Das Bild, das die Geschichtsschreibung von Walter Ulbricht zeichnet, scheint unverrückbar zu stehen: der Moskau ergebene Kommunist, der sächselnde Machtpolitiker, der den Aufbau des sozialistischen Staates nur "demokratisch aussehen" lassen wollte, der Mauerbauer, erst Vasall der Sowjetunion, dann fallen gelassen, weil er der DDR einen wirtschaftlich eigenen Kurs verordnete, kaltgestellt im eigenen Land, der bespöttelte "Spitzbart". Der ein oder andere bürgerliche Historiker gestand zu: Man hatte es mit einem Staatsmann von Format zu tun, die Zeit des Kalten Krieges forderte eigene Spielregeln im Ost-West-Konflikt. Als Privatperson erweckte immerhin der Sportfreund Ulbricht, der Turner und Tischtennisspieler, einige Sympathien. Ist damit das Bild über den Politiker und Privatmann Ulbricht erschöpfend gezeichnet? Wie wurde er der, den alle zu kennen meinen? Diese Frage bewegte Urenkel Florian Heyden, der sieben Jahre nach Ulbrichts Tod geboren wurde. Dieser war in Leipzig in erster Ehe mit Heydens Urgroßmutter Martha Schmellinsky verheiratet. Doch seine Eltern und Großeltern sprachen nicht über ihre Vergangenheit. Walter Ulbricht war eine Unperson - in der Familie nicht anders als in der gängigen Geschichtsschreibung. Florian Heyden wollte es wissen. Sowohl die Legenden als auch die Leerstellen im Charakterbild seines Urgroßvaters veranlassten ihn, sich auf dessen Spuren zu begeben. Heyden stieß in verschlossenen Archiven, die ihm nur aufgrund seiner Verwandtschaft exklusiv geöffnet wurden, auf Fakten, die noch keiner der zahlreichen Ulbrichtbiografen verarbeiten konnte. Was mit der Suche nach den Bausteinen seiner Familiengeschichte begann, erbrachte im Ergebnis nicht nur ein facettenreiches Bild des Menschen Walter Ulbricht, sondern führt an die Schaltstellen der Geschichte des 20. Jahrhunderts und zu der Rolle, die die wesentlich von SED-Chef und Staatsratsvoritzendem Ulbricht geprägte Deutsche Demokratische Republik spielte.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ilko-Sascha Kowalczuk ist empört über den Umgang des Verlags mit seinem Autor Florian Heyden. Dessen Biografie über seinen Urgroßvater Walter Ulbricht leidet zwar laut Rezensent unter allzu großer Nähe, überzeugt jedoch darin, Ulbricht anhand von reichem Quellenmaterial aus den Familienarchiven als Mensch mit Fehlern darzustellen. Dass die Verbindung von Biografie und Weltgeschichte im zweiten Teil des Buches misslingt und KPD-Geschichte bis '45 als SED-Propaganda nacherzählt wird, lastet der Rezensent nicht dem Autor an, sondern dem Verlag, der, so die Ansicht des Rezensenten, "nicht genehme Passagen" kurzerhand zur Ulbricht-Hagiografie umschrieb und Heydens wissenschaftliche Fußnoten einfach strich. Höchst ärgerlich, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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