"Auslöser für dieses Buch war der Spielberg-Film "Der Soldat James Ryan", in dem sich ein alter Mann noch einmal furchtbaren Kriegserinnerungen aussetzt. Plötzlich sah ich mich selbst als 18-, 19-jähriger Soldat in ähnlich bedrückenden Szenen an der Russland-Front. Was ist es, das mich beim Zurückblicken immer noch zutiefst beunruhigt? Unzufrieden mit dem, was ich schon einmal vor 15 Jahren biografisch notiert hatte, habe ich erneut zurückgedacht, diesmal aber in laufender Vermischung von Vergangenheit und Aktualität - so wie es in meinem Alltag als Therapeut, Leiter eines Forschungsinstituts und zeitkritischer Publizist zuging. Aktuelle Themen wie die Walser-Bubis-Debatte verknüpfen sowieso einst und jetzt. Auch die deutschen Bomben auf Jugoslawien, wo Hitler schon gebombt hatte, stellen diesen Zusammenhang dar." Richter spricht über sein schrittweises Bewusstwerden in der Bestialität des Krieges, als Gefangener der Franzosen, als Rückkehrer in eine materiell und moralisch ge schlagene Gesellschaft. Er spricht über seinen beruflichen Werdegang und sein vielfältiges soziales und politisches Engagement als "als ewig umstrittener Aufklärer". Dieses brachte ihn auch in nähere Berührung mit Willy Brandt, Helmut Schmidt, Oskar Lafontaine und Michail Gorbatschow - vier Politiker, deren persönliche Strukturen er in ihren Visionen, ihrem Führungsverhalten, ihren Erfolgen wie Niederlagen eingehend studieren konnte. Entscheidend war und ist für ihn stets die Verteidigung eines humanistischen Weltbilds. "Aber keine Angst", schreibt Richter, "im Vordergrund steht die sehr persönliche Erzählung einer schlichten, manchmal mühseligen, überwiegend jedoch zuversichtlichen Wanderung eines Engagierten zwischen gesellschaftlichen Fronten."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2000Überlebensschuld
Horst-Eberhard Richter
mit seiner zweiten Autobiografie
Zwischen Kühnheit und Anmut, Narzissmus und Solidarität bewegt sich hier einer, der mit Sechzig seine erste („Die Chance des Gewissens”) und nun mit 76 seine zweite Autobiografie schrieb: Horst-Eberhard Richter gibt Einblick in seine politische und forschende Unermüdlichkeit, leitet sie erneut von seinen Erlebnissen in Krieg und Gefangenschaft wie von seinem Elternhaus ab. Und seine Analysen, die seiner selbst und die seiner zahlreichen Feinde und Freunde, von Institutionen und Politikern, Zeitläufen und individuellen Seelenvorgängen, sind spannend. Richter ist, nach Alexander Mitscherlich, der Psychoanalytiker, der sich in den letzten Jahrzehnten am meisten in öffentlich Dinge eingemischt hat. Dass er weniger polemisch war als Mitscherlich, hat ihm oft privilegierten Zugang geschaffen zu den Mächtigen, über die er gelegentlich schreibt bis an die Grenzen der Indiskretion. Dass er mit Willy Brandt bis nah an die Freundschaft vertraut war, wussten wir; aber er schildert die Begegnungen mit Herzblut neu, ebenso wie seinen Zorn über den erzwungenen Rücktritt.
Nicht alle Hoffnungen auf eine wirkungsvolle beratende Begleitung von Politikern mögen sich erfüllt haben, aber dass er Einfluss hatte, ist unverkennbar, zumal ihm auch die großen Publikationsorgane immer wieder ihre Spalten geöffnet haben. Er hat sich mit vielen angelegt und hat in vielen Gremien manches bewegt, vieles initiiert. Er ist einer der Pioniere der Familientherapie und leidet doch darunter, dass sie noch immer nicht Kassenleistung geworden ist; Pionier der zweiten Generation auch in der Psychosomatik, für die er eine glanzvollere Rolle in der Medizin erhofft hat. Seiner eigenen Zunft, den Psychoanalytikern, hat er schwere Vorwürfe gemacht: des Dogmatismus, der gesellschaftsabgewandten Introspektion.
Trotz des manchmal auch bei ihm durchbrechenden polemischen Temperaments – Friedlichkeit wäre ihm lieber, aber die Verhältnisse sind nicht so – ist er gelegentlich abschätzig als „Gutmensch” bezeichnet worden, und für kalte oder gar zynische Macher liegt das hart auf der Schwelle zur Lächerlichkeit. Aber das Moralisierende, das frühere Bücher hie und da durchdrungen hat, ist einer kämpferischen, manchmal auch resignierten Weisheit gewichen. Im neuen Buch kann man ihn begleiten, ohne erzogen zu werden. Und man versteht die Quellen besser, aus denen sein lebenslanger Mut erwuchs, schulübergreifend zu leben, zu denken und zu wirken.
Unerbittlich ist nur sein Pazifismus, der ihn schließlich noch zum Kritiker auch der Grünen werden lässt, weil sie ihre Zustimmung zum Krieg in Jugoslawien gaben. Seither hält er Joschka Fischer für einen machtbesessenen Opportunisten. In einer ergreifenden Auseinandersetzung mit Spielbergs Film „Der Soldat James Ryan” reflektiert er seine eigenen Kriegserlebnisse in der auf Stalingrad vorrückenden 6. Armee, vor deren Untergang ihn eine Krankheit, die er eine „Rettung als Gnade” nennt, bewahrt hat. Ryan „hatte auf der gerechten Seite gekämpft, ich hingegen auf der Seite der Schuldigen”. Überlebensschuld den toten Kameraden gegenüber wird ein Motiv der Bewährung, ebenso wie die spät entzifferten unbewussten Aufträge seiner 1945 von Russen ermordeten Eltern an den einzigen Sohn.
Fesselnd auch die Auseinandersetzung mit der Ausstellung „Die Verbrechen der Wehrmacht”, die er in Bonn mit einem Vortrag eröffnet hat, und sein Versuch, sich in die gebrochen heimkehrenden Soldaten hineinzuversetzen. Horst Eberhard Richter nimmt man es ab, wenn er sagt, man möge nicht „fast alle” Soldaten des deutschen Heeres unter Daueranklage halten. Er vermag es, sein Entsetzen über die Verbrechen mancher Bataillone zu verklammern mit dem Elend der Gehorsamserziehung – die sich lieber bis zur Unmenschlichkeit unterwirft als aufzumucken. Aber er geniert sich nicht, analoge Phänomene der Indoktrination auch in vielen sozialen Institutionen zu dechiffrieren.
Richter beschließt sein Buch mit der nachdenklichen Selbstcharakteristik: „Ich hatte meine Chancen zu aktiver Einmischung während der Aufbruchsstimmung unter Willy Brandt und Michail Gorbatschow, jeweils abgelöst von Perioden, in denen ich bestenfalls als blauäugiger Träumer, wenn nicht als lästiger Störenfried mit meinen sozialkritischen und pazifistischen Engagements dastand und dastehe. ” Der Rezensent gibt zu, ohne ihm besonders nahe zu stehen, dass er ihn bewundert und liebt, auch wenn er im an Bismarck erinnernden Untertitel seines Buches etwa zu hoch greift.
TILMANN MOSER
HORST-EBERHARD RICHTER: Wanderer zwischen den Fronten. Gedanken und Erinnerungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 350 S. , 42 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Horst-Eberhard Richter
mit seiner zweiten Autobiografie
Zwischen Kühnheit und Anmut, Narzissmus und Solidarität bewegt sich hier einer, der mit Sechzig seine erste („Die Chance des Gewissens”) und nun mit 76 seine zweite Autobiografie schrieb: Horst-Eberhard Richter gibt Einblick in seine politische und forschende Unermüdlichkeit, leitet sie erneut von seinen Erlebnissen in Krieg und Gefangenschaft wie von seinem Elternhaus ab. Und seine Analysen, die seiner selbst und die seiner zahlreichen Feinde und Freunde, von Institutionen und Politikern, Zeitläufen und individuellen Seelenvorgängen, sind spannend. Richter ist, nach Alexander Mitscherlich, der Psychoanalytiker, der sich in den letzten Jahrzehnten am meisten in öffentlich Dinge eingemischt hat. Dass er weniger polemisch war als Mitscherlich, hat ihm oft privilegierten Zugang geschaffen zu den Mächtigen, über die er gelegentlich schreibt bis an die Grenzen der Indiskretion. Dass er mit Willy Brandt bis nah an die Freundschaft vertraut war, wussten wir; aber er schildert die Begegnungen mit Herzblut neu, ebenso wie seinen Zorn über den erzwungenen Rücktritt.
Nicht alle Hoffnungen auf eine wirkungsvolle beratende Begleitung von Politikern mögen sich erfüllt haben, aber dass er Einfluss hatte, ist unverkennbar, zumal ihm auch die großen Publikationsorgane immer wieder ihre Spalten geöffnet haben. Er hat sich mit vielen angelegt und hat in vielen Gremien manches bewegt, vieles initiiert. Er ist einer der Pioniere der Familientherapie und leidet doch darunter, dass sie noch immer nicht Kassenleistung geworden ist; Pionier der zweiten Generation auch in der Psychosomatik, für die er eine glanzvollere Rolle in der Medizin erhofft hat. Seiner eigenen Zunft, den Psychoanalytikern, hat er schwere Vorwürfe gemacht: des Dogmatismus, der gesellschaftsabgewandten Introspektion.
Trotz des manchmal auch bei ihm durchbrechenden polemischen Temperaments – Friedlichkeit wäre ihm lieber, aber die Verhältnisse sind nicht so – ist er gelegentlich abschätzig als „Gutmensch” bezeichnet worden, und für kalte oder gar zynische Macher liegt das hart auf der Schwelle zur Lächerlichkeit. Aber das Moralisierende, das frühere Bücher hie und da durchdrungen hat, ist einer kämpferischen, manchmal auch resignierten Weisheit gewichen. Im neuen Buch kann man ihn begleiten, ohne erzogen zu werden. Und man versteht die Quellen besser, aus denen sein lebenslanger Mut erwuchs, schulübergreifend zu leben, zu denken und zu wirken.
Unerbittlich ist nur sein Pazifismus, der ihn schließlich noch zum Kritiker auch der Grünen werden lässt, weil sie ihre Zustimmung zum Krieg in Jugoslawien gaben. Seither hält er Joschka Fischer für einen machtbesessenen Opportunisten. In einer ergreifenden Auseinandersetzung mit Spielbergs Film „Der Soldat James Ryan” reflektiert er seine eigenen Kriegserlebnisse in der auf Stalingrad vorrückenden 6. Armee, vor deren Untergang ihn eine Krankheit, die er eine „Rettung als Gnade” nennt, bewahrt hat. Ryan „hatte auf der gerechten Seite gekämpft, ich hingegen auf der Seite der Schuldigen”. Überlebensschuld den toten Kameraden gegenüber wird ein Motiv der Bewährung, ebenso wie die spät entzifferten unbewussten Aufträge seiner 1945 von Russen ermordeten Eltern an den einzigen Sohn.
Fesselnd auch die Auseinandersetzung mit der Ausstellung „Die Verbrechen der Wehrmacht”, die er in Bonn mit einem Vortrag eröffnet hat, und sein Versuch, sich in die gebrochen heimkehrenden Soldaten hineinzuversetzen. Horst Eberhard Richter nimmt man es ab, wenn er sagt, man möge nicht „fast alle” Soldaten des deutschen Heeres unter Daueranklage halten. Er vermag es, sein Entsetzen über die Verbrechen mancher Bataillone zu verklammern mit dem Elend der Gehorsamserziehung – die sich lieber bis zur Unmenschlichkeit unterwirft als aufzumucken. Aber er geniert sich nicht, analoge Phänomene der Indoktrination auch in vielen sozialen Institutionen zu dechiffrieren.
Richter beschließt sein Buch mit der nachdenklichen Selbstcharakteristik: „Ich hatte meine Chancen zu aktiver Einmischung während der Aufbruchsstimmung unter Willy Brandt und Michail Gorbatschow, jeweils abgelöst von Perioden, in denen ich bestenfalls als blauäugiger Träumer, wenn nicht als lästiger Störenfried mit meinen sozialkritischen und pazifistischen Engagements dastand und dastehe. ” Der Rezensent gibt zu, ohne ihm besonders nahe zu stehen, dass er ihn bewundert und liebt, auch wenn er im an Bismarck erinnernden Untertitel seines Buches etwa zu hoch greift.
TILMANN MOSER
HORST-EBERHARD RICHTER: Wanderer zwischen den Fronten. Gedanken und Erinnerungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 350 S. , 42 Mark.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Gunter Hofmann sieht in Richters Biographie die konsequente Fortführung von dessen Lebensmaximen und ist sehr angetan vom Charme dieses Buches. Als besonders glückliche Fügung beschreibt er die Struktur der Erinnerungen, die in "Mosaiksteinen" und einem kaleidoskopartigen Blick nicht nur die Person, sondern auch die Zeit einfingen. Der soziologische Psychoanalytiker sei geradezu ein "Anti-Walser" mit seinem Bedürfnis, genau hinzuschauen und seiner Weigerung, es "Moralwächtern" anzulasten, wenn die Vergangenheit nach wie vor quälend präsent sei. Dass er trotz seiner klarsichtigen Analyse der katastrophalen Menschheitsentwicklung Optimist bleibe, sei allerdings ein Rätsel, das auch Richters Memoiren nicht auflösen könnten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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