Produktdetails
  • Verlag: Dietz, Berlin
  • Seitenzahl: 504
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 794g
  • ISBN-13: 9783320018863
  • Artikelnr.: 25159721
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.1996

Baumeister eines deutschen Sozialismus
Eine Biographie verdeutlicht Ulbrichts Scheitern am Machtwillen Moskaus

Norbert Podewin: Walter Ulbricht. Eine neue Biographie. Dietz Verlag Berlin, Berlin 1995. 504 Seiten, 30 Abbildungen, 48,- Mark.

Über Walter Ulbricht haben biographisch bislang nur Kommunisten oder "Renegaten" geschrieben: Carola Stern, Johannes R. Becher, Leo Bauer, Lieselotte Thoms, Hans Vieillard, Wolfgang Berger, Heinz Voßke, Gerhard Zwerenz und nun Norbert Podewin. Die vorliegende "neue Biographie" über den Baumeister der zweiten deutschen Diktatur fußt auf den vorliegenden Arbeiten und nimmt einiges seit 1990 bekanntgewordenes Material aus dem ehemaligen SED-Archiv mit auf. So ist ein DDR-Lesebuch über den einstigen Staatsmann der SED entstanden.

Ulbrichts historische Bedeutung wurde von seinem Nachfolger Honecker systematisch herabgestuft. In der Bundesrepublik sah man die SED-Generalsekretäre sowieso in einer Sonderrolle. So verzichtet zum Beispiel das von Wilhelm von Sternburg 1985 publizierte Buch über die 28 Reichs- und Bundeskanzler, die seit 1871 "Verantwortung für die deutsche Politik" trugen, auf die Aufnahme der Partei- und Staatschefs der DDR - und sei es im Anhang.

Noch immer sind die Erinnerungen gespalten, und viele historische Darstellungen reproduzieren diese Bewußtseinslage. Podewin macht da keine Ausnahme. Das Buch beginnt mit der öffentlichen Inszenierung von Ulbrichts Sturz im Mai 1971 in den DDR-Medien. Die Schilderung von Ulbrichts Gang vom Arbeitszimmer zum Sitzungssaal des ZK nutzt der Autor, um die Einsamkeit des Generalsekretärs an der Spitze der kommunistischen Parteihierarchie zu verdeutlichen und die Unterwürfigkeit der Apparatschiks vorzuführen. Es war aber nicht Honecker, der Erbe, der den 78 Jahre alten Ulbricht stürzte, sondern Leonid Breschnew. An ihn wandten sich im Januar 1971 Honecker und eine Mehrheit von Mitgliedern des Politbüros mit der Bitte, Ulbricht zum Rücktritt vom Amt zu bewegen. Podewin schreibt, der Vorgang sei exemplarisch für die "Abhängigkeit der SED von der KPdSU - sowohl Honecker als auch Ulbricht legten die Entscheidung ihrer eigenen Schicksale ergeben in die Hand Leonid Breschnews".

Über Aufstieg, Macht und Sturz Ulbrichts bestimmten seine "sowjetischen Freunde". Der Weg des Tischlers aus Leipzig nach oben beginnt in der KPD 1924, als Dimitri Manuilski als Emissär der Kommunistischen Internationale in der deutschen Sektion fähige Organisatoren sucht. Im Oktober 1923 hatte die KPD auf Weisung der Moskauer Zentrale einen Aufstand vorbereitet, der auf der ganzen Linie scheiterte. Führungskämpfe waren die Folge. Ulbricht ging nach Moskau, absolvierte die Lenin-Schule, arbeitete im Apparat der Internationale, wurde Vertreter der KPD bei der Komintern, bevor er 1929 Mitglied des Politischen Büros des ZK der KPD und Leiter des Berliner Parteibezirks wird. Er überlebt das Moskauer Exil und wird 1945 als Leiter der wichtigsten Einsatzgruppe deutscher Kommunisten von der sowjetischen Führung beauftragt, in Zusammenarbeit mit der sowjetischen Armee unverzüglich eine neue demokratische Stadtverwaltung in der eroberten Reichshauptstadt aufzubauen.

Ulbricht löst diese Aufgabe in wenigen Wochen und wird zusammen mit Wilhelm Pieck im Juni 1945 von Stalin beauftragt, die KPD neu zu begründen und ihre Hegemonie im neu entstehenden deutschen Parteiensystem durchzusetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die "Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien" gegründet und die SPD in der SBZ durch Fusion liquidiert. Im Oktober 1946, nach den Landtagswahlen in der SBZ und in Berlin, weiß die SED aber, "daß in einem demokratischen Entscheidungsprozeß in Deutschland die SED keine dominierende Rolle erhalten würde". Diese Konstellation nutzt Ulbricht, um angesichts der für ihn unwägbaren Entwicklung der sowjetischen Deutschland-Politik und der alliierten Abmachungen über Deutschland die Fundamente des sozialistischen deutschen Teilstaates diktatorisch zu befestigen, um seinen provisorischen Charakter als Besatzungszone zu überwinden. Ulbrichts Instrument ist die Partei: 1950 wird er Generalsekretär der SED, die mit einer Politik der vollendeten Tatsachen den Graben zwischen DDR und Bundesrepublik vertieft. Höhepunkt von Ulbrichts Politik ist im Jahre 1952 die von Stalin gebilligte Proklamation in der DDR, den Sozialismus aufzubauen. Zeitgleich bietet Stalin den Westalliierten eine Friedensvertragsregelung über ein neutrales bürgerliches Gesamtdeutschland an.

Das Jahr 1953 ist für den SED-Generalsekretär eine Zäsur. Im März ist sein "Lehrmeister" Stalin gestorben, am 17. Juni führen die Bauarbeiter der Berliner Stalinallee aller Welt vor Augen, daß nur sowjetische Truppen die SED-Herrschaft sichern. Zu diesem Zeitpunkt ist Ulbricht Generalsekretär "auf Abruf", aber zur Stabilisierung der DDR wird er nun als "Erster Sekretär" gebraucht. Er gewinnt gegenüber Moskau sogar politischen Spielraum - den er nutzt, um zunächst alle Opponenten in der Führung auszuschalten. Die Kollektivierung der Landwirtschaft 1959/60 und der Bau der Berliner Mauer 1961 befestigen das Provisorium.

Nach dem Tod von Wilhelm Pieck 1960 wird das Amt des Staatspräsidenten abgeschafft und ein Staatsrat installiert, seinen Vorsitz übernimmt Ulbricht. Durch die Vereinigung von parteilicher Macht mit der nominell höchsten staatlichen Autorität sieht sich Ulbricht am Ziel seines Strebens. Er steht im Zenit. Aber sein Versuch, die Planwirtschaft zu reformieren und sie teilweise dem Primat der Politik zu entziehen, sind der Anfang von seinem Ende. Mit dem von ihm vorangetriebenen "Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung" (Nöspl) wollte er das Wachstum der Arbeitsproduktivität in der DDR steigern, und mittels "ökonomischer Hebel" wie Selbstkosten, Preis, Gewinn, Kredit, Löhne und Prämien sollte sich die Effektivität der Planungsökonomie erhöhen. Individuelle Wohlstandssteigerung sollte an das Wachstum der Arbeitsproduktivität angekoppelt werden.

Diese Ideen vertrugen sich nicht mit Chruschtschows ökonomischem Größenwahn, hatte doch der XXII. Parteitag der KPdSU 1961 beschlossen, bis 1980 die gesamte Bevölkerung der Sowjetunion mit einem "Überfluß an materiellen und kulturellen Gütern" zu versorgen, bis dahin sollte der Kommunismus auch im wesentlichen fertig sein. Ulbrichts ökonomische Reformvorstellungen waren realistischer. Aber die Sowjetunion hielt nichts von diesem deutschen Sozialismus-Modell und war mit der Funktion der DDR-Industrie als wichtigstem Lieferanten der eigenen Wirtschaft zufrieden. Das endgültige Aus für alle ökonomischen Eigenwege der DDR kam dann im Zusammenhang mit der gewaltsamen Niederschlagung der Prager Reformen 1968 durch die Truppen von fünf Warschauer-Pakt-Staaten. Am 9. Dezember 1970 muß sich Ulbricht im Politbüro von Günter Mittag sagen lassen, daß die absolute Einbindung der DDR-Wirtschaft in die der Sowjetunion, beginnend mit der Entwicklung des Maschinenparks bis hin zur Abstimmung der gegenseitigen Warenlieferungen, Priorität besitze.

Ulbrichts politisches Ende kommt jedoch im Zusammenhang mit seinen deutschlandpolitischen Alleingängen nach der Bildung der sozial-liberalen Koalition 1969 in Bonn. Er versuchte ein deutschlandpolitisches Arrangement mit der Bundesregierung ohne Rücksicht auf den sowjetischen Verhandlungsfahrplan. Podewin zitiert Egon Bahr, der deutlich macht, wie die Bundesrepublik diesen Zwiespalt zwischen Berlin und Moskau nutzte. Als Willy Brandt im März 1970 nach Erfurt reist, um Willi Stoph zu treffen, habe Bahr in Moskau dafür gesorgt, "daß die Informationen über die Vorbereitung und den Ablauf dieses Treffens die sowjetische Führung schneller erreichten als über die DDR. Dabei haben die Russen festgestellt, daß wir korrekter sind. Die DDR hat das geschönt. Da haben die Moskowiter gemerkt, man kann sich nicht darauf verlassen, was die DDR berichtet." Bahrs Politik funktionierte; die SED mußte sich an die Rangfolge halten, und Ulbricht stürzte.

"Die Unperson" ist das letzte Kapitel überschrieben. In ihm behandelt der Autor das System, mit dem Honecker Ulbricht nach seinem Sturz isolierte und überwachte. Einst dienstbeflissene frühere Gefolgsleute denunzierten Ulbricht nun bei Honecker. Das tat zum Beispiel Hans Rodenberg, der im Moskauer Exil Susanne Leonhard zur Strafhaft im Archipel GULag verholfen hatte und sich nach 1945 als SED-Kulturfunktionär Verdienste erwarb. Rodenberg besuchte Ulbricht, vernahm seine Klagen und hatte nichts Eiligeres zu tun, "als das dem neuen ersten Mann zu berichten". Die spärlichen Angaben über Ulbrichts Privatleben stammen vorwiegend von Werner Eberlein, seinem langjährigen russischen Chefdolmetscher. Lotte Ulbricht wollte mit dem Autor nicht sprechen.

Norbert Podewin, Jahrgang 1935, gelernter Historiker, hat als persönlicher Sekretär von Friedrich Ebert unmittelbar im Parteiapparat der SED gearbeitet. Das bestimmt Leistung und Grenzen seines Buches. Die Achse seiner Darstellung ist Ulbrichts "manisches Drängen nach Ausbau der Zentralgewalt von Partei und Staat". Dabei habe er "in jeder Entwicklungsetappe der DDR Zeitgeist und Gegner" überwunden. In dieser Biographie eines Generalsekretärs kommen seine Opfer nur flüchtig in den Blick, und es gibt auch falsche Darstellungen von Ulbrichts Politik, wie zum Beispiel im Fall von Prag 1968. Podewin behauptet, Ulbricht habe den Reformen seiner tschechoslowakischen Genossen im Prinzip positiv gegenübergestanden. Das Gegenteil stimmt: Ulbricht tat alles, was in seiner Macht stand, um die politischen Reformen in Prag zu bekämpfen.

Den Lesern mutet Podewin einiges zu, vor allem ermüdend lange Zitate aus Protokollen und sonstigen SED-Dokumenten. Die Person Ulbricht gewinnt nicht wirklich Kontur. Die Stärke von Podewins Arbeit ist, daß er Aufstieg und Fall seines Helden konsequent mit den Entscheidungen der sowjetischen Führung verbindet. Die von Ulbricht erstrebte eigenständige sozialistische Deutsche Demokratische Republik nimmt gerade in der Biographie ihres "Baumeisters" mehr und mehr die Züge eines sowjetischen Protektorats an. MANFRED WILKE

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