Walther Rathenau zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte der deutschen Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als kulturell und politisch interessierter, schriftstellerisch tätiger Geschäftsmann hatte er ein starkes Bedürfnis, seine Meinung und Gesinnung in menschlichen, politischen und wirtschaftlichen Fragen zu erläutern und zu rechtfertigen. Das hat zu einer umfangreichen Korrespondenz mit vielen berühmten, aber auch unbekannten Zeitgenossen geführt. Innerhalb der Walther Rathenau-Gesamtausgabe erscheinen jetzt nach jahrzehntelanger Vorbereitung diese privaten und geschäftlichen Briefwechsel in zwei Teilbänden. Die bereits 1926-1930 von Rathenaus Familie veröffentlichte Briefauswahl wird damit nicht nur korrigiert und durch kommentierte Anmerkungen erschlossen, sondern um weit mehr als das doppelte erweitert. Das wurde ermöglicht durch zahlreiche Funde in in- und ausländischen Archiven, insbesondere in dem 1992 in Moskau wieder entdeckten Rathenau-Nachlass. Die Vielseitigkeit von Rathenaus Persönlichkeit und ihre Wirkung wird durch diese Edition in neuer Weise sichtbar. Es wird deutlich, dass er in der großen deutschen Briefkultur einen außerordentlichen, unverwechselbaren Platz einnimmt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2006Missionarischer Eifer
Die Privat- und Geschäftsbriefe des 1922 ermordeten Industriellen und Politikers Walther Rathenau
Walther Rathenau war ein großer Briefschreiber. Tausende von Briefen hat er im Laufe von fünf Jahrzehnten geschrieben. Vor allem auf Initiative von Rathenaus Mutter sind weit über tausend Briefe schon bald nach dem Tod des bedeutenden Industriellen und vielgelesenen Schriftstellers veröffentlicht worden, großenteils allerdings mit Auslassungen und Kürzungen. Die zwischen 1926 und 1929 in hohen Auflagen erschienenen fünf Briefbände sind nunmehr überholt durch die Briefedition im Rahmen der Walther-Rathenau-Gesamtausgabe: In zwei stattlichen Halbbänden werden 3088 Dokumente präsentiert. Bis auf wenige an Rathenau gerichtete Schreiben handelt es sich um Rathenaus Privat- und Geschäftsbriefe, während weitere rund tausend Briefe mit Stellungnahmen zu Politik, Wirtschaftspolitik und Kriegführung sowie die amtliche Korrespondenz in der Ministerzeit den Bänden I, III und IV der Gesamtausgabe vorbehalten sind. Bis zum Erscheinen dieser Bände muß man für eine Reihe von Briefen, etwa an Erich Ludendorff und andere Militärs und Politiker, weiterhin auf die ältere Sammlung zurückgreifen, vor allem den Band "Politische Briefe" (1929). Erst wenn die restlichen Bände vorliegen, wird ein Urteil möglich sein, ob es eine kluge editorische Entscheidung war, das Brief-Corpus aufzuspalten und Rathenaus Briefe auf verschiedene Bände zu verteilen.
Schon jetzt aber darf die vorliegende Briefedition mit hohem Lob bedacht werden: Die Textgestaltung ist einwandfrei, die Kommentierung wird höchsten Ansprüchen gerecht, ein vorzüglicher Personenindex liefert knappe Informationen auch zu zahlreichen wenig bekannten oder unbekannten Personen, die Adressaten von Rathenaus Briefen waren. Gegenüber der älteren Briefsammlung besteht der entscheidende Vorzug der neuen Edition - neben der sachkundigen Kommentierung - darin, daß nahezu alle überlieferten Rathenau-Briefe ungekürzt abgedruckt werden, sowohl die in den früheren Briefbänden oder anderswo publizierten als auch viele bisher ungedruckte. Damit wird nicht nur erkennbar, was seinerzeit ausgelassen wurde, sondern es liegt nun eine umfassende Sammlung vor, die Entwicklung und Entfaltung einer ungewöhnlichen Persönlichkeit in eindringlicher Weise dokumentiert.
Bis zu seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr hat Walther Rathenau erstaunlicherweise nur Familienbriefe geschrieben (zumindest sind nur solche überliefert), Briefe an den Vater und den jüngeren Bruder, vor allem aber an die geliebte Mutter. Sie erhielt während Walthers Schul- und Studentenzeit lange Briefe, in denen lebendig, oft witzig oder ironisch über Befinden, Tätigkeit, Begegnungen, Reisen berichtet wurde. Die erstmals vollständig versammelten Jugendbriefe sind eine unterhaltsame Lektüre, sie interessieren aber auch noch unter einem anderen Gesichtspunkt. Sie zeichnen nämlich ein plastisches Bild des gesellschaftlichen Umfelds der Rathenaus. Emil Rathenau, als Gründer der AEG einer der großen deutschen Industriepioniere, gehörte der Berliner jüdischen Oberschicht an. Bemerkenswerterweise hatten die Rathenaus nur mit Angehörigen dieser - auch stark verwandtschaftlich vernetzten - Gruppe geselligen Verkehr. Sie allein sind es, die genannt werden, wenn von Besuchen hin und her, Verabredungen, gemeinsamen Badeaufenthalten die Rede ist. Selbst während seines Studiums in Berlin, Straßburg und München hatte Walther Rathenau fast ausschließlich mit jüdischen Kommilitonen und jüdischen Verwandten näheren Umgang. Die Grenzen der Assimilation im Kaiserreich treten hier deutlich in Erscheinung.
Für Rathenau ist bekanntlich die Frage seiner Identität als Deutscher und als Jude zum lebenslangen Problem geworden. Die Jugendbriefe liefern dazu einige Beiträge, und nicht selten finden sich auch mokante Bemerkungen insbesondere zum Typ des jüdischen Großbürgers. Von einem Urlaub auf der Insel Sylt schrieb er: "Wenn eine Sturmflut dieses Eiland versenkte, so wäre der Rechtsanwaltsstand in Berlin wieder christlich." Nach dem Studium der Physik und Elektrotechnik und der Promotion ("Die Absorption des Lichts in Metallen") begann Rathenau Ende 1891 seine berufliche Tätigkeit, zunächst in einem mit der AEG kooperierenden Schweizer Unternehmen. Geschäftsbriefe nehmen von nun an breiten Raum in seiner Korrespondenz ein; sie werden hier erstmals veröffentlicht und eingehend kommentiert.
Nach der Jahrhundertwende setzten dann erste briefliche Kontakte zu Schriftstellern und Literaten ein, die sich in den Vorweltkriegsjahren intensivierten. Mit Gerhart Hauptmann entstand eine wechselseitig immer wieder emphatisch bekundete Freundschaft; seit Herbst 1909 duzten sich die beiden. Manche Schriftsteller wie Hermann Stehr und Max Dauthendey, aber auch etliche längst Vergessene unterstützte Rathenau finanziell. Nicht alle, die er förderte oder mit denen er in Kontakt stand, waren Künstler von Rang, wenn auch Stefan Georges boshaftes Diktum, es gebe keinen Schundliteraten, mit dem er nicht korrespondiert habe, reichlich übertrieben ist; immerhin zählten neben Hauptmann zu Rathenaus Briefpartnern Stefan Zweig, Rainer Maria Rilke, Richard Dehmel, Hugo von Hofmannsthal. Allerdings - und dies gilt nicht nur für den Briefwechsel mit Künstlern - gibt es auffallenderweise kaum einen über viele Jahre hin gepflegten Briefkontakt, in dem kontinuierlich künstlerische oder politische Probleme auf Augenhöhe diskutiert würden. Dies tritt besonders deutlich in Rathenaus Korrespondenz seit den Kriegsjahren in Erscheinung. Nachdem er selbst Bücher veröffentlicht hatte und zum vielgelesenen kulturkritischen Autor geworden war ("Zur Kritik der Zeit" 1912, "Zur Mechanik des Geistes" 1913, "Von kommenden Dingen" 1917), häuften sich die Zuschriften von Lesern, Ratsuchenden und Personen, die ihre eigenen Produkte mit der Bitte um eine Stellungnahme vorlegten oder die um finanzielle Unterstützung baten. Sie alle erhielten eine Antwort, so daß ein erheblicher Teil der Briefe seit den Kriegsjahren an damals und heute Unbekannte adressiert ist.
Man kann Rathenaus missionarischen Eifer bewundern, man kann aber auch den Kopf darüber schütteln, daß ein so vielbeschäftigter Mann manche Zuschrift, die in den Papierkorb gehört hätte, einer ausführlichen Antwort würdigte, daß er sich wortreich gegen den Vorwurf zur Wehr setzte, er handle praktisch anders, als er schreibe, daß er viel zu lange mit einigen psychisch labilen Personen, Frauen und Männern, briefliche Kontakte aufrechterhielt, daß er sich wieder und wieder rechtfertigte für diese oder jene (vom Schreiber mißverstandene) Äußerung, etwa den Ausspruch von den dreihundert Männern, die die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents leiteten (woraus die antisemitische Agitation dreihundert Juden machte), oder die Prophezeiung, nie werde der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor ziehe. Während des Krieges klingen Rathenaus briefliche Äußerungen seit etwa 1915 pessimistischer als die Darlegungen in seinen Schriften dieser Jahre. Wenn er sich im Rückblick aber zu einem der wenigen stilisierte, "die vom ersten Tag an den Krieg verurteilt, seine Aussichtslosigkeit erkannt und die deutsche Mitschuld nicht geleugnet haben", dann bieten die Briefe bei aller immer wieder durchscheinenden Skepsis keine zwingenden Belege für eine von Kriegsbeginn an so eindeutige Position.
Die schwierigste Zeit begann für Rathenau bei Kriegsende. Mit wachsender Erbitterung registrierte er, daß man ihm, der manche politischen und gesellschaftlichen Erscheinungen im Kaiserreich kritisiert und Vorschläge für eine wirtschaftliche Neuordnung präsentiert hatte, nicht die politische Mitarbeit an führender Stelle anbot. Dem Schriftsteller Arthur Holitscher schrieb er am 28. November 1918: "Daß die Revolution an demjenigen Bürgerlichen, der 20 Jahre lang ihre Waffen geschärft und der kapitalistischen Ordnung das einzige System entgegengestellt hat, das durchführbar ist und durchgeführt werden wird, vorübergeht, ohne Gruß und Zuruf, darüber wird die Geschichte entscheiden." Das Jahr 1919 brachte weitere Enttäuschungen und Zurücksetzungen. Sie schlugen sich in vielen Briefen in Resignation, Larmoyanz und depressiven Stimmungen nieder. Erst als der Zentrumspolitiker Joseph Wirth, zunächst als Reichsfinanzminister, dann als Reichskanzler, Rathenau in die politische Verantwortung zog, konnte dieser die langersehnte Rolle auf der großen politischen Bühne spielen, aber damit potenzierte sich auch der Haß, der ihm schon seit Jahren entgegengeschlagen war. Am 24. Juni 1922 fiel er - erst seit Beginn des Jahres Reichsaußenminister - einem Attentat rechtsradikaler Verschwörer zum Opfer.
Eröffnet die Briefedition neue Perspektiven für die Fixierung des Rathenau-Bildes? Diese Frage wird man wohl verneinen müssen. Sensationelle neue Brieffunde sind nicht zu verzeichnen. Trotz der Kürzungen und Auslassungen in den früheren Briefausgaben traten Eigenart und Stil des Briefschreibers schon hinreichend deutlich hervor, und die bisher unveröffentlichten Briefe enthalten überwiegend keine besonders überraschenden oder aufregenden Mitteilungen. Wohl aber liefert die neue Briefedition eine Reihe von Details zu verschiedenen Punkten der Biographie, und sie profiliert die Komplexität einer ebenso bedeutenden wie zwiespältigen Persönlichkeit, die in vielem rätselhaft bleibt und ebendeshalb zu immer neuer Beschäftigung herausfordert.
EBERHARD KOLB
Walter-Rathenau-Gesamtausgabe. Band V: Briefe. Herausgegeben von Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin. Teilband 1: 1871-1913, Teilband 2: 1914-1922. Droste Verlag, Düsseldorf 2006. 2829 S., 182,- [Euro].
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Die Privat- und Geschäftsbriefe des 1922 ermordeten Industriellen und Politikers Walther Rathenau
Walther Rathenau war ein großer Briefschreiber. Tausende von Briefen hat er im Laufe von fünf Jahrzehnten geschrieben. Vor allem auf Initiative von Rathenaus Mutter sind weit über tausend Briefe schon bald nach dem Tod des bedeutenden Industriellen und vielgelesenen Schriftstellers veröffentlicht worden, großenteils allerdings mit Auslassungen und Kürzungen. Die zwischen 1926 und 1929 in hohen Auflagen erschienenen fünf Briefbände sind nunmehr überholt durch die Briefedition im Rahmen der Walther-Rathenau-Gesamtausgabe: In zwei stattlichen Halbbänden werden 3088 Dokumente präsentiert. Bis auf wenige an Rathenau gerichtete Schreiben handelt es sich um Rathenaus Privat- und Geschäftsbriefe, während weitere rund tausend Briefe mit Stellungnahmen zu Politik, Wirtschaftspolitik und Kriegführung sowie die amtliche Korrespondenz in der Ministerzeit den Bänden I, III und IV der Gesamtausgabe vorbehalten sind. Bis zum Erscheinen dieser Bände muß man für eine Reihe von Briefen, etwa an Erich Ludendorff und andere Militärs und Politiker, weiterhin auf die ältere Sammlung zurückgreifen, vor allem den Band "Politische Briefe" (1929). Erst wenn die restlichen Bände vorliegen, wird ein Urteil möglich sein, ob es eine kluge editorische Entscheidung war, das Brief-Corpus aufzuspalten und Rathenaus Briefe auf verschiedene Bände zu verteilen.
Schon jetzt aber darf die vorliegende Briefedition mit hohem Lob bedacht werden: Die Textgestaltung ist einwandfrei, die Kommentierung wird höchsten Ansprüchen gerecht, ein vorzüglicher Personenindex liefert knappe Informationen auch zu zahlreichen wenig bekannten oder unbekannten Personen, die Adressaten von Rathenaus Briefen waren. Gegenüber der älteren Briefsammlung besteht der entscheidende Vorzug der neuen Edition - neben der sachkundigen Kommentierung - darin, daß nahezu alle überlieferten Rathenau-Briefe ungekürzt abgedruckt werden, sowohl die in den früheren Briefbänden oder anderswo publizierten als auch viele bisher ungedruckte. Damit wird nicht nur erkennbar, was seinerzeit ausgelassen wurde, sondern es liegt nun eine umfassende Sammlung vor, die Entwicklung und Entfaltung einer ungewöhnlichen Persönlichkeit in eindringlicher Weise dokumentiert.
Bis zu seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr hat Walther Rathenau erstaunlicherweise nur Familienbriefe geschrieben (zumindest sind nur solche überliefert), Briefe an den Vater und den jüngeren Bruder, vor allem aber an die geliebte Mutter. Sie erhielt während Walthers Schul- und Studentenzeit lange Briefe, in denen lebendig, oft witzig oder ironisch über Befinden, Tätigkeit, Begegnungen, Reisen berichtet wurde. Die erstmals vollständig versammelten Jugendbriefe sind eine unterhaltsame Lektüre, sie interessieren aber auch noch unter einem anderen Gesichtspunkt. Sie zeichnen nämlich ein plastisches Bild des gesellschaftlichen Umfelds der Rathenaus. Emil Rathenau, als Gründer der AEG einer der großen deutschen Industriepioniere, gehörte der Berliner jüdischen Oberschicht an. Bemerkenswerterweise hatten die Rathenaus nur mit Angehörigen dieser - auch stark verwandtschaftlich vernetzten - Gruppe geselligen Verkehr. Sie allein sind es, die genannt werden, wenn von Besuchen hin und her, Verabredungen, gemeinsamen Badeaufenthalten die Rede ist. Selbst während seines Studiums in Berlin, Straßburg und München hatte Walther Rathenau fast ausschließlich mit jüdischen Kommilitonen und jüdischen Verwandten näheren Umgang. Die Grenzen der Assimilation im Kaiserreich treten hier deutlich in Erscheinung.
Für Rathenau ist bekanntlich die Frage seiner Identität als Deutscher und als Jude zum lebenslangen Problem geworden. Die Jugendbriefe liefern dazu einige Beiträge, und nicht selten finden sich auch mokante Bemerkungen insbesondere zum Typ des jüdischen Großbürgers. Von einem Urlaub auf der Insel Sylt schrieb er: "Wenn eine Sturmflut dieses Eiland versenkte, so wäre der Rechtsanwaltsstand in Berlin wieder christlich." Nach dem Studium der Physik und Elektrotechnik und der Promotion ("Die Absorption des Lichts in Metallen") begann Rathenau Ende 1891 seine berufliche Tätigkeit, zunächst in einem mit der AEG kooperierenden Schweizer Unternehmen. Geschäftsbriefe nehmen von nun an breiten Raum in seiner Korrespondenz ein; sie werden hier erstmals veröffentlicht und eingehend kommentiert.
Nach der Jahrhundertwende setzten dann erste briefliche Kontakte zu Schriftstellern und Literaten ein, die sich in den Vorweltkriegsjahren intensivierten. Mit Gerhart Hauptmann entstand eine wechselseitig immer wieder emphatisch bekundete Freundschaft; seit Herbst 1909 duzten sich die beiden. Manche Schriftsteller wie Hermann Stehr und Max Dauthendey, aber auch etliche längst Vergessene unterstützte Rathenau finanziell. Nicht alle, die er förderte oder mit denen er in Kontakt stand, waren Künstler von Rang, wenn auch Stefan Georges boshaftes Diktum, es gebe keinen Schundliteraten, mit dem er nicht korrespondiert habe, reichlich übertrieben ist; immerhin zählten neben Hauptmann zu Rathenaus Briefpartnern Stefan Zweig, Rainer Maria Rilke, Richard Dehmel, Hugo von Hofmannsthal. Allerdings - und dies gilt nicht nur für den Briefwechsel mit Künstlern - gibt es auffallenderweise kaum einen über viele Jahre hin gepflegten Briefkontakt, in dem kontinuierlich künstlerische oder politische Probleme auf Augenhöhe diskutiert würden. Dies tritt besonders deutlich in Rathenaus Korrespondenz seit den Kriegsjahren in Erscheinung. Nachdem er selbst Bücher veröffentlicht hatte und zum vielgelesenen kulturkritischen Autor geworden war ("Zur Kritik der Zeit" 1912, "Zur Mechanik des Geistes" 1913, "Von kommenden Dingen" 1917), häuften sich die Zuschriften von Lesern, Ratsuchenden und Personen, die ihre eigenen Produkte mit der Bitte um eine Stellungnahme vorlegten oder die um finanzielle Unterstützung baten. Sie alle erhielten eine Antwort, so daß ein erheblicher Teil der Briefe seit den Kriegsjahren an damals und heute Unbekannte adressiert ist.
Man kann Rathenaus missionarischen Eifer bewundern, man kann aber auch den Kopf darüber schütteln, daß ein so vielbeschäftigter Mann manche Zuschrift, die in den Papierkorb gehört hätte, einer ausführlichen Antwort würdigte, daß er sich wortreich gegen den Vorwurf zur Wehr setzte, er handle praktisch anders, als er schreibe, daß er viel zu lange mit einigen psychisch labilen Personen, Frauen und Männern, briefliche Kontakte aufrechterhielt, daß er sich wieder und wieder rechtfertigte für diese oder jene (vom Schreiber mißverstandene) Äußerung, etwa den Ausspruch von den dreihundert Männern, die die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents leiteten (woraus die antisemitische Agitation dreihundert Juden machte), oder die Prophezeiung, nie werde der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor ziehe. Während des Krieges klingen Rathenaus briefliche Äußerungen seit etwa 1915 pessimistischer als die Darlegungen in seinen Schriften dieser Jahre. Wenn er sich im Rückblick aber zu einem der wenigen stilisierte, "die vom ersten Tag an den Krieg verurteilt, seine Aussichtslosigkeit erkannt und die deutsche Mitschuld nicht geleugnet haben", dann bieten die Briefe bei aller immer wieder durchscheinenden Skepsis keine zwingenden Belege für eine von Kriegsbeginn an so eindeutige Position.
Die schwierigste Zeit begann für Rathenau bei Kriegsende. Mit wachsender Erbitterung registrierte er, daß man ihm, der manche politischen und gesellschaftlichen Erscheinungen im Kaiserreich kritisiert und Vorschläge für eine wirtschaftliche Neuordnung präsentiert hatte, nicht die politische Mitarbeit an führender Stelle anbot. Dem Schriftsteller Arthur Holitscher schrieb er am 28. November 1918: "Daß die Revolution an demjenigen Bürgerlichen, der 20 Jahre lang ihre Waffen geschärft und der kapitalistischen Ordnung das einzige System entgegengestellt hat, das durchführbar ist und durchgeführt werden wird, vorübergeht, ohne Gruß und Zuruf, darüber wird die Geschichte entscheiden." Das Jahr 1919 brachte weitere Enttäuschungen und Zurücksetzungen. Sie schlugen sich in vielen Briefen in Resignation, Larmoyanz und depressiven Stimmungen nieder. Erst als der Zentrumspolitiker Joseph Wirth, zunächst als Reichsfinanzminister, dann als Reichskanzler, Rathenau in die politische Verantwortung zog, konnte dieser die langersehnte Rolle auf der großen politischen Bühne spielen, aber damit potenzierte sich auch der Haß, der ihm schon seit Jahren entgegengeschlagen war. Am 24. Juni 1922 fiel er - erst seit Beginn des Jahres Reichsaußenminister - einem Attentat rechtsradikaler Verschwörer zum Opfer.
Eröffnet die Briefedition neue Perspektiven für die Fixierung des Rathenau-Bildes? Diese Frage wird man wohl verneinen müssen. Sensationelle neue Brieffunde sind nicht zu verzeichnen. Trotz der Kürzungen und Auslassungen in den früheren Briefausgaben traten Eigenart und Stil des Briefschreibers schon hinreichend deutlich hervor, und die bisher unveröffentlichten Briefe enthalten überwiegend keine besonders überraschenden oder aufregenden Mitteilungen. Wohl aber liefert die neue Briefedition eine Reihe von Details zu verschiedenen Punkten der Biographie, und sie profiliert die Komplexität einer ebenso bedeutenden wie zwiespältigen Persönlichkeit, die in vielem rätselhaft bleibt und ebendeshalb zu immer neuer Beschäftigung herausfordert.
EBERHARD KOLB
Walter-Rathenau-Gesamtausgabe. Band V: Briefe. Herausgegeben von Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin. Teilband 1: 1871-1913, Teilband 2: 1914-1922. Droste Verlag, Düsseldorf 2006. 2829 S., 182,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lobend beurteilt Eberhard Kolb den im Rahmen der Walter-Rathenau-Gesamtausgabe erschienenen Doppelband mit den Privat- und Geschäftsbriefen. Weder die Textgestaltung der 3088 präsentierten Dokumente noch die hervorragende Kommentierung oder der informative Personenindex lassen für ihn irgendwelche Wünsche offen. Zudem zeichnet sich die neue Edition gegenüber der älteren Briefsammlung durch den vollständigen Abdruck aller überlieferten Briefe aus. Neben den Briefen aus der Jugendzeit, die ein anschauliches Bild vom gesellschaftlichen Umfeld Rathenaus vermitteln, hebt Kolb die Korrespondenz mit zahlreichen Schriftstellern und Literaten, darunter Hauptmann, Rilke und Hofmannsthal, hervor. Ein neues Bild des Politikers vermittelt die Korrespondenz seines Erachtens aber nicht, so aufschlussreich viele Briefe ihm auch erscheinen. Auch sensationelle neue Brieffunde hat Kolb nicht gemacht. Allerdings bietet die neue Briefedition zu seiner Freude zahlreiche illustrierende Details zu verschiedenen Punkten der Biografie. Außerdem sieht er in der vorliegenden Sammlung die "Entwicklung und Entfaltung einer ungewöhnlichen Persönlichkeit in eindringlicher Weise dokumentiert".
© Perlentaucher Medien GmbH
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