Wojciech Jagielski, einer der mutigsten Schüler Kapuscinskis, hat sich in den letzten Jahren immer wieder in den gefährlichsten Krisengebieten dieser Welt aufgehalten: Kaukasus, Afghanistan, Tschetschenien - und immer wieder Afrika. Seine Methode beim Beobachten und Schreiben ist so einfach wie schwierig: er lässt sich auf das Land, die unterschiedlichen Sichtweisen, auf die Konflikte innerhalb der Gesellschaft ohne Vorurteile ein; er porträtiert Menschen, die in die Spirale des Hasses und der Rache geraten und kaum eine Chance haben, da wieder herauszukommen. In seinem neuesten Buch schreibt Jagielski über Uganda, über Truppenführer, die Dörfer überfallen und Kinder rauben, über Eltern, die mit aller Kraft und Phantasie versuchen, ihre Kinder vor diesem Schicksal zu bewahren. Er schreibt aber auch über die politischen Hintergründe, die gesellschaftliche 'Normalität' und fragt, wieso aus ehemaligen 'Befreiern' immer wieder habgierige und brutale Despoten werden, wie Menschen in einem dreißigjährigen Bürgerkrieg überleben, und trotz allem die Hoffnung auf eine Zukunft nicht aufgeben. Er erweitert seine Reportage durch fiktive, erzählerische Elemente und erreicht damit eine eigene schriftstellerische Qualität. Besonders eindrucksvoll sind seine genauen und stilistisch sensiblen Porträts von Menschen, die Soldaten oder Partisanen waren, fliehen konnten und jetzt mit diesem Trauma leben müssen; von Kindern, die sich vor dem Militär oder den Guerilleros verstecken, nachts aus den Dörfern in die Städte ziehen (wo sie sicherer sind) um dann, am Morgen, wieder zurückzuschleichen - eben die 'Wanderer der Nacht'.an, der mit seiner Genauigkeit, seiner Vielfalt von Beobachtungen und seinem Einfallsreichtum jeden Leser berührt und bereichert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.07.2010Wo Erwachsene Angst vor Kindern haben
Wojciech Jagielski erzählt, wie der Psychopath Joseph Kony eine Horrorarmee in Uganda aufstellen konnte
Über viele Jahre hinweg gab es in der Stadt Gulu, im Norden Ugandas, ein weltweit einzigartiges Phänomen. Tagsüber sah der Ort so aus wie die meisten afrikanischen Provinznester, mit Busbahnhof, kleinen Supermärkten, Bars, Restaurants, ein paar Autos, vielen Fahrrädern und jeder Menge Menschen. Kaum aber ging die Sonne unter, wurde die Stadt von Kindern förmlich überschwemmt. Als ob unsichtbare Schleusen geöffnet würden, strömten zunächst nur wenige in die Stadt, doch schnell wurden es mehr. In gewaltigen Schüben kamen sie aus allen Richtungen, es waren Zehntausende. Die Jungen und Mädchen waren barfuß, verrotzt, in zerrissenen, verschmutzten Kleidern, die wenigsten hatten Decken dabei, die Jüngsten waren gerade mal drei Jahre alt.
Die Kinder legten sich in den Busbahnhof, in die Straßengräben, vor das Internetcafé, ins Krankenhaus, in die katholische Mission, vor die Kneipen, Supermärkte und Restaurants. Sie lagen Körper an Körper, Bündel an Bündel, starrten mit großen Augen in den Nachthimmel, keuchten, husteten, kicherten, stritten oder flüsterten. Erst gegen Mitternacht herrschte Ruhe, wenn auch die Großen in den Schlaf gefallen waren.
Im Morgengrauen standen die Kinder wieder auf - und zogen singend hinaus in ihre Heimatdörfer.
Hätte es diese Pendler-Kinder oder „Schlafwandler“, wie sie in Gulu genannt werden, nicht in einer so großen Zahl gegeben, wäre die Welt wohl nie auf eine Miliz aufmerksam geworden, die ebenfalls einzigartig ist. Sie nennt sich „Widerstandsarmee des Herrn“, möchte die Regierung von Yoweri Museveni stürzen und ein Regime der Zehn Gebote installieren. Ihr Anführer Joseph Kony rühmt sich seiner übernatürlichen Kräfte und hält sich für den Stellvertreter Gottes.
Zum Morden gezwungen
Das klingt wie ein schlechter Scherz, doch Konys Schlächter haben schon mehr als hunderttausend Menschen ermordet und mehr als eine Million aus ihrer Heimat vertrieben. Das Irrsinnigste aber ist, dass die Miliz fast ausnahmslos aus Kindern besteht. Aus Kindern, die von Konys Truppe entführt werden und die dann wiederum Dörfer überfallen müssen, Erwachsene, Alte und Babys töten und Jungen und Mädchen entführen. Wer sich weigert, wird umgebracht.
Die Kinder, die Kony noch nicht geschnappt hatte, flohen deshalb jeden Abend aus ihren Dörfern, um in Gulu einen sicheren Schlafplatz zu finden. Und die Bewohner akzeptierten das, weil es ihnen lieber war, den Dreck am nächsten Morgen vor ihren Läden und Häusern wegzuputzen, den die Kinder hinterließen, als das Risiko einzugehen, dass Kony noch mehr Jungen und Mädchen entführt.
Seit ein paar Jahren gibt es eigens eingerichtete Schlafplätze für die Kinder in Gulu, so dass sie nicht mehr über die ganze Stadt verteilt schlafen müssen. Trotzdem ist dieser Ort immer noch ungewöhnlich, das zeigt sich schon daran, dass die Erwachsenen die meisten Kinder misstrauisch beäugen. Eine Gesellschaft aber, die Angst vor dem eigenen Nachwuchs hat, kann keinen Frieden finden.
Der polnische Journalist Wojciech Jagielski hat die Zeit, in der die Kinder noch auf den Straßen lagen, nicht erlebt. Er kam später nach Gulu. Doch seine literarische Reportage „Wanderer der Nacht“ ist sicherlich das beste Werk, das man über Gulu, Kony und die jüngere Geschichte Ugandas lesen kann. Er beschreibt, warum der Norden seit 30 Jahren nicht zur Ruhe kommt, obwohl das restliche Uganda nach den Schreckensherrschaften von Milton Obote und Idi Amin durch Yoweri Museveni befriedet wurde und heute sicher zu den besseren Gegenden Afrikas gehört. Und er erklärt, warum ein offensichtlicher Psychopath wie Kony über Jahre hinweg solch eine Terrorherrschaft ausüben kann.
Der Kriegsverbrecher, der mit internationalem Haftbefehl aus Den Haag gesucht wird, hat natürlich mächtige Unterstützer, vor allem die Regierung des benachbarten Sudan, das ihn lange Zeit als nützliche Waffe gegen Uganda eingesetzt hat. Konys Macht aber baut sich auch darauf auf, dass es einen ausgeprägten Geisterglauben im Volk der Acholi gibt, die den Norden Ugandas bevölkern – und viele von ihnen sehen den Milizenführer als Medium, durch das sich die Geister der Toten mitteilen.
Die meisten Geister haben – nach Ansicht der Acholi – allen Grund, böse zu sein. Hunderttausende Menschen haben unter Obote, Amin und Kony ihr Leben verloren, es waren so viele, dass sie von den Überlebenden nicht mehr begraben werden konnten und ihre Geister deshalb bis heute nicht zur Ruhe kommen.
Die Angst vor Kony und den Geistern ist so groß, dass sich selbst ugandische Regierungssoldaten oft nicht trauen, die Miliz zu jagen. Bis vor einigen Jahren gab es nicht mal ein Foto des Massenmörders.
Wojciech Jagielski beschreibt sehr eindringlich, wie sehr die Menschen unter Kony leiden und in welchem Dilemma die Gesellschaft steckt. Sie muss über jedes Kind froh sein, das aus Konys Miliz fliehen kann und um das man sich in Rehabilitationszentren in Gulu kümmert. Aber die Menschen wissen nicht wirklich, wie sie mit diesen ehemaligen Milizionären umgehen sollen. Ein Geschäftsmann brachte es einst so auf den Punkt: „Sobald die Kleinen entführt werden, sind sie von einer Minute auf die andere gefährliche Rebellen, die bekämpft werden müssen. Wenn sie dann aber jahrelang gemordet, vergewaltigt und geplündert haben und plötzlich fliehen können, sind sie auf einmal wieder die armen Kinder, die entführt wurden. Diesen Wahnsinn versteht doch kein Mensch.“
In der deutschen Übersetzung von Lisa Palmes werden Volksgruppen von einigen Millionen Menschen nicht ganz zutreffend als „Stämme“ bezeichnet. Und Konys kindliche Killer sind „Partisanen“, aber dieser Begriff ist viel zu harmlos für das, was sie anrichten. Ehemalige Kindersoldaten schildern, wie sie gemeinsam Kinder tottreten oder erschlagen mussten, weil diese fliehen wollten oder weil sie Diebesgut in einen Fluss fallen ließen, wie sie Sexsklavinnen für die Milizenführer waren oder wie sie ihre eigenen Eltern töten mussten.
Konys übernatürliche Kräfte
Über viele Überfälle wurde in den ostafrikanischen Medien gar nicht mehr berichtet, weil es Vorfälle gab, die noch viel aufsehenerregender waren. So warfen Konys Milizionäre 45 Kinder aneinander gekettet in den Fluss Moroto, weil sie die Wassertiefe testen wollten. Alle ertranken. Entsetzen verursachte auch der Überfall auf ein Dorf, bei dem den Opfern Hände und Köpfe abgehackt und gekocht wurden. Dann zwangen die Rebellen die Überlebenden, von diesem Sud zu trinken und zu essen.
Konys Miliz hat deshalb auch nichts mit anderen Milizen gemeinsam. Sie erobert nichts, sie stürmt und belagert nichts, sie versucht nicht, Dörfer oder Landstriche unter ihre Kontrolle zu bringen oder gar die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Sie zeichnet sich allein durch eine alles übersteigende Gewalt aus. Und das ist ihre stärkste Waffe: Die Menschen haben Todesangst vor ihr.
Zwar schildert Jagielski viele Grausamkeiten, trotzdem hat er ein ruhiges, zurückhaltendes Buch geschrieben. Der Pole ist ein Suchender, einer, der wirklich herausfinden will, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte. Besonders eindringlich wird es an den Stellen, wo er über seinen Beruf nachdenkt, an ihm zweifelt, weil er weiß, dass er von den Einheimischen nicht allzu viel erfahren kann. In einer für einen Europäer fremden Welt, mit einem befremdlichen Geisterglauben, tut er sich schwer, die Dinge richtig zu verstehen, und das legt er immer wieder offen. So ist es nur konsequent, dass er sich nicht an die strengen Regeln des Journalismus hält und eine literarische Reportage geschrieben hat, in der sich die drei Hauptpersonen jeweils aus mehreren realen Personen zusammensetzen. Trotzdem schildert sein Buch die Realität in Norduganda viel genauer als die meisten journalistischen Texte.
Die Menschen in Gulu sind Joseph Kony und seine Kindermiliz übrigens seit einiger Zeit losgeworden. Die Widerstandsarmee des Herrn wütet jetzt im Nordosten des Kongo und in der Zentralafrikanischen Republik. Alle Versuche, Kony zu fangen, sind bis heute fehlgeschlagen. Auch das verstärkt bei den Menschen den Eindruck, dass er übernatürliche Kräfte besitze. MICHAEL BITALA
WOJCIECH JAGIELSKI: Wanderer der Nacht. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Transit Buchverlag, Berlin 2010. 260 Seiten, 18,80 Euro.
Wenig Grauenhaftes gibt es, zu dem ugandische Kinder nicht gezwungen wurden. Manche mussten die eigenen Eltern töten, andere die eigenen Kameraden zu Tode foltern. Der polnische Journalist Wojciech Jagielski schildert die Zustände in Norduganda und wie früheres Morden im Verein mit dem herrschenden Geisterglauben die heutigen Grausamkeiten möglich machte. Nach Meinung unseres Rezensenten ist es das beste Buch, das über die jüngere Geschichte Ugandas erschienen ist.
Die Ende Juni verstorbene Kirsten Heisig hatte es mit auf andere Weise verlorenen Kindern zu tun: Als Jugendrichterin in Berlin war sie mit vielen brutalen Taten konfrontiert. Wurde sie zu Recht „Richterin Gnadenlos“ genannt? Sie forderte die „konsequente“ Anwendung bestehender Gesetze. Dass ein neues Schulfach zur Eindämmung von Gemeinheit und Gewalt beitragen könne, glaubt der Psychotherapeut Dietmar Hansch. augf
Zeichnung: Hurzlmeier
Geist, Geister, Gewalt
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Wojciech Jagielski erzählt, wie der Psychopath Joseph Kony eine Horrorarmee in Uganda aufstellen konnte
Über viele Jahre hinweg gab es in der Stadt Gulu, im Norden Ugandas, ein weltweit einzigartiges Phänomen. Tagsüber sah der Ort so aus wie die meisten afrikanischen Provinznester, mit Busbahnhof, kleinen Supermärkten, Bars, Restaurants, ein paar Autos, vielen Fahrrädern und jeder Menge Menschen. Kaum aber ging die Sonne unter, wurde die Stadt von Kindern förmlich überschwemmt. Als ob unsichtbare Schleusen geöffnet würden, strömten zunächst nur wenige in die Stadt, doch schnell wurden es mehr. In gewaltigen Schüben kamen sie aus allen Richtungen, es waren Zehntausende. Die Jungen und Mädchen waren barfuß, verrotzt, in zerrissenen, verschmutzten Kleidern, die wenigsten hatten Decken dabei, die Jüngsten waren gerade mal drei Jahre alt.
Die Kinder legten sich in den Busbahnhof, in die Straßengräben, vor das Internetcafé, ins Krankenhaus, in die katholische Mission, vor die Kneipen, Supermärkte und Restaurants. Sie lagen Körper an Körper, Bündel an Bündel, starrten mit großen Augen in den Nachthimmel, keuchten, husteten, kicherten, stritten oder flüsterten. Erst gegen Mitternacht herrschte Ruhe, wenn auch die Großen in den Schlaf gefallen waren.
Im Morgengrauen standen die Kinder wieder auf - und zogen singend hinaus in ihre Heimatdörfer.
Hätte es diese Pendler-Kinder oder „Schlafwandler“, wie sie in Gulu genannt werden, nicht in einer so großen Zahl gegeben, wäre die Welt wohl nie auf eine Miliz aufmerksam geworden, die ebenfalls einzigartig ist. Sie nennt sich „Widerstandsarmee des Herrn“, möchte die Regierung von Yoweri Museveni stürzen und ein Regime der Zehn Gebote installieren. Ihr Anführer Joseph Kony rühmt sich seiner übernatürlichen Kräfte und hält sich für den Stellvertreter Gottes.
Zum Morden gezwungen
Das klingt wie ein schlechter Scherz, doch Konys Schlächter haben schon mehr als hunderttausend Menschen ermordet und mehr als eine Million aus ihrer Heimat vertrieben. Das Irrsinnigste aber ist, dass die Miliz fast ausnahmslos aus Kindern besteht. Aus Kindern, die von Konys Truppe entführt werden und die dann wiederum Dörfer überfallen müssen, Erwachsene, Alte und Babys töten und Jungen und Mädchen entführen. Wer sich weigert, wird umgebracht.
Die Kinder, die Kony noch nicht geschnappt hatte, flohen deshalb jeden Abend aus ihren Dörfern, um in Gulu einen sicheren Schlafplatz zu finden. Und die Bewohner akzeptierten das, weil es ihnen lieber war, den Dreck am nächsten Morgen vor ihren Läden und Häusern wegzuputzen, den die Kinder hinterließen, als das Risiko einzugehen, dass Kony noch mehr Jungen und Mädchen entführt.
Seit ein paar Jahren gibt es eigens eingerichtete Schlafplätze für die Kinder in Gulu, so dass sie nicht mehr über die ganze Stadt verteilt schlafen müssen. Trotzdem ist dieser Ort immer noch ungewöhnlich, das zeigt sich schon daran, dass die Erwachsenen die meisten Kinder misstrauisch beäugen. Eine Gesellschaft aber, die Angst vor dem eigenen Nachwuchs hat, kann keinen Frieden finden.
Der polnische Journalist Wojciech Jagielski hat die Zeit, in der die Kinder noch auf den Straßen lagen, nicht erlebt. Er kam später nach Gulu. Doch seine literarische Reportage „Wanderer der Nacht“ ist sicherlich das beste Werk, das man über Gulu, Kony und die jüngere Geschichte Ugandas lesen kann. Er beschreibt, warum der Norden seit 30 Jahren nicht zur Ruhe kommt, obwohl das restliche Uganda nach den Schreckensherrschaften von Milton Obote und Idi Amin durch Yoweri Museveni befriedet wurde und heute sicher zu den besseren Gegenden Afrikas gehört. Und er erklärt, warum ein offensichtlicher Psychopath wie Kony über Jahre hinweg solch eine Terrorherrschaft ausüben kann.
Der Kriegsverbrecher, der mit internationalem Haftbefehl aus Den Haag gesucht wird, hat natürlich mächtige Unterstützer, vor allem die Regierung des benachbarten Sudan, das ihn lange Zeit als nützliche Waffe gegen Uganda eingesetzt hat. Konys Macht aber baut sich auch darauf auf, dass es einen ausgeprägten Geisterglauben im Volk der Acholi gibt, die den Norden Ugandas bevölkern – und viele von ihnen sehen den Milizenführer als Medium, durch das sich die Geister der Toten mitteilen.
Die meisten Geister haben – nach Ansicht der Acholi – allen Grund, böse zu sein. Hunderttausende Menschen haben unter Obote, Amin und Kony ihr Leben verloren, es waren so viele, dass sie von den Überlebenden nicht mehr begraben werden konnten und ihre Geister deshalb bis heute nicht zur Ruhe kommen.
Die Angst vor Kony und den Geistern ist so groß, dass sich selbst ugandische Regierungssoldaten oft nicht trauen, die Miliz zu jagen. Bis vor einigen Jahren gab es nicht mal ein Foto des Massenmörders.
Wojciech Jagielski beschreibt sehr eindringlich, wie sehr die Menschen unter Kony leiden und in welchem Dilemma die Gesellschaft steckt. Sie muss über jedes Kind froh sein, das aus Konys Miliz fliehen kann und um das man sich in Rehabilitationszentren in Gulu kümmert. Aber die Menschen wissen nicht wirklich, wie sie mit diesen ehemaligen Milizionären umgehen sollen. Ein Geschäftsmann brachte es einst so auf den Punkt: „Sobald die Kleinen entführt werden, sind sie von einer Minute auf die andere gefährliche Rebellen, die bekämpft werden müssen. Wenn sie dann aber jahrelang gemordet, vergewaltigt und geplündert haben und plötzlich fliehen können, sind sie auf einmal wieder die armen Kinder, die entführt wurden. Diesen Wahnsinn versteht doch kein Mensch.“
In der deutschen Übersetzung von Lisa Palmes werden Volksgruppen von einigen Millionen Menschen nicht ganz zutreffend als „Stämme“ bezeichnet. Und Konys kindliche Killer sind „Partisanen“, aber dieser Begriff ist viel zu harmlos für das, was sie anrichten. Ehemalige Kindersoldaten schildern, wie sie gemeinsam Kinder tottreten oder erschlagen mussten, weil diese fliehen wollten oder weil sie Diebesgut in einen Fluss fallen ließen, wie sie Sexsklavinnen für die Milizenführer waren oder wie sie ihre eigenen Eltern töten mussten.
Konys übernatürliche Kräfte
Über viele Überfälle wurde in den ostafrikanischen Medien gar nicht mehr berichtet, weil es Vorfälle gab, die noch viel aufsehenerregender waren. So warfen Konys Milizionäre 45 Kinder aneinander gekettet in den Fluss Moroto, weil sie die Wassertiefe testen wollten. Alle ertranken. Entsetzen verursachte auch der Überfall auf ein Dorf, bei dem den Opfern Hände und Köpfe abgehackt und gekocht wurden. Dann zwangen die Rebellen die Überlebenden, von diesem Sud zu trinken und zu essen.
Konys Miliz hat deshalb auch nichts mit anderen Milizen gemeinsam. Sie erobert nichts, sie stürmt und belagert nichts, sie versucht nicht, Dörfer oder Landstriche unter ihre Kontrolle zu bringen oder gar die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Sie zeichnet sich allein durch eine alles übersteigende Gewalt aus. Und das ist ihre stärkste Waffe: Die Menschen haben Todesangst vor ihr.
Zwar schildert Jagielski viele Grausamkeiten, trotzdem hat er ein ruhiges, zurückhaltendes Buch geschrieben. Der Pole ist ein Suchender, einer, der wirklich herausfinden will, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte. Besonders eindringlich wird es an den Stellen, wo er über seinen Beruf nachdenkt, an ihm zweifelt, weil er weiß, dass er von den Einheimischen nicht allzu viel erfahren kann. In einer für einen Europäer fremden Welt, mit einem befremdlichen Geisterglauben, tut er sich schwer, die Dinge richtig zu verstehen, und das legt er immer wieder offen. So ist es nur konsequent, dass er sich nicht an die strengen Regeln des Journalismus hält und eine literarische Reportage geschrieben hat, in der sich die drei Hauptpersonen jeweils aus mehreren realen Personen zusammensetzen. Trotzdem schildert sein Buch die Realität in Norduganda viel genauer als die meisten journalistischen Texte.
Die Menschen in Gulu sind Joseph Kony und seine Kindermiliz übrigens seit einiger Zeit losgeworden. Die Widerstandsarmee des Herrn wütet jetzt im Nordosten des Kongo und in der Zentralafrikanischen Republik. Alle Versuche, Kony zu fangen, sind bis heute fehlgeschlagen. Auch das verstärkt bei den Menschen den Eindruck, dass er übernatürliche Kräfte besitze. MICHAEL BITALA
WOJCIECH JAGIELSKI: Wanderer der Nacht. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Transit Buchverlag, Berlin 2010. 260 Seiten, 18,80 Euro.
Wenig Grauenhaftes gibt es, zu dem ugandische Kinder nicht gezwungen wurden. Manche mussten die eigenen Eltern töten, andere die eigenen Kameraden zu Tode foltern. Der polnische Journalist Wojciech Jagielski schildert die Zustände in Norduganda und wie früheres Morden im Verein mit dem herrschenden Geisterglauben die heutigen Grausamkeiten möglich machte. Nach Meinung unseres Rezensenten ist es das beste Buch, das über die jüngere Geschichte Ugandas erschienen ist.
Die Ende Juni verstorbene Kirsten Heisig hatte es mit auf andere Weise verlorenen Kindern zu tun: Als Jugendrichterin in Berlin war sie mit vielen brutalen Taten konfrontiert. Wurde sie zu Recht „Richterin Gnadenlos“ genannt? Sie forderte die „konsequente“ Anwendung bestehender Gesetze. Dass ein neues Schulfach zur Eindämmung von Gemeinheit und Gewalt beitragen könne, glaubt der Psychotherapeut Dietmar Hansch. augf
Zeichnung: Hurzlmeier
Geist, Geister, Gewalt
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Michael Bitala hält diese Reportage des polnischen Journalisten Wojciecj Jagielski schlicht für das Beste, was man derzeit über die Horrorarmee des ugandischen Psychopathen Joseph Kony lesen kann. Kony befehligt im Norden die Lord's Resistance Army, für die er Zehntausende von Kindern gekidnappt hat, die er bereits seit Jahrzehnten plündern, brandschatzen, vergewaltigen und morden lässt, lange im Norden Ugandas, mittlerweile auch im Kongo.Was dem Rezensenten besonders gut gefällt, ist, dass Jagielski es nie bei der Schilderung bestialischer Gräueltaten belässt, sondern Erklärungen für sie zu finden versucht. So beschreibt er etwa, wie Sudans Regierung Kony unterstützt, um seine Nachbarn zu schwächen und wie die Acholi, die den Norden Ugandas bewohnen, durch ihren animistischen Glauben in Todesangst vor Kony erstarren. Bitala weist darauf hin, dass Jagielski seine Reportage mit gutem Grund "literarisch" - im Sinne von fiktional - nennt, denn er hat Fakten verändert und etwa verschiedenen Personen zusammengefasst. Das geht für den Rezensenten noch in Ordnung, woran er sich allerdings stört, ist die Bezeichnung Stämme für zum Teil Millionen Menschen umfassende Volksgruppen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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'Sein Werk ist die konsequente Fortsetzung und exzellente Bereicherung all dessen, was in der polnischen und europäischen Reportage Rang und Namen hat.' Ryszard Kapuscinski