Christian Schölzel legt jetzt die umfassende neue Biographie des Politikers, Unternehmers und Philosophen Walther Rathenau vor. Er kann sich auf einen außergewöhnlichen Quellenfund stützen - sein Buch ist das erste seit 1928, das auf den mehr als ein halbes Jahrhundert verschollen geglaubten Privat-Nachlaß Rathenaus zurückgreifen kann: auf rund 900 Aktenbände, die lange versteckt im einstigen Sonderarchiv des KGB in Moskau ruhten. Sie und Quellen aus über 80 weiteren Archiven zwischen Los Angeles und Moskau bilden die Grundlage für die weitgespannte Darstellung von Leben und Werk einer faszinierenden Persönlichkeit an der Schnittstelle zwischen Politik, Wirtschaft und Geistesleben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2006Märtyrer der Republik
Walther Rathenaus Leben voller Gegensätze und Talente
Als "Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit" - so der Historiker Ernst Schulin - hat Walther Rathenau (1867 bis 1922) von jeher das Interesse der Biographen auf sich gezogen, und in den neunziger Jahren erfuhr die Beschäftigung mit dieser ebenso faszinierenden wie problematischen Persönlichkeit einen doppelten Schub. Zum einen boten der 125. Geburtstag und 75. Todestag reichlich Anlaß, seiner zu gedenken, was vor allem auch in einer opulenten Ausstellung des "Deutschen Historischen Museums" geschah. Zum anderen ist der verschollene und für immer verloren geglaubte Privatnachlaß Rathenaus wiederentdeckt worden. Der nach 1933 von der SS beschlagnahmte Nachlaß fiel 1945 der Roten Armee in die Hände und kam nach Moskau in ein geheimes Sonderarchiv, dessen Existenz erst nach der Auflösung der Sowjetunion bekannt wurde. Seit Anfang der neunziger Jahre wird dieser Nachlaß sukzessive für die Forschung zugänglich.
Die von Christian Schölzel vorgelegte umfängliche Rathenau-Biographie ist die erste, die sich auf die Materialien im Privatnachlaß stützen kann. Darüber hinaus ist der Autor aber auch in über achtzig weiteren Archiven fündig geworden. Er kennt genauestens alle Schriften Rathenaus sowie die fast uferlose Sekundärliteratur - eine erdrückende Materialfülle, bei der die Gefahr des Ertrinkens besteht. Wenn der Autor dieser Gefahr auch nicht immer gänzlich entronnen ist, so kommt seiner dicht belegten Untersuchung doch das Verdienst zu, daß alle wesentlichen Aspekte in Leben und Wirken Rathenaus in etwa gleichgewichtig behandelt werden: seine Tätigkeit als Industrieller und Bankier ebenso wie seine Leistungen bei der Sicherung der deutschen Rohstoffversorgung im Weltkrieg, sein soziales Umfeld und seine ständige Beschäftigung mit seiner jüdischen Identität ebenso wie seine ausgedehnte geschichts- und gesellschaftsphilosophische Publizistik mit zeitkritischer Stoßrichtung; schließlich sein politisches Engagement in der Republik als Wiederaufbau- und Außenminister. Zu all diesen Bereichen bietet Schölzel sachkundige und erschöpfende Informationen, wenngleich der spröde Stil die Lektüre nicht zu einem Spaziergang macht. Hinzu kommt, daß der Anmerkungsapparat stark überfrachtet ist. Er beträgt mit über 3200 Anmerkungen auf über zweihundert eng bedruckten Seiten etwa die Hälfte des Gesamttextes. Besonders ärgerlich dabei: In den Kapiteln II, III und IV stimmen die Anmerkungsziffern im Text nicht mit den Ziffern der entsprechenden Belege im Anmerkungsteil überein, so daß man mühsam den richtigen Beleg suchen muß - eine eklatante, vom Lektorat des Schöningh-Verlags mitzuverantwortende Panne! Doch ungeachtet solcher Mißlichkeiten ist dem Werk tiefgründige Gelehrsamkeit zu attestieren.
Ausführlich geht Schölzel auf Rathenaus beharrliche Suche nach einer Positionierung zwischen den Selbstbildern des "Juden" und des "Deutschen" ein. Seinem Jüdischsein entsprang Rathenaus tiefster Zwiespalt. Er fühlte sich als deutscher Jude, er litt an seinem Jüdischsein und hielt doch an seinem Judentum fest (während seine Schwester 1911 gegen den Willen des Vaters zum Christentum übertrat). Zwischen jüdischem Selbsthaß und jüdischer Selbstbehauptung schwankend, betrat er mit einem Paukenschlag die publizistische Bühne: Sein erster, zunächst anonym veröffentlichter Artikel "Höre Israel" (1897) war ein flammender Aufruf zur Assimilation. Unter Übernahme von Stereotypen des Rassenantisemitismus gab er seiner tiefen Verachtung der nach Deutschland einwandernden Ostjuden ("asiatische Horde") offen Ausdruck und plädierte für eine weitreichende Akkulturation der Juden als einen pragmatischen Ausweg aus dem Käfig des Antisemitismus. Wie Shulamit Volkov einmal anmerkte, war Rathenaus "nachdrückliche, fast an Besessenheit grenzende Beschäftigung mit seiner jüdischen Herkunft und Identität" für ein Mitglied der Gruppe assimilierter großbürgerlicher Juden ganz ungewöhnlich. In dieser Hinsicht erscheine er "in keiner Weise repräsentativ für die Juden seiner Zeit".
Eine genaue Analyse widmet Schölzel Tätigkeit und Leistungen Rathenaus an der Spitze der von seinem Vater gegründeten AEG sowie in der Führung der Berliner Handelsgesellschaft, aber er macht auch deutlich, was als zentraler Befund gelten darf: Sosehr Rathenau ein herausragender Wirtschaftsführer war, seine ganze Leidenschaft und sein Ehrgeiz gehörten der Politik. Allerdings blieb sein Streben nach einem hohen staatlichen Amt lange erfolglos. Vergeblich hoffte er 1906 auf die Berufung zum Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, 1908 zum Staatssekretär des Reichsschatzamts: 1911 scheiterte er beim Bemühen um eine Reichstagskandidatur der Nationalliberalen. Erst mit der Berufung zum Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im Kriegsministerium im August 1914 gelangte der fast Fünfzigjährige in eine maßgebliche staatliche Position. Aber beim Ausscheiden aus dieser Funktion im April 1915 registrierte er mit Verbitterung ein zu geringes Maß an Anerkennung für seine Leistung und die Tatsache, daß bei der Neubesetzung der Leitung des Reichsschatzamts nicht er, sondern Karl Helfferich ernannt wurde.
Im Oktober 1918 setzte sich Rathenau mit seinem Aufruf zu einer "Levée en masse" zwischen alle Stühle, so daß er im Winter 1918/19 politische Ausgrenzung und öffentliche Verunglimpfungen erfuhr. Er, der in seiner Schrift "Die neue Wirtschaft" für eine Wirtschaftsordnung zwischen Kapitalismus und Sozialismus geworben hatte, wurde nicht in die erste Sozialisierungskommission berufen. Und sein Versuch, mit dem "Demokratischen Volksbund" eine eigenständige politische Formation ins Leben zu rufen, scheiterte binnen weniger Tage. Eine aussichtsreiche Kandidatur bei der Nationalversammlungswahl für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, der er beigetreten war, kam nicht zustande, und als in der Nationalversammlung am 7. Februar ein Telegramm verlesen wurde, in dem einige Auslandsdeutsche Rathenau als Reichspräsidenten vorschlugen, verzeichnete das Protokoll als Reaktion des Hohen Hauses: "Große Heiterkeit".
Der Bann wurde erst gebrochen, als Joseph Wirth, zunächst Reichsfinanzminister, dann Reichskanzler, Rathenau ab 1920 in die politische Verantwortung zog, weil er dessen Kompetenz insbesondere in der Reparationsfrage hochschätzte. Im ersten Kabinett Wirth bekleidete Rathenau das Amt des Wiederaufbauministers, im zweiten Kabinett dann das des Außenministers. Insgesamt waren es nicht einmal zehn Monate, die er als Minister amtierte - und doch ist es dieses Kapitel seiner Existenz, durch das er für uns präsent geblieben ist. Unlöslich ist sein Name verknüpft mit dem Vertrag von Rapallo (16. April 1922), durch den das Deutsche Reich im Alleingang seine Beziehungen zur Sowjetunion normalisierte, was die westlichen Siegermächte als schweren Affront bewerteten. Vorgeschichte und Zustandekommen des Vertrags behandelt Schölzel auf breiter Quellengrundlage und unter Einbeziehung russischer Akten. In der vielumstrittenen Frage, ob in den Tagen der Konferenz von Genua Rathenau vom Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amts, Ago von Maltzan, unzureichend informiert oder gar düpiert wurde, hält sich Schölzel einigermaßen bedeckt, macht aber deutlich, daß Rathenau den Vertrag nicht wider Willen unterzeichnete.
Zwei Monate nach Vertragsabschluß fiel Rathenau dem Attentat der rechtsextremistischen "Organisation Consul" zum Opfer. Durch Martin Sabrows Forschungen, denen Schölzel mit Recht folgt, wissen wir, daß es sich um eine Verschwörung handelte, die auf die Destabilisierung der Weimarer Republik abzielte. Dieses Ziel wurde verfehlt, weil der Mord an Rathenau eine gewaltige Massenmobilisierung gegen rechts auslöste. Der im Februar 1919 Verlachte wurde jetzt von Millionen betrauert, der Reichstag verabschiedete das "Gesetz zum Schutz der Republik", Reichspräsident Ebert würdigte den Ermordeten, dem er die Unterzeichnung des Rapallo-Vertrags verübelt hatte, als Märtyrer der Republik und legte damit den Grundstein für eine bis heute nachwirkende Rathenau-Interpretation.
Walther Rathenau, ein Mensch voller Gegensätze, bleibt eine rätselhafte Persönlichkeit. Viele respektierten ihn, wenige mochten ihn, wie gesagt worden ist. Er war nicht nur ein Mann vieler Eigenschaften und Talente, sondern er ist auch ein "Mann vieler Biographien" (Martin Sabrow). Deshalb darf man die Prognose wagen, daß auf Schölzels gewichtiges Werk noch weitere Rathenau-Biographien folgen werden.
EBERHARD KOLB
Christian Schölzel: Walther Rathenau. Eine Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 652 S., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Walther Rathenaus Leben voller Gegensätze und Talente
Als "Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit" - so der Historiker Ernst Schulin - hat Walther Rathenau (1867 bis 1922) von jeher das Interesse der Biographen auf sich gezogen, und in den neunziger Jahren erfuhr die Beschäftigung mit dieser ebenso faszinierenden wie problematischen Persönlichkeit einen doppelten Schub. Zum einen boten der 125. Geburtstag und 75. Todestag reichlich Anlaß, seiner zu gedenken, was vor allem auch in einer opulenten Ausstellung des "Deutschen Historischen Museums" geschah. Zum anderen ist der verschollene und für immer verloren geglaubte Privatnachlaß Rathenaus wiederentdeckt worden. Der nach 1933 von der SS beschlagnahmte Nachlaß fiel 1945 der Roten Armee in die Hände und kam nach Moskau in ein geheimes Sonderarchiv, dessen Existenz erst nach der Auflösung der Sowjetunion bekannt wurde. Seit Anfang der neunziger Jahre wird dieser Nachlaß sukzessive für die Forschung zugänglich.
Die von Christian Schölzel vorgelegte umfängliche Rathenau-Biographie ist die erste, die sich auf die Materialien im Privatnachlaß stützen kann. Darüber hinaus ist der Autor aber auch in über achtzig weiteren Archiven fündig geworden. Er kennt genauestens alle Schriften Rathenaus sowie die fast uferlose Sekundärliteratur - eine erdrückende Materialfülle, bei der die Gefahr des Ertrinkens besteht. Wenn der Autor dieser Gefahr auch nicht immer gänzlich entronnen ist, so kommt seiner dicht belegten Untersuchung doch das Verdienst zu, daß alle wesentlichen Aspekte in Leben und Wirken Rathenaus in etwa gleichgewichtig behandelt werden: seine Tätigkeit als Industrieller und Bankier ebenso wie seine Leistungen bei der Sicherung der deutschen Rohstoffversorgung im Weltkrieg, sein soziales Umfeld und seine ständige Beschäftigung mit seiner jüdischen Identität ebenso wie seine ausgedehnte geschichts- und gesellschaftsphilosophische Publizistik mit zeitkritischer Stoßrichtung; schließlich sein politisches Engagement in der Republik als Wiederaufbau- und Außenminister. Zu all diesen Bereichen bietet Schölzel sachkundige und erschöpfende Informationen, wenngleich der spröde Stil die Lektüre nicht zu einem Spaziergang macht. Hinzu kommt, daß der Anmerkungsapparat stark überfrachtet ist. Er beträgt mit über 3200 Anmerkungen auf über zweihundert eng bedruckten Seiten etwa die Hälfte des Gesamttextes. Besonders ärgerlich dabei: In den Kapiteln II, III und IV stimmen die Anmerkungsziffern im Text nicht mit den Ziffern der entsprechenden Belege im Anmerkungsteil überein, so daß man mühsam den richtigen Beleg suchen muß - eine eklatante, vom Lektorat des Schöningh-Verlags mitzuverantwortende Panne! Doch ungeachtet solcher Mißlichkeiten ist dem Werk tiefgründige Gelehrsamkeit zu attestieren.
Ausführlich geht Schölzel auf Rathenaus beharrliche Suche nach einer Positionierung zwischen den Selbstbildern des "Juden" und des "Deutschen" ein. Seinem Jüdischsein entsprang Rathenaus tiefster Zwiespalt. Er fühlte sich als deutscher Jude, er litt an seinem Jüdischsein und hielt doch an seinem Judentum fest (während seine Schwester 1911 gegen den Willen des Vaters zum Christentum übertrat). Zwischen jüdischem Selbsthaß und jüdischer Selbstbehauptung schwankend, betrat er mit einem Paukenschlag die publizistische Bühne: Sein erster, zunächst anonym veröffentlichter Artikel "Höre Israel" (1897) war ein flammender Aufruf zur Assimilation. Unter Übernahme von Stereotypen des Rassenantisemitismus gab er seiner tiefen Verachtung der nach Deutschland einwandernden Ostjuden ("asiatische Horde") offen Ausdruck und plädierte für eine weitreichende Akkulturation der Juden als einen pragmatischen Ausweg aus dem Käfig des Antisemitismus. Wie Shulamit Volkov einmal anmerkte, war Rathenaus "nachdrückliche, fast an Besessenheit grenzende Beschäftigung mit seiner jüdischen Herkunft und Identität" für ein Mitglied der Gruppe assimilierter großbürgerlicher Juden ganz ungewöhnlich. In dieser Hinsicht erscheine er "in keiner Weise repräsentativ für die Juden seiner Zeit".
Eine genaue Analyse widmet Schölzel Tätigkeit und Leistungen Rathenaus an der Spitze der von seinem Vater gegründeten AEG sowie in der Führung der Berliner Handelsgesellschaft, aber er macht auch deutlich, was als zentraler Befund gelten darf: Sosehr Rathenau ein herausragender Wirtschaftsführer war, seine ganze Leidenschaft und sein Ehrgeiz gehörten der Politik. Allerdings blieb sein Streben nach einem hohen staatlichen Amt lange erfolglos. Vergeblich hoffte er 1906 auf die Berufung zum Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, 1908 zum Staatssekretär des Reichsschatzamts: 1911 scheiterte er beim Bemühen um eine Reichstagskandidatur der Nationalliberalen. Erst mit der Berufung zum Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im Kriegsministerium im August 1914 gelangte der fast Fünfzigjährige in eine maßgebliche staatliche Position. Aber beim Ausscheiden aus dieser Funktion im April 1915 registrierte er mit Verbitterung ein zu geringes Maß an Anerkennung für seine Leistung und die Tatsache, daß bei der Neubesetzung der Leitung des Reichsschatzamts nicht er, sondern Karl Helfferich ernannt wurde.
Im Oktober 1918 setzte sich Rathenau mit seinem Aufruf zu einer "Levée en masse" zwischen alle Stühle, so daß er im Winter 1918/19 politische Ausgrenzung und öffentliche Verunglimpfungen erfuhr. Er, der in seiner Schrift "Die neue Wirtschaft" für eine Wirtschaftsordnung zwischen Kapitalismus und Sozialismus geworben hatte, wurde nicht in die erste Sozialisierungskommission berufen. Und sein Versuch, mit dem "Demokratischen Volksbund" eine eigenständige politische Formation ins Leben zu rufen, scheiterte binnen weniger Tage. Eine aussichtsreiche Kandidatur bei der Nationalversammlungswahl für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, der er beigetreten war, kam nicht zustande, und als in der Nationalversammlung am 7. Februar ein Telegramm verlesen wurde, in dem einige Auslandsdeutsche Rathenau als Reichspräsidenten vorschlugen, verzeichnete das Protokoll als Reaktion des Hohen Hauses: "Große Heiterkeit".
Der Bann wurde erst gebrochen, als Joseph Wirth, zunächst Reichsfinanzminister, dann Reichskanzler, Rathenau ab 1920 in die politische Verantwortung zog, weil er dessen Kompetenz insbesondere in der Reparationsfrage hochschätzte. Im ersten Kabinett Wirth bekleidete Rathenau das Amt des Wiederaufbauministers, im zweiten Kabinett dann das des Außenministers. Insgesamt waren es nicht einmal zehn Monate, die er als Minister amtierte - und doch ist es dieses Kapitel seiner Existenz, durch das er für uns präsent geblieben ist. Unlöslich ist sein Name verknüpft mit dem Vertrag von Rapallo (16. April 1922), durch den das Deutsche Reich im Alleingang seine Beziehungen zur Sowjetunion normalisierte, was die westlichen Siegermächte als schweren Affront bewerteten. Vorgeschichte und Zustandekommen des Vertrags behandelt Schölzel auf breiter Quellengrundlage und unter Einbeziehung russischer Akten. In der vielumstrittenen Frage, ob in den Tagen der Konferenz von Genua Rathenau vom Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amts, Ago von Maltzan, unzureichend informiert oder gar düpiert wurde, hält sich Schölzel einigermaßen bedeckt, macht aber deutlich, daß Rathenau den Vertrag nicht wider Willen unterzeichnete.
Zwei Monate nach Vertragsabschluß fiel Rathenau dem Attentat der rechtsextremistischen "Organisation Consul" zum Opfer. Durch Martin Sabrows Forschungen, denen Schölzel mit Recht folgt, wissen wir, daß es sich um eine Verschwörung handelte, die auf die Destabilisierung der Weimarer Republik abzielte. Dieses Ziel wurde verfehlt, weil der Mord an Rathenau eine gewaltige Massenmobilisierung gegen rechts auslöste. Der im Februar 1919 Verlachte wurde jetzt von Millionen betrauert, der Reichstag verabschiedete das "Gesetz zum Schutz der Republik", Reichspräsident Ebert würdigte den Ermordeten, dem er die Unterzeichnung des Rapallo-Vertrags verübelt hatte, als Märtyrer der Republik und legte damit den Grundstein für eine bis heute nachwirkende Rathenau-Interpretation.
Walther Rathenau, ein Mensch voller Gegensätze, bleibt eine rätselhafte Persönlichkeit. Viele respektierten ihn, wenige mochten ihn, wie gesagt worden ist. Er war nicht nur ein Mann vieler Eigenschaften und Talente, sondern er ist auch ein "Mann vieler Biographien" (Martin Sabrow). Deshalb darf man die Prognose wagen, daß auf Schölzels gewichtiges Werk noch weitere Rathenau-Biographien folgen werden.
EBERHARD KOLB
Christian Schölzel: Walther Rathenau. Eine Biographie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 652 S., 49,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christian Schölzels umfangreiche Rathenau-Biografie hat Rezensent Eberhard Kolb durchaus beeindruckt, auch wenn er einige Kritikpunkte anzubringen weiß. Er hebt hervor, dass Schölzels Biografie die erste ist, die sich auf den in den 90er Jahren zugänglichen Materialien aus dem Rathenaus Privatnachlass stützen kann. Darüber hinaus sei der Autor in über achtzig weiteren Archiven fündig geworden. Zudem bescheinigt ihm Kolb, alle Schriften Rathenaus sowie die Sekundärliteratur genauestens zu kennen. Mit einem Wort: die Arbeit zeichnet sich für Kolb durch "tiefgründige Gelehrsamkeit" aus. Die angehäufte Materialfülle zieht seines Erachtens allerdings die Gefahr des "Ertrinkens" nach sich, der Schölzel nicht immer entronnen ist. Als Verdienst schreibt Kolb dem Werk zu, alle Aspekte in Leben und Wirken Rathenaus "sachkundig und erschöpfend" und in "etwa gleichgewichtig" zu behandeln: seine Tätigkeit als Industrieller und Bankier, seine Leistungen bei der Sicherung der deutschen Rohstoffversorgung im Weltkrieg, sein soziales Umfeld, seine Beschäftigung mit seiner jüdischen Identität, seine geschichts- und gesellschaftsphilosophische Publizistik und nicht zuletzt sein politisches Engagement in der Republik als Wiederaufbau- und Außenminister. Kritik übt Kolb am "spröden Stil" des Werks, der "die Lektüre nicht zu einem Spaziergang macht", sowie am Anmerkungsapparat, der seines Erachtens "stark überfrachtet" ist und zum Teil Fehler aufweist.
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