahren" Benjamin hinter sich gelassen hat; seiner ruhigen Darstellung ist es möglich, Scholem, Adorno, Horkheimer, Brecht, Bloch, Hannah Arendt und so manchem anderen gerecht zu werden, was in der Benjamin-Literatur bisher als ausgeschlossen zu gelten hatte. Für diesen Monographen ist Benjamin kein Künder dialektischer Wahrheiten, sondern ein einzuschätzender Intellektueller. In diesem Sinne fasst Palmier zusammen, unaufgeregt und überzeugend, was über Benjamin und seine Geschichte zu wissen ist, und das ist außerodentlich viel.

Der Benjamin für das 21. Jahrhundert konnte hier trotzdem noch nicht entstehen. Das ist bereits am Untertitel des Buches abzulesen - "Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein" -, stehen diese drei Figuren doch genau für die apologetische Benjamin-Deutung; es "fehlen" sozusagen nur Flaneur, Schachautomat und der Stratege im Literaturkampf. Methodisch ist es stets unfruchtbar, einen Philosophen ausschließlich in und mit seinen eigenen Begriffen zu deuten; das ergibt zumeist bis in den Sprachgestus hinein unproduktive Paraphrasen.

Zum Glück hält Palmier sich von der sprachlichen Imitation Benjamins strikt fern; in Begrifflichkeit und Bildlichkeit folgt er jedoch weitgehend dessen Gebrauch, der bekanntlich höchst idiosynkratisch war. So sind der Baudelairesche Lumpensammler, der Engel der Geschichte und das bucklicht Männlein des Kinderlieds zwar gleichsam allegorische Figuren, die durchaus repräsentativ stehen für Benjamins eigentümliche Art, in Bildern, Allegorien, Gleichnissen zu denken oder eben auch präzisen Denkbewegungen auszuweichen. Gerade jedoch weil Gewinn und Verlust eines solchen Denkens inzwischen, nach Jahren der Apologie, viel kritischer betrachtet werden, hätte der Interpret sich vor der allzu lange geübten Praxis hüten müssen, Benjamin selbst mit seinen allegorischen Gestalten zu identifizieren.

Es wird an Palmiers französischer Herkunft liegen, aber natürlich auch an der Epoche seiner intensivsten Arbeit, dass er die großen Leerstellen der bisherigen Benjamin-Rezeption auch nicht ausfüllen kann. Palmiers Forschungsgebiet waren die künstlerischen und ideologischen Strömungen der Weimarer Republik, und wer ein wenig vertraut ist mit der französischen Germanistik, der erkennt hier die politischen Interessen der siebziger und achtziger Jahre wieder; die Überschätzung von Bertolt Brecht und das Wegschieben von Stefan George sind die kaum überraschende Illustration.

An dieser Stelle liegt gewiss auch das größte Manko von Palmiers Darstellung: in der Ausblendung des "deutschen Benjamin", neben dem "marxistischen" oder "jüdischen". Die Wiederentdeckung war ein Ereignis der achtundsechziger Jahre, und dies hat die Forschung begreiflicherweise für Jahrzehnte bestimmt. Benjamins geistige Herkunft aber liegt zwischen den Namen Stefan George, Goethe und Hölderlin, Hofmannsthal, Rilke und Borchardt, und dass diese Herkunft, mit all ihrer Esoterik, ein Leben lang bestimmend blieb, hat nur eine strikt politische Optik wegblenden können. Hier bleibt noch alles zu tun.

Was nottut, ist nicht weniger als die Entmythologisierung und strikte Historisierung Benjamins, jenseits der verblichenen Frage nach irgendeiner "Aktualität". An Palmiers monumentalem Werk wird in Zukunft keiner vorbeikommen, denn er hat dafür die umfangreiche Basis gelegt. Nun sind nüchterne Biographen und ideologiefreie Historiker gefragt, die mit den zahllosen Bänden der Werk- und Briefausgaben hinter der Legende des zwanzigsten Jahrhunderts etwas viel Interessanteres sichtbar machen: den Weg eines kompromissfähigen Einzelgängers, der unter die Räder der Ideologien ebendieses Jahrhunderts geriet.

WOLFGANG MATZ

Jean-Michel Palmier: "Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin". Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Florent Perrier. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009. 1372 S., geb., 64,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als Meilenstein der Benjamin-Forschung, der die Deutungskämpfe der letzten Jahrzehnte unter sich begrabe, feiert Alexander Cammann diese Monumentalbiografie - und das, obwohl es seinen Informationen zufolge nur ein Torso ist, da der Ästhetikprofessor Jean-Michel Palmier mitten in der Arbeit gestorben sei, weshalb von geplanten 2000 Seiten nur 1300 erscheinen konnten. Auch zeigt dieses Werk dem Rezensenten, dass es "die eine Achse für den synoptischen Benjamin" nicht gibt. Allerdings haben Akribie und Askese, mit der Palmier Debatten, Fakten und Fälschungen aufgreift und aufbereiteet, seinen Preis. Zwar befinde man sich als Leser immer auf der sicheren Seite. Allerdings werde dies bisweilen etwas langweilig, da man sich seinen Benjamin im Kopf selbst inszenieren müsse. Dabei bedürfe es dringend einer "vibrierenden Neuinszenierung" dieses Denker, schreibt Cammann. So umflort das Buch, das aus seiner Sicht Ende des 20. Jahrhunderts nötig gewesen wäre, auch die Tragik des Zuspätkommens. Der Übersetzung wird das Prädikat "heroisch" verliehen.

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